47

Das Tor zum Aussiedlerhof stand halb offen. Eine Lerche flatterte auf, schraubte sich in den Himmel und schwebte in elegantem Schwung davon. Es war, als ob mit ihr der letzte Rest Leben aus diesem stillen Dorf floh.

Gehring zog die Waffe und atmete tief durch. Er wusste, dass er keine Zeit mehr zu verlieren hatte, denn Beara war diesen Weg vor ihm gegangen. Er erinnerte sich an ihr Gesicht: oval, große, dunkle Augen, die schmalen Brauen spöttisch hochgezogen. Immer perfekt, immer wie auf Hochglanz poliert. Ein kleiner Mund, der selten lächelte. Ihr Übereifer, ihre rotzige Art, wenn sie wusste, dass keiner außer ihm zuhören konnte. Ihr Witz, der manchmal aufblitzte und den er jedes Mal so arrogant mit dem Hinweis auf Dienstgrade abgewürgt hatte. Ihre maßlose Enttäuschung, als er ihr nicht glaubte. Das Herz zog sich ihm zusammen. Wenn ihr etwas passiert war …

Und so war sie allein bis ans Ende der Welt gelangt, nach Wendisch Bruch. Er hatte nicht auf sie gehört, er hatte sie im Stich gelassen. Und jetzt, wo es fast zu spät war, glaubte er ihr. Glaubte so fest wie sie an ihren Verdacht, der sich nach und nach zur Gewissheit einer Tat verdichtet hatte, deren Größenwahn ihresgleichen suchte. Genau wie das Motiv. Eine Frau war zu Freiwild geworden, und jemand hatte sie gerächt. Einen Mann nach dem anderen hatte dieser Jemand umgebracht, sogar den letzten, Leyendecker, den Nachzügler. Den Vertreter, der auf Durchreise gewesen war und sich die billige Gelegenheit nicht hatte entgehen lassen. Hatte er die Frau damals gemeinsam mit seinem Kollegen Göhler vergewaltigt? Göhler, der Jahre später durch Gülle ums Leben kam? Margot Rubins stiller Rächer war eindeutig in der Wahl seiner Mittel. Er tötete nach Bauernart.

Nein, dachte Gehring. Damit tue ich den Bauern Unrecht. Er tötet auf eine Art, die etwas mit dem Verbrechen an Margot Rubin zu tun hat. Tiere. Sie müssen wie Tiere gewesen sein … Er atmete schneller, entsicherte die Waffe. Und Beara ist dahintergekommen. Deshalb wurde sie … er zwang sich, nicht weiterzudenken. Er musste kühl bleiben. Kühl und vernünftig. Vernünftig wäre abzuwarten und auf die verfluchte Verstärkung zu setzen. Doch Vernunft würde Beara nicht helfen. Er musste sie suchen. Alles andere würde er sich nie verzeihen.

Vorsichtig stieß er das Tor auf und richtete die Waffe in den leeren Hof. Wie erwartet, ließ sich niemand blicken. Es war ein gottverlassener Ort, der, wenn man ihn weiterhin sich selbst überließ, irgendwann im Erdboden versinken würde. Rissige Betonplatten, durch die sich Unkraut seinen Weg ans Licht bahnte, halb zerfallene Unterstände und Stallgebäude, ein Wohnhaus, so leer und trostlos, dass der Gedanke, es betreten zu müssen, bei jedem Unbehagen auslösen würde.

Gehring blieb im Schatten. Er hielt sich rechts, eng an der bröckelnden Mauer, erreichte den Unterstand und wartete einen Moment ab, ob sein Kommen bemerkt worden war. Alles, was er hörte, war sein eigener, keuchender Atem. Er zwang sich dazu, ruhiger und vor allem leiser zu sein, und schlich sich näher an das Wohnhaus heran. Als er die fensterlose Wand erreicht hatte, hielt er kurz inne und bog dann um die Ecke. In drei Schritten erreichte er den Eingang und hielt sich in Deckung. Wieder wartete er. Die Stille lastete wie Blei über dem Gelände. Von weit her hörte er ein Donnergrollen. Ein flüchtiger Blick in den fahlen Himmel bestätigte ihm, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis der Wetterumschwung kam. Der Schweiß ließ sein Hemd am Rücken kleben, und er ahnte, dass nicht nur die Schwüle die Ursache dafür war.

