26

Professor Brock kam am Mittag von der Staatsanwaltschaft zurück. Miezes verwaisten Schreibtisch quittierte er mit einem missbilligenden Brummen, womit er weniger den erneuten Arbeitsausfall seiner Sekretärin kritisierte, sondern den Umstand, sich seinen Tee selbst zubereiten zu müssen. Jