18

Gabriel Brock war über den offiziellen Verlauf von Saalers Mission unterrichtet. Den inoffiziellen konnte er sich denken. Die beiden waren sich nähergekommen, und es hatte nicht gut geendet. Saaler machte sich natürlich Vorwürfe, aber solange Brock nicht wusste, was vorgefallen war, konnte er ihm auch nicht helfen.

Nur eins war klar: Cara Spornitz lehnte jede Zusammenarbeit ab. Ihre Abneigung gegen Charlie schien tief verwurzelt und unüberwindlich. Im Gegensatz zu ihr war Brock jedoch überzeugt, dass Charlies Selbstmordversuche ernst gemeint waren.

Er hatte es geahnt und befürchtet. Charlotte Rubin war in einer ausweglosen Situation. Sie stand in der Pflicht, sich für ihre Tat zu rechtfertigen, und sie tat alles, um das zu verhindern. Schlimmstenfalls würde sie sich selbst zum Schweigen bringen.

Brock glaubte auch nicht an die Hypothese, dass sie ihr Opfer willkürlich ausgesucht hatte. Er zog mittlerweile in Betracht, dass es eine Verbindung zwischen Rubin und Leyendecker gegeben hatte. Dafür war es nicht zwingend notwendig, dass sie sich kannten. Aber Leyendecker musste etwas in Gang gesetzt haben, an dessen Ende sein grausamer Tod stand.

Brock hatte sich intensiv mit dem Opfer beschäftigt. Der Mann war geschieden, hatte zwei Kinder, die sich irgendwo in Westdeutschland herumtrieben und ihn nicht sonderlich beweint hatten – natürlich waren sie über die Todesumstände schockiert gewesen, aber die Verbindung zum Vater bezeichneten beide als nicht besonders eng. Auch seine Ehegattinnen hatten längst ein eigenes, wahrscheinlich freudvolleres Leben begonnen als das, was sie an seiner Seite geführt hatten. Leyendecker suchte ein, zwei Mal im Jahr das Abenteuer in der großen Stadt, ging dabei aber nicht sehr beherzt vor. Als Brock sich die letzten achtundvierzig Stunden im Leben dieses Mannes noch einmal vornahm, gab er sich selbst das Versprechen, sich lieber von einem einsamen Berg auf den Äolischen Inseln zu stürzen, als dem Leben jenen matten Abklatsch von vermeintlichen Reizen abzutrotzen, um die auch Leyendecker nur halbherzig gerungen hatte.

Sogar gegen den Besuch der Prostituierten hat er sich entschieden, dachte er. Hatte Leyendecker spät erkannt, dass das Abenteuer nicht käuflich war? Hatte es einen schalen Geschmack bekommen? Brock wurde bewusst, dass dieses Leben, das Rubin ausgelöscht hatte, sie in all seiner erbärmlichen Langeweile mit irgendeinem Detail bis aufs Blut gereizt haben musste.

Werner Leyendecker, 64. Geboren in Schönwerda, Sachsen. Hauptschule. NVA. In Berlin den antifaschistischen Schutzwall samt Weltfrieden mit der Waffe verteidigt, später Werkzeugmacher, dann Vertreter. Arbeitslos seit Mitte der Neunziger, dann Frührentner.

Unauffällig, keine Vorstrafen. Die Kriminalpolizei hatte alles zusammengetragen, was sie finden konnte. Leyendecker lebte zurückgezogen wie viele ältere, alleinstehende Männer, die das Knüpfen und Pflegen sozialer Netze ihren Frauen überlassen hatten. Die Nachbarn kannten ihn kaum, aber das lag nicht an ihnen. Leyendecker weigerte sich, Päckchen für sie anzunehmen. Er stand oft am Fenster und beobachtete das Treiben auf der Straße, grüßte aber selten.

Gedämpft durch mehrere Türen hörte Brock den Gong. Er sah auf seine Schreibtischuhr. Kurz vor neun.

Es klopfte. Saaler steckte den Kopf durch den Türspalt.

»Sie sind da.«

»Danke. Ich komme gleich.«

Er schob die Unterlagen zurück in den Hängeordner. Ihm durfte kein Fehler passieren. Nicht noch einmal.