Er streckte die linke Hand aus, berührte die billige Klinke aus Aluminiumdruckguss, drückte sie hinunter und lauschte. Die Rechte hielt die Waffe. Mit angehaltenem Atem zählte er die Sekunden herunter. Drei, zwei, eins – los. Er stieß die Tür auf und zielte in den Flur. Links, rechts, sichern. Ein Schritt, zwei Schritte. Sollte er rufen? Warnen? Auf sich aufmerksam machen? Sein Herz schlug beinahe schmerzhaft gegen seine Rippen. Er sah, dass eine Tür geöffnet war, und ging, die Waffe im Anschlag, auf sie zu.

Eine Küche. Ein Tisch, zwei uralte, verbogene Alustühle mit Holzrücken. Eine Pfanne auf dem Herd. Benutztes Geschirr in der Spüle. In der Luft noch ein Hauch von gebratenem Speck. Er nahm die Pfanne in die Hand, achtete darauf, der Tür nicht den Rücken zuzudrehen, und hob sie an. Das Fett war noch flüssig, der Boden warm. Vorsichtig, ohne einen Laut zu verursachen, stellte er sie zurück auf den Herd. Dann begann er, die Räume im Erdgeschoss systematisch abzusuchen.

Sie waren leer, sah man von den Hinterlassenschaften ungebetener Besucher ab, die Häuser wie diese immer wieder heimsuchten. Mit dem Fuß stieß er einen mit Brandlöchern und Flecken übersäten Schlafsack zur Seite, nahm eine leere Konservendose hoch und bemerkte, dass die Reste ihres Inhalts steinhart getrocknet waren. Sein Blick ging durch das kaputte Fenster hinaus in den Hof und blieb an dem Stallgebäude hängen. Eins nach dem anderen, sagte er zu sich.

Der erste Stock war gänzlich leer. Er bewegte sich schneller und ungezwungener, weil er mittlerweile davon überzeugt war, dass er alleine war. Auf der Treppe ins Dachgeschoss stutzte er, als er das Blut und den Verwesungsgeruch bemerkte. Dann entdeckte er den toten Hund.

Gehring sicherte die Waffe, steckte sie in sein Holster und ging in die Knie, um einen kurzen Blick auf die blutverkrustete Kehle des Tieres zu werfen. Es war seit mindestens vierundzwanzig Stunden tot. Dann richtete er sich wieder auf und trat vorsichtig den Rückzug an. Als er das Haus verließ, hörte er in weiter Ferne die Sirenen eines Krankenwagens. Er hoffte, dass er noch rechtzeitig genug eintraf. Er war mit Walburga noch nicht zu Ende. Walburga, die Gute, die doch immer nur darauf gewartet hatte, dass ein anderer den Mund aufmachen würde.

Er schluckte seine Wut hinunter. Das Stallgebäude war noch heruntergekommener als das Haus. Die Tür quietschte in ihren rostigen Angeln. Im Inneren hingen schwarz verrußte, gewaltige Spinnennetze in den Ecken. Die schmutzverkrusteten Fenster schienen das wenige Tageslicht eher abzuhalten als durchzulassen. Noch einmal zog Gehring die Waffe, doch er ahnte, dass auch hier niemand war, der ihm gefährlich werden konnte.

»Hallo? Ist da jemand?«

Seine Stimme hallte von den schlecht verputzten Wänden zurück, auf deren Vorsprüngen sich der Dreck von Jahrzehnten gesammelt zu haben schien. Es stank nach altem Futter, Heu und etwas widerlich Vergorenem, das er nicht deuten konnte.

Er suchte einen Lichtschalter, fand ihn und wusste, noch bevor er ihn betätigte, dass er nicht funktionieren würde. Dann durchquerte er den länglichen Raum bis zur Hälfte, drehte sich ein paarmal um die eigene Achse und blieb resigniert stehen. Seine Enttäuschung war grenzenlos. Er fühlte sich, als ob ihn jemand zum Narren halten würde, ihn bewusst in die falsche Richtung geschickt hätte. Wie naiv war er eigentlich gewesen? Hatte er erwartet, Beara gefesselt und geknebelt auf dem Präsentierteller vorzufinden? Vor Wut hätte er am liebsten an die Wand getreten. Die Zeit lief ihm davon. Wenn seine Kollegin noch lebte, dann befand sie sich an einem Ort, der zwanzig Jahre lang von niemandem entdeckt worden war. Und das auf einem Hof, der für jeden, der es wollte, offen stand. Es musste ein Versteck geben, das nur einer kannte. Das so gut verborgen war, dass es kein anderer gefunden hatte.

Wo bist du, verdammt nochmal, dachte er. Du warst hier. Ich weiß es.

»Frau Beara!«, rief er. »Sind Sie hier?«

Er würde jeden Winkel von Wendisch Bruch mit eigenen Händen von unten nach oben kehren. Aber er musste warten, bis Verstärkung eintraf. Das Jaulen der Sirene wurde lauter, wahrscheinlich kam der Krankenwagen von Jüterbog und erreichte gerade den entgegengesetzten Ortseingang. Er griff nach seinem Handy und wollte Frau Schwab stellvertretend für alles, was gerade schieflief, verantwortlich machen, als ihm etwas auffiel.

Der hintere Teil des Raumes war etwas abgesenkt. Statt Beton bestand der Boden aus tiefergelegten Holzbohlen. Er ging darauf zu und trat mit dem Fuß kräftig auf. Es klang hohl.

»Beara?«

In diesem Moment preschte ein Auto in den Hof. Kleine Steine spritzten weg, als es eine Vollbremsung hinlegte. Gehring erkannte durch das weit geöffnete Stalltor nur eine Staubwolke. Er hob die Waffe, drückte sich an die Wand in den Schatten und wartete. Türen wurden geöffnet und zugeschlagen, Schritte knirschten über den brüchigen Beton. Blaues Licht rotierte, warf seinen Schein auch durch das Tor in den Stall. Langsam ließ Gehring die Waffe sinken.

»Hallo?« Bellende Stimme, gewohnt durchzugreifen. »Polizei. Ist da jemand?«

Gehring steckte die Waffe weg und trat ins Licht. Vor dem Stall standen zwei Männer in Uniform. Er erkannte den roten Adler Brandenburgs auf dem Dienstabzeichen. Er wandte sich an den Mann, der mit drei Sternen auf der Schulterklappe der Ranghöhere der beiden war. »Gehring, Kripo Berlin«, stellte er sich kurz vor und zeigte seinen Ausweis.

»Prahm, Revierposten Jüterbog. Freut mich, Herr Gehring. Ihre Kollegin, Frau Schwab, hat uns informiert. Vermisste Person in Lebensgefahr?«

Prahm war ein Mann von mittlerer Statur mit einem dunkelblonden Schnurrbart, der seinem länglichen Gesicht trotz aller Strenge etwas Gutmütiges verlieh. Sein Kollege war wesentlich jünger. Das Mützenband kennzeichnete ihn als Anwärter für den mittleren Dienst im zweiten Ausbildungsjahr. Er hatte ein rundes Gesicht mit dicht bewimperten, dunklen Augen, die noch erstaunt in die Welt sahen, und einen weichen Händedruck. Beides, diesen warmen, mitfühlenden Blick und den laschen Griff seiner Finger, würde er noch vor dem Ende des dritten Jahres verlieren. Gehring nickte den Männern knapp zu und trat einen Schritt zur Seite, um ihnen den Blick auf den Stall freizumachen.

»Eine Kollegin aus Berlin. Ich brauche Ihre Hilfe. Und Werkzeug. Wir müssen Bodenbretter aushebeln.«

»Wird gemacht.«

Mit einem Kopfnicken gab Prahm dem anderen ein Zeichen, sich unverzüglich in Bewegung zu setzen. Keine Spurensicherung, kein SEK. Zwei Dorfpolizisten. Gehring bemühte sich, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

»Wann kommen die anderen?«

»Welche anderen?«, fragte Prahms Kollege und holte ein Brecheisen aus dem Kofferraum.

Gehring schluckte jeden weiteren Kommentar hinunter.

»Nehmen Sie eine Taschenlampe mit.«

Er ging voraus, die beiden Beamten folgten ihm bereitwillig. Als sie den hinteren Teil des Stalles erreichten, deutete Gehring auf die Holzbretter.

»Ein alter Schweinestall«, sagte Prahm und sah sich neugierig um, bevor er mit seiner Taschenlampe Gehrings ausgestreckter Hand folgte. »Und was soll da drin sein?«

»Hier ist ein Hohlraum«, erklärte Gehring mit einer für seine Begriffe unendlichen Geduld. Er trat auf die Holzbohlen. »Vielleicht ist sie da drin.«

»Da muss ich Sie enttäuschen, Meister. Ich kenne diese Ställe. Ich bin auf dem Land groß geworden. Das ist eine alte Abferkelbucht. Sehen Sie die Löcher? Da steckten die Pfosten drin.«

»Was ist unter den Bohlen?«

»Das Sammelbecken für die Gülle. Eigentlich ist die Abdeckung des Spaltbodens aus perforiertem Metall, damit alles gut ablaufen kann. Es wundert mich, dass man Holz genommen hat. Ich sehe auch keine Kotklappen. Muss ein armer Schlucker gewesen sein. Von moderner Tierhaltung keine Ahnung.«

»Wir müssen die Bretter entfernen.«

»Aber … Ja, klar.«

Sein Kollege setzte das Brecheisen an. Gehring und Prahm kamen zu Hilfe, als das erste Brett sich anhob. Das morsche Holz brach. Unter Flüchen und gewaltigen Anstrengungen gelang es ihnen, ein Stück von der Länge eines halben Meters aufzuhebeln. Hastig nahm Gehring die Taschenlampe und leuchtete in das dunkle Loch.