Jeremy stand im Hausflur. Er wunderte sich, dass er nach dem Klingeln nur die Schritte einer einzelnen Person auf der Treppe hörte. Leichtfüßige Schritte, sportlich, tänzelnd, und noch bevor sie den letzten Absatz der Treppe erreicht hatte, wusste er, wer es war. Damit hatte er nicht gerechnet.

»Hi, Jeremy.«

Cara Spornitz trug Weiß. Weiße Jeans, weiße Bluse, weiße Slipper. Trotzdem sah sie nicht aus wie eine Krankenschwester. Das lag wahrscheinlich daran, dass ihre Kleidung saß wie eine zweite Haut. Die Taille wirkte fast zerbrechlich schmal, die umgekrempelten Hosenbeine endeten kurz über den zart gebräunten Fesseln. Ihr Lächeln war bezaubernd, und der Duft, der sie umgab, verwandelte das Treppenhaus in eine frische Blumenwiese. Klarheit, Reinheit und Verführung. Jeremy erlag diesem unwiderstehlichen Dreiklang augenblicklich.

»Cara?«

Sie lief auf ihn zu und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

»Ich bin … also … etwas verwirrt«, stammelte er. Sein Herz jagte vor Freude und Aufregung. Sie hatte es sich anders überlegt und war gekommen. Natürlich wegen ihrer Schwester. Vielleicht aber auch …

»Es tut mir leid. Ich habe mich unmöglich benommen. Das ist sonst nicht meine Art.«

»Schon okay«, antwortete er. Ihre überraschende Gegenwart lähmte ihn, machte ihm das klare Denken beinahe unmöglich. Ließ ihn für einen Moment vergessen, mit welchen Worten sie ihn abserviert hatte.

Sie spähte an ihm vorbei in die Praxis. »Ist sie schon da?«

Nach der jähen Freude kam die Ernüchterung. »Nein. Sie müsste jeden Moment kommen. Hör mal, das geht leider nicht.«

»Was?«

»Ich weiß nicht, ob das geht. Du musst dich an die Untersuchungshaftanstalt wenden und eine Besuchsgenehmigung beantragen.«

»Wir haben uns so lange nicht gesehen. Und da soll ich sie im Knast besuchen? Als du mir gesagt hast, wann sie das nächste Mal bei euch ist, klang das für mich wie eine Einladung.«

Jeremy fühlte, wie das Erkennen seiner eigenen Fehler und deren Häufung ihn langsam überforderten. Er hörte, wie das Parkett im Flur unter Brocks Schritten knarrte, und bemerkte, dass sich das Strahlen auf ihrem Gesicht vertiefte, als sie den Professor sah. Er wusste nicht, wie Brock auf sie reagieren würde. Ob er eine Affinität zu jungen Frauen hatte, bisher hatte er sie noch nicht bemerkt.

»Guten Morgen. Ich bin Cara Spornitz, Charlotte Rubins Schwester.«

Der Professor hob fragend die Augenbrauen. Cara reichte ihm verlegen die Hand. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte einen Knicks gemacht.

»Sehr erfreut«, murmelte Brock.

»Ich komme wohl ungelegen? Das tut mir leid. Jeremy … Herr Saaler sagte mir, dass heute der letzte Tag sei, an dem Sie Charlie noch einmal befragen. Ich wollte sie nicht im Gefängnis wiedersehen, verstehen Sie?«

Hilfesuchend sah sie Jeremy an und legte sogar ihre Hand auf seinen Arm. Er schwitzte Blut und Wasser. Hier entstand gerade der Eindruck, dieser Überfall wäre von langer Hand geplant gewesen.

»Das ist richtig. Ihre Schwester wird gleich kommen. Trotzdem ist der Zeitpunkt ungünstig. Ich hätte gerne mit Ihnen geredet, selbstverständlich. Warum kommen Sie nicht morgen wieder?«

»Ich will zu Charlie«, sagte sie. »In einer normalen Umgebung, nicht im Gefängnis.«

»Ich weiß nicht, ob eine psychiatrische Praxis unter den Begriff normale Umgebung fällt. Wir sind für Familienzusammenführungen nicht zuständig.«