Es war keine halbe Armlänge tief. Der Geruch, der ihm entgegenschlug, raubte ihm fast den Atem. Wütend richtete er die Lampe auf die gesamte Holzkonstruktion und erkannte, dass sie seit ihrem Einbau nicht verändert worden war. Trotzdem gab er den beiden ein Zeichen weiterzuarbeiten.

Nach einer Viertelstunde hatten sie ein Loch von einem Meter Durchmesser freigelegt. Gehring stocherte mit dem Brecheisen in den getrockneten Exkrementen herum, wissend, dass er in den Augen der beiden Beamten, die, wie sie betonten, nur wegen der »netten Frau Schwab« ihre ruhige Wochenendschicht geopfert hatten, gerade sämtliche Autorität verspielte.

»Sie muss hier sein!«

»Herr Kriminalhauptkommissar, hier ist nichts.« Prahm wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Es ist viel zu flach. Man kann keinen Menschen in so einem schmalen Abflussbett verschwinden lassen.«

»Wo läuft die ganze Scheiße denn hin?«

Prahm nestelte umständlich ein zerdrücktes Zigarettenpäckchen aus seiner Hemdtasche und zündete sich hinter vorgehaltener Hand eine an.

»Hier ist das Wasserloch fürs Spülen«, sagte er und klopfte dann mit dem Feuerzeug auf eine längliche Rinne, die in den Betonboden eingelassen war und auf das Güllebecken zulief. »Also nehme ich mal an, dass der Ablauf dahinten in der Ecke ist.«

»Und wohin läuft es ab?«

»Wahrscheinlich in eine Sickergrube hinterm Stall.«

Gehring stand auf und klopfte sich den Dreck von den Händen. »Kommen Sie mit, und zeigen Sie sie mir.«

Die beiden Beamten folgten ihm schweigend. Ihm entging nicht der vielsagende Blick, den sie wechselten. Sie verließen den Stall, Prahm übernahm die Führung, wandte sich nach links und ging um das Gebäude herum. Zwischen der hinteren Stallwand und der Mauer, die das ganze Grundstück umgab, lag ein zwei Meter breiter Streifen Brachland.

»Da ist keine Grube«, sagte Gehring enttäuscht. Sein Blick wanderte über wucherndes Unkraut, über Reste von halb verrotteten Plastiktüten und das verdreckte Gespinst von Pappelwolle, das in den dürren Ästen hing.

»Da muss aber eine gewesen sein.« Prahm kratzte sich am Hinterkopf. Die Mütze hatte er noch im Stall abgesetzt. »Wahrscheinlich ist sie als Müllkippe benutzt und zugeschüttet worden.«

Gehring balancierte über Geröll und heruntergefallene Putzbrocken zu der Stelle, die Prahm ihm beschrieben hatte. Er ging in die Hocke und ließ eine Handvoll staubtrockene Erde durch die Finger rieseln. Er grub tiefer, aber das einzige Resultat waren Scherben von zerbrochenen Bierflaschen und Steine.

»Was suchen Sie denn genau?«

Gehring stand auf. Er merkte erst jetzt, wie müde er war. Er hatte das Gefühl, dass all seine Bemühungen im märkischen Sand stecken blieben.

»Meine Kollegin. Das hatte ich bereits erwähnt.« Er ging an den beiden vorbei, zurück zu dem Streifenwagen, bemüht, ihnen nicht in die Gesichter zu sehen, damit sie seine Enttäuschung nicht bemerkten. Er stellte sich vor, wie wenig von dem, was Walburga ihm gesagt hatte, verwertbar war. Wer würde ihm glauben, wenn sie das Wenige auch noch zurückzog, um ihren Sohn zu schützen? Welch unfassbare, mühselige Kleinarbeit lag vor ihnen, bis sie die einzelnen Vermisstenfälle zusammengetragen haben würden. Und wie sollte er Tomislav Beara in die Augen sehen, wenn er erklären musste, warum er seine Tochter nicht rechtzeitig gefunden hatte?

Der junge Kollege öffnete den Kofferraum und warf das Brecheisen hinein. Prahm ließ seine Zigarette auf den Boden fallen und trat sie aus.