»Herr Professor, bitte! Ich habe mir eine Vertretung geholt und bin aus Dessau hergekommen. Wir hatten seit Jahren keinen Kontakt. Und dann kommt die Polizei und behauptet, Charlie steht unter Mordverdacht. Es ist auch für mich ein Schock. Egal, was passiert ist, ich möchte ihr beistehen.«

»Haben Sie eine Besuchserlaubnis beim Untersuchungsrichter beantragt?«

»Noch nicht.« Sie sah zu Boden. Vielleicht wurde ihr gerade klar, dass dies kein Spiel war. Dass es Regeln gab, an die man sich halten musste, selbst wenn die Untersuchungsgefangene die eigene Schwester war. »Ich bin manchmal sehr spontan. Können Sie nicht eine Ausnahme machen?«

»Nein. Es tut mir leid.«

»Meine Schwester wird des Mordes angeklagt. Sie muss in einer entsetzlichen Verfassung sein. Jeremy … Herr Saaler hat mir erklärt, dass es wichtig sein könnte, wenn ich mit Ihnen rede. Ich werde Ihnen uneingeschränkt zur Verfügung stehen und alle Ihre Fragen beantworten. Aber schenken Sie uns zehn Minuten. Sie können auch dabei sein …«

Brock hob die Hand zum Einspruch. Offenbar hatte Cara keine Vorstellung davon, dass ihre Schwester nicht eine Sekunde unbewacht bleiben durfte. Der kurze Moment, in dem dank Jeremys Nachlässigkeit genau das geschehen war, hatten beinahe in einer Katastrophe geendet.

»… ich weiß, Sie müssen sogar dabei sein. Bitte. Charlotte Rubin ist ein Mensch.«

»Es gibt Vorschriften, Frau Spornitz.«

»Und Ausnahmen, Herr Professor. Ich weiß, was ich von Ihnen verlange. Ich kann auch unten vor der Tür warten. Dann passe ich sie auf der Straße ab. Ist das besser? Ich glaube nicht. Herr Saaler meinte, es wäre vielleicht wichtig für Sie zu sehen, wie Charlie auf mich reagiert? Ja?«

Brock bekam offenbar gerade eine Ahnung davon, wie diese Frau Jeremy um den Finger gewickelt hatte und dass er ein Zusammentreffen vor der Haustür unbedingt vermeiden sollte. Er seufzte und gab die Tür frei.

»Danke!«

Während Cara in die Praxis ging und sich im Vorzimmer umsah, holte er Jeremy mit einem Nicken zu sich heran.

»Das hier wird nie geschehen sein. Haben Sie verstanden?«

»Aye, aye, Sir.«

Ein Lächeln zuckte um Brocks Mundwinkel. So schnell, dass es schon verschwunden war, als Jeremy es bemerkte.

»Aufnahmegerät?«

»Ich hole es.«

Jeremy ging an Cara vorbei durch den Flur in sein Arbeitszimmer. Als er die Schublade aufzog, merkte er, dass seine Hände leicht zitterten. Sie verließen gerade alle gemeinsam den sicheren Boden geltenden Rechts.

Wieder erklang der Türgong. Er zuckte zusammen. Charlie wurde gebracht. Jeremy schnappte das Gerät, schaltete es ein, steckte es in die Anzugtasche und eilte zurück, um diesen großen Moment nicht zu verpassen.

Brock stand immer noch im Treppenhaus. Jeremy hörte seine Stimme, die beruhigend auf die Frau einredete. Er verstand nicht, was der Professor sagte. Sein Herz klopfte viel zu schnell, aber schuld daran war nicht Cara, redete er sich ein. Sondern das Super-Bingo der Psychologen: Das Aufeinandertreffen zweier Schlüsselfiguren.

Cara stand im Vorraum und lauschte gebannt. Ihre Körperhaltung erinnerte an die einer Angeklagten, die den Urteilsspruch erwartete. Sie musste unter einer großen Anspannung stehen. Jeremy trat zu ihr und rechnete damit, sofort von ihr weggebissen zu werden. Aber sie ließ es geschehen. Sie reagierte noch nicht einmal, als er sanft seinen Arm um ihre Schulter legte. Sie starrte auf die Tür, die Brock halb hinter sich zugezogen hatte, als warte sie auf das hohe Gericht.

Die Tür wurde aufgestoßen. Der ohne Namen versuchte, Charlotte Rubin den Weg zu verstellen – vergeblich. Sie stieß ihn zur Seite. Ihr grobes Gesicht war wutverzerrt.

»Du? Ich glaub es nicht. Wie kommst du hierher?«

Jeremy spürte, wie Cara sich versteifte.

»Was willst du?«

Brock tauchte auf. Er ließ Charlie nicht aus den Augen. Miesdrosny ging neben ihr in Stellung.

»Charlie«, wisperte Cara. Sie räusperte sich. »Charlie.«

»Wird das hier eine Familienaufstellung, oder was? Habt ihr versteckte Kameras aufgebaut? – Ich werde mich über Sie beschweren, Professor Brock. Ich will zurück. Das ist doch Kindergarten hier.«

»Charlie …«

»Sprich mich nicht an! Halt dich raus!«, fauchte Rubin. Sie wandte sich an den Professor. »Habe ich noch Grundrechte, oder muss ich mir alles gefallen lassen? Ich will sie nicht sehen und auch nicht mit ihr reden!«

Cara wollte auf ihre Schwester zugehen, aber Jeremy hielt sie zurück.

»Das bist du nicht«, sagte sie und streifte unwillig seine Hand ab. »Ich bin extra wegen dir aus Dessau gekommen.«

»Dann wirst du auch extra wegen mir wieder zurückfahren. – Können wir?«, fragte Rubin die beiden Vorführbeamten, die ratlos zu Brock sahen. Der Professor stellte sich zwischen die beiden Schwestern.

»Vielleicht beruhigen wir uns erst einmal. Frau Rubin, ich kann Ihnen anbieten, dass wir ein paar Minuten später anfangen und Sie kurz mit Ihrer Schwester reden. Wir wurden von ihr genauso überrascht wie Sie.«

»Ich will nicht mit ihr reden! Hört mir denn keiner zu?«

»Charlie!«

Cara rannte auf sie zu und schlang ihre Arme um sie. Die große, kräftige Frau ließ es einen Moment geschehen, dann stieß sie ihre Schwester zurück, als wäre sie ein Angreifer. Cara taumelte, Jeremy sprang zu Hilfe, die beiden Polizeibeamten blickten nervös auf das Geschehen, Brock wartete einfach nur ab.

»Hau ab! Wann kapierst du es endlich? Ich will nichts mit dir zu tun haben.«

»Aber warum?« Cara weinte fast. »Du hast doch nur noch mich. Ich bin deine Familie.«

»Familie. Oh ja. Weißt du was, Cara-Schätzchen? Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Ich bin deine Familie. Tu doch nicht so, als ob du nicht wüsstest, was das heißt. Du hast mich doch lange genug aushalten müssen. Geh nach Hause zu deinem lieben Vieh, und hör auf, hier die Heldin zu spielen. Helden haben hier nichts verloren.«

Cara drückte sich den Knöchel ihrer Hand an den Mund. Sie schien kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, aber sie fasste sich noch einmal.

»Hast du es getan?«

Charlie sah sich um. Sie merkte, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Jeremy spürte das Aufnahmegerät in seiner Tasche. Er fragte sich, was der Professor von dieser Szene halten würde.

»Ja.«

»Sag, dass das nicht wahr ist. Lüg doch nicht schon wieder. Du hast doch immer gelogen!«

»Aber warum sollte ich lügen? Warum sind wir denn alle hier? Sie wollen herausfinden, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe. Und soll ich dir was sagen? Ich habe mich selten so normal gefühlt wie jetzt.«

Caras Blick suchte Jeremy. Er nickte ihr kaum merklich zu und hoffte, dass sie seine Aufforderung verstanden hatte – und ihr auch nachkommen würde. Rubin brachte selbst die Sprache auf ihre Tat. Ein Durchbruch schien zum Greifen nah.