»Haben Sie schon mal im Schafstall gesucht?«, fragte er.

Gehring warf einen Blick über die verwahrlosten Gebäude. »Schafe?«

»Ja. Die hatten welche. Haben Sie die Wolle nicht gesehen?«

Wollte er ihn auf den Arm nehmen? Doch Prahm, immer noch das Feuerzeug in der Hand, wies zurück in die Ecke, aus der sie gerade gekommen waren.

»Das weiße Zeug, das sich dahinten in den Disteln verfangen hat. Der Wind hat es wohl in die Ecke getrieben. Es muss eine ganze Weile her sein, aber ich fress einen Besen, wenn es hier nicht auch Schafe gegeben hat.«

»Ich denke, Schafe leben auf Weiden.«

»Richtig. Auf diesem Hof hat man wahrscheinlich nur die Wolle gesammelt und abtransportiert. Daher die Reste. Aber Schafe haben einen Sommer- und einen Winterstall. Und der Winterstall ist meist in der Nähe zum Wohngebäude der Bauern, damit sie es nicht so weit haben.«

Gehring lief zum Eingangstor und noch einige Schritte weiter, hinaus auf die Straße. Wendisch Bruch lag eingebettet in Wiesen und Äcker, aber er sah weder Schafe noch einen Stall. Weit hinten am Horizont verschwanden gerade drei Wanderer. Prahm kam zu ihm. Gemeinsam spähten sie die Landschaft aus – vergeblich.

»Jochen?«, rief der junge Kollege, der noch am Streifenwagen stand. Prahm drehte sich um. »Hier liegt was.«

Prahm setzte sich in Bewegung, Gehring folgte ihm. In einer Ritze der Betonplatten, breit wie zwei Finger, glitzerte etwas Metallisches. Gehring, sich der Tatsache wohl bewusst, in einem anderen Bundesland zu sein, überließ es Prahm, den Gegenstand zu sichern.

»Autoschlüssel«, sagte er und hielt Gehring den Bund entgegen. »Sagt Ihnen das was?«

Gehring nickte mit zusammengepressten Lippen. Er hatte mit einem Blick erkannt, dass sie zu Bearas Auto gehörten. »Sie war hier. Ihr Wagen steht im Schuppen eines alten Gasthauses, Zur Linde.«

»Da, wo der Notarzt gerade war?«

»Ist er schon weg?«

Prahm nickte. Gehring spürte, wie Verzweiflung und Stress sich in seinem Magen ballten.

»Ich verdächtige die ehemalige Inhaberin, am Verschwinden von Sanela Beara beteiligt gewesen zu sein. Auf jeden Fall hat sie davon gewusst. Und noch von einigem mehr. Ihr Mann gehört zu einer Reihe von Vermissten in Wendisch Bruch.«

»Verstehe. Wir haben schon mal miteinander telefoniert.«

»Sie waren das?«, entfuhr es Gehring ohne einen Unterton von echter Freude.

»Sind Sie schon weitergekommen?«

»Wenn Sie damit meinen, dass Sie nun eine Polizistin mit auf die Liste setzen dürfen, dann ja.«

»Sieht nach Überstunden aus.«

»Ja«, erwiderte Gehring gereizt. »Es könnte auch noch Ihr Wochenende draufgehen.«

Prahm setzte sich, nachdem er sich mehrmals über sein dünnes dunkelblondes Haar gestrichen hatte, die Mütze auf.

»Torsten, Fahndung. Subito. Alle verfügbaren Kräfte nach Wendisch Bruch. Spurensicherung in Luckenwalde informieren, Hundestaffel. Verstärkung aus Postdam Mittelmark und Havelland. Eine Hundertschaft, besser zwei. Hubschrauber. Ab jetzt ist was los hier.«

Der junge Mann flitzte zurück zum Streifenwagen. Prahm wandte sich an Gehring, der zum ersten Mal das Gefühl hatte, dass der Zug auf das richtige Gleis gesetzt wurde.

»Und wir vertreiben uns die Zeit bis zum Eintreffen der Schwadron mit einer kurzen Haustürbefragung. Schafställe auf dem Land … haben magische Anziehungskraft für Liebespaare, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und wir wollen die Kollegin ja so schnell wie möglich gesund und wohlbehalten finden.«

Er gab seinem Kollegen einen Wink, dass er ihnen mit dem Wagen folgen sollte.

»Ja«, sagte Gehring. Er hatte nicht viel Hoffnung auf Liebespaare. Aber er fing an, seine Meinung über Brandenburger Revierpolizisten gründlich zu revidieren.

Das Dorf der Mörder
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