»Warum redest du nicht mit ihnen? Was ist passiert?«

»Das geht dich nichts an. Hier wollen mich doch sowieso nur alle in die Pfanne hauen.«

»Keiner tut das! Herr Saaler ist sogar extra zu mir gekommen, um mehr über dich zu erfahren.«

»Und?«, fragte Charlie gefährlich freundlich. »Hat er das?«

»Ich werde alles tun, um dir zu helfen. Alles, verstehst du? Sie wollen wissen, wie du tickst. Ich weiß es nicht. Aber du bist keine Mörderin.«

Charlie gab für einen Moment ihre aggressive Haltung auf. Ihre Stimme wurde leiser. Die Schultern unter dem schlecht sitzenden Anzug fielen herab. Sie wies auf die vier Männer um sie herum, die sie mit Argusaugen beobachteten.

»Du kommst dagegen nicht an. Ich bin vielleicht nicht ganz richtig im Kopf. Weißt du, was mich wirklich enttäuscht? Ich dachte, wir wären stärker. Aber wir werden besiegt.«

»Also, ich weiß nicht«, schaltete sich der ohne Namen ein. Jeremy hätte ihn am liebsten auf der Stelle narkotisiert. »Das dürfen wir eigentlich nicht zulassen.«

»Halten Sie den Mund«, fuhr Rubin ihn an.

Der Beamte zuckte zusammen.

»Das ist in Ordnung«, sagte Brock. »Das gehört bereits zur Sitzung.«

»Ach ja?«, fauchte Charlie, wieder ganz die Alte. »Sind wir jetzt im Aquarium? – Geh nach Hause, Cara. Du kannst mir nicht mehr helfen. Es hat keinen Zweck.«

»Ich werde das nicht zulassen!«

»Das schaffst du nicht. Sieh es endlich ein.«

»Nein!« Cara begann zu weinen, wollte auf Charlie zustürzen, aber Brock hielt sie fest.

»Beruhigen Sie sich!«, rief er. Jeremy sah hektisch zu den Bewachungsposten. Sie standen quasi Gewehr bei Fuß und beobachteten die Szene mit finsteren Mienen.

»Ich bin deine Schwester.«

»Ich habe keine Schwestern mehr.« Rubin drehte sich zu Brock um. »Fangen wir heute nochmal an oder nicht?«

Der Professor wandte sich an die beiden Beamten. »Sie dürfen uns jetzt allein lassen.«

»Seh ich nicht so«, brummte Miesdrosny und zog den Hosenbund hoch. Ihm und seinem Kollegen war anzusehen, was sie von diesem Theater hielten.

Cara ging wieder zu Charlie. Blitzschnell war der ohne Namen bei ihr und riss sie zurück.

»Ich muss Sie bitten zu gehen. Ich darf keinen Kontakt zu der Untersuchungsgefangenen zulassen. Wenn Sie jetzt gehen, will ich dieses Familientreffen unter Zufall abbuchen. Ich würde Ihnen raten, unsere Geduld nicht weiter auf die Probe zu stellen.«

Cara nickte schweren Herzens. Sie tat so, als ob sie zur Tür gehen würde, aber im letzten Moment drehte sie sich um und lief zu Charlie. Sie schlang ihre Arme um den Hals der Frau, die sie fast um eine Haupteslänge überragte. Miesdrosny stürzte sich auf sie und wollte sie zurückzerren. Auch Charlie versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Schließlich konnte der Polizist die beiden Frauen trennen.

»Charlie!«, schluchzte Cara.

»Lass ihn. Er tut nur seine Pflicht. Das muss er doch tun, oder? Lass ihn weitermachen.«

»Was?« Irritiert sah Cara sich um. »Ich soll einfach dabeistehen und zusehen?«

»Es lag doch nie in unserer Hand. Sie haben doch immer mit uns gemacht, was sie wollten.«

»Und wir haben uns gewehrt! Immer! Du kannst doch nicht einfach aufgeben, Charlie. Charlie!«

Charlie schüttelte wütend die Hand des Polizisten ab. Das Pflaster an ihrem Hals löste sich, die Wunde brach auf. Blut sickerte auf den Kragen ihrer Bluse. Sie presste es wieder auf die Haut, aber ihre Fingerspitzen waren mit Blut befleckt.

»Ach, Cara.« Sie sah sich um, als ob sie auf einer Bühne wäre. »›Ich bin einmal so tief in Blut gestiegen, dass, wollt’ ich nun im Waten stille stehn, Rückkehr so schwierig wär’, als durch zu gehn.‹«

Niemand sprach. Jeremy hielt die Luft an. Ein eiskalter Schauder rieselte seinen Rücken hinab. Charlotte Rubin hatte getötet. Und Cara begriff, dass sie eine Schwester hatte, die sie nicht kannte.

Miesdrosny griff zu und führte Rubin ab. Sie ließ es willenlos geschehen. Jeremy hatte einen Moment lang das Gefühl, einer großen Tragödie zugesehen zu haben.

»Charlie!« Cara schrie, als ob sie ihr das Herz bei lebendigem Leib aus der Brust schneiden würden. Der ohne Namen packte Cara und beförderte sie unsanft Richtung Treppenhaus. »Charlie! Nein! Sie war es nicht! Was machen Sie mit ihr? Sie war … es nicht!«

»Lassen Sie sie los!« Jeremy folgte den beiden, aber der Beamte ließ sich nicht beirren.

»Warte unten!«, rief er ihr noch zu, bevor er zurückkehrte und sah, wie Rubin zu einem der Sessel taumelte und sich hineinwarf.

»Ich hole Pflaster«, sagte er.

Der Professor nickte und kümmerte sich um die Verletzte. Als Jeremy zurückkam, waren auch die beiden Polizisten wieder da.

»Wir müssen das melden«, drohte der ohne Namen mit finsterer Miene.

Brock verarztete Rubin. »Was denn? Dies ist eine Praxis und kein Gefängnis. Jeder hat Zutritt.«

»Das war doch kein Zufall! Woher hätte diese Frau wissen sollen, wann wir mit ihr herkommen?«

Er wies anklagend auf Rubin, die mit starrem, glasigem Blick im Sessel sitzen blieb.

»Die Presse hat es eingehend thematisiert, dass ich der Gutachter von Frau Rubin bin. Ich wollte sowieso mit Frau Spornitz reden.«

Rubin hob den Kopf. »Das hat keinen Zweck. Ich will hier weg. Geht das? Oder werde ich hier gegen meinen Willen festgehalten?«

»Nein«, sagte Brock sanft. »Natürlich nicht. Aber verstehen Sie bitte auch uns. Wir haben die Pflicht, uns ein umfassendes Bild von Ihrer Persönlichkeit zu machen.«

Rubin presste die Lippen zusammen. Es war klar, was sie von Brocks Art der Gutachtenerstellung hielt.

»Was war mit den Hunden von Wendisch Bruch?«

Alle waren still. Jeremy wurde bewusst, dass er gerade einen der wichtigsten Momente in dieser ganzen Geschichte erlebte.

»Was haben die Hunde Ihnen angetan?«

»Ich will das nicht«, flüsterte Rubin. Sie beugte sich vor und legte die Hände vors Gesicht. Ihre Schultern fingen an zu beben. Die große, kräftige Frau verlor den Boden unter den Füßen. »Hören Sie auf.«

»Wenn sie bellten, geschah etwas, vor dem Sie Angst hatten. Große Angst. Was war das?«

»Nein. Bitte.«

»Hatte das etwas mit Ihnen zu tun? Mit dem Haus, in dem Sie lebten? Mit Ihrer Familie? Mit Ihrer Tat?«

»Nein!« Rubin sprang auf, so plötzlich, dass alle im Raum zusammenfuhren. Sie stieß den Professor zurück. »Und wenn Sie mich tausendmal fragen – ich weiß es nicht! Lassen Sie mich raus! Ich will weg hier!«

»Ruhig, ganz ruhig.« Brock machte eine Handbewegung zu den beiden Beamten, die so aussahen, als ob sie sich liebend gerne auf ihre Gefangene gestürzt hätten. »Das ist in Ordnung. Sehen Sie, deshalb wollen wir ja mit jemandem reden, der sich vielleicht erinnert.«

»Nicht Cara! Sie war viel zu klein damals.«

»Zu klein für was?«

Rubin fuhr sich durch die Haare. Sie war ein in die Enge getriebenes Tier, das keinen Ausweg mehr sah. »Sie weiß nichts. Lassen Sie sie raus.«

»Gibt es jemanden in Wendisch Bruch, der uns vielleicht weiterhelfen kann?«

Ihre Augen flackerten. »Nein. Niemand.«

»Wirklich nicht?«

»Da ist niemand mehr. Ich will gehen. Darf ich? Ja? – Bringen Sie mich zurück«, bat sie die beiden Polizisten. Sie nahmen sie in die Mitte und führten sie hinaus.

Jeremy warf den Verbandskasten auf Miezes Schreibtisch. Er hatte das Gefühl, in letzter Sekunde einer Katastrophe entronnen zu sein.

»Sie wird sich wieder etwas antun«, murmelte er.

Brock nickte gedankenverloren. »Ich werde gleich in der JVA anrufen. Sie müssen sie im Auge behalten. Ich mache mir große Sorgen.«

Jeremy hätte Brock gerne gefragt, warum er Rubin so zugesetzt hatte. Ob er sie hatte provozieren wollen. Warum er so auf der Geschichte mit den Hunden beharrte, die für Jeremy in keinem Zusammenhang mit dem Gutachten stand. Jeder kannte diese Kettenreaktion, wenn Dorfköter sich gegenseitig anstachelten. Es war ein dahingesagter Satz gewesen, um die Einöde zu beschreiben, in der Rubin groß geworden war. Andere Dinge erschienen Jeremy viel wichtiger. Das Verhältnis zu den Eltern, zu Schulkameraden, zu Arbeitskollegen. Die Brüche in ihrer Biographie. Rilke. Und Shakespeare. Was hatte sie zitiert? Macbeth?

»Warum die Hunde?«, fragte er schließlich doch.

Brock schloss nachdenklich die Praxistür und kam, die Hände auf den Rücken gelegt, zu Jeremy zurück.

»Die erste Assoziation. Sie hatte Furcht vor ihnen.«

»Hätte ich auch.«

Brock lächelte schwach. »Wenn sie Ihnen nachts gegenüberstehen, sicherlich. Aber noch mehr, wenn Sie dieses Bellen in einen unangenehmen, erschreckenden Zusammenhang setzen. Montessori, Darwin, Rogers, ich muss Ihnen doch nicht die Erstsemesterlektüre ans Herz legen. Oder?«

»Nein.«

Brock streckte die Hand aus. »Das Gerät?«

»Ach so, ja.« Jeremy gab es ihm. »Darf ich noch kurz runter und mich von ihr verabschieden?«

»Von Frau Rubin?«, fragte Brock erstaunt. Dann schien er seinen Irrtum einzusehen. »Ich verstehe. Herr Saaler, gestatten Sie mir eine intime Frage?«

»Ja?«

»Sie und Frau Spornitz sind sich nähergekommen?«

»Ja.« Leugnen war zwecklos. Manchmal glaubte Jeremy, Brock konnte das Leben anderer Menschen sehen wie einen Film. Auch die Szenen, die man gerne verborgen hätte. »Es hat sich so ergeben. Ich kann das trennen.«

»Aha. Interessant. Dann tun Sie das in Zukunft auch. Und wenn Sie noch einmal vertrauliche Informationen an Außenstehende geben – und zu denen zähle ich Frau Spornitz, so emotional sie sich auch verhalten hat –, ist dies das Ende unserer Zusammenarbeit.«

»Ich verspreche Ihnen …«

»Ich will keine Versprechen, Herr Saaler. Ich will Einsicht und Vernunft. Wissen Sie eigentlich, wie Ihr Vater sich ins Zeug gelegt hat, damit Sie bei mir arbeiten können?«

Auch das noch. Ja, dachte Jeremy. Ich weiß es. Er lässt keine Gelegenheit aus, es mir unter die Nase zu reiben.

»Also verscherzen Sie sich diese Chance nicht. Wenn meine Warnung in Ihren Ohren anmaßend klingt, fragen Sie Mieze, wie viele Bewerbungen hier jeden Monat eingehen. Ich habe Sie genommen, weil ich bis jetzt der Überzeugung bin, dass Sie in Ihrem Beruf Herausragendes leisten werden. Nicht, um Ihrem Vater einen Gefallen zu tun, falls Sie mir das unterschwellig vorwerfen. Sie sind nicht wegen, sondern trotz seiner Vermittlung hier.«

»Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Ich muss Sie bitten, Ihre privaten Interessen so lange hintenanzustellen, bis ich das Gutachten abgeschlossen habe. Und Sie wären klug, wenn Sie darüber hinaus das Ende des Prozesses abwarten würden. Akzeptieren Sie das, oder verlassen Sie uns.«

»Ich akzeptiere das.«

»Gut. Dann sagen Sie der jungen Dame mal Adieu.«

»Wollten Sie nicht noch mit ihr reden?«

»Unbedingt.« Brock ging in den Flur zu seinem Arbeitszimmer. »Rufen Sie Mieze an, und sagen Sie ihr, dass Rubin gegangen ist. Und dann soll sie einen Termin mit Frau Spornitz machen. Zeitnah. Morgen früh wäre mir am liebsten. Bleibt sie in der Stadt?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Jeremy verblüfft. »Aber ich kann sie danach fragen.«

Jeremy eilte voraus und hielt dem Professor die Tür zu dessen Büro auf. Der ignorierte die devote Geste und blieb gedankenverloren stehen.

»Werden Sie die Sache im Griff haben?«

»Ja. Darf ich Sie noch etwas fragen?«

»Natürlich.« Der Professor ging zu seinem Schreibtisch und holte den Recorder hervor. Er schien es nicht erwarten zu können, sich die Aufnahme anzuhören.

»Hat diese Familienzusammenführung jetzt irgendetwas gebracht?«

»Eine gute Frage«, sagte Brock. Er sah beinahe vergnügt aus und spielte an den Knöpfen des kleinen digitalen Recorders herum. »Es war sehr aufschlussreich. So viel gelogen wie in diesen drei Minuten wurde selten.«

»Ah ja?«

Der Professor steckte das Gerät ein und suchte seine Bleistifte. Als ihm einfiel, dass Mieze noch keine neuen besorgt hatte, holte er einen Kugelschreiber aus der Schublade. »Ich werde mich jetzt langsam an das Verfassen des Gutachtens machen.«

»Und?«, fragte Jeremy schnell. »Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?«

»Charlotte Rubin ist so normal wie Sie und ich.«

Das Dorf der Mörder
titlepage.xhtml
cover.html
978-3-641-09287-0.html
978-3-641-09287-0-1.html
978-3-641-09287-0-2.html
978-3-641-09287-0-3.html
978-3-641-09287-0-4.html
978-3-641-09287-0-5.html
978-3-641-09287-0-6.html
978-3-641-09287-0-7.html
978-3-641-09287-0-8.html
978-3-641-09287-0-9.html
978-3-641-09287-0-10.html
978-3-641-09287-0-11.html
978-3-641-09287-0-12.html
978-3-641-09287-0-13.html
978-3-641-09287-0-14.html
978-3-641-09287-0-15.html
978-3-641-09287-0-16.html
978-3-641-09287-0-17.html
978-3-641-09287-0-18.html
978-3-641-09287-0-19.html
978-3-641-09287-0-20.html
978-3-641-09287-0-21.html
978-3-641-09287-0-22.html
978-3-641-09287-0-23.html
978-3-641-09287-0-24.html
978-3-641-09287-0-25.html
978-3-641-09287-0-26.html
978-3-641-09287-0-27.html
978-3-641-09287-0-28.html
978-3-641-09287-0-29.html
978-3-641-09287-0-30.html
978-3-641-09287-0-31.html
978-3-641-09287-0-32.html
978-3-641-09287-0-33.html
978-3-641-09287-0-34.html
978-3-641-09287-0-35.html
978-3-641-09287-0-36.html
978-3-641-09287-0-37.html
978-3-641-09287-0-38.html
978-3-641-09287-0-39.html
978-3-641-09287-0-40.html
978-3-641-09287-0-41.html
978-3-641-09287-0-42.html
978-3-641-09287-0-43.html
978-3-641-09287-0-44.html
978-3-641-09287-0-45.html
978-3-641-09287-0-46.html
978-3-641-09287-0-47.html
978-3-641-09287-0-48.html
978-3-641-09287-0-49.html
978-3-641-09287-0-50.html
978-3-641-09287-0-51.html
978-3-641-09287-0-52.html
978-3-641-09287-0-53.html
978-3-641-09287-0-54.html
978-3-641-09287-0-55.html
978-3-641-09287-0-56.html
978-3-641-09287-0-57.html
978-3-641-09287-0-58.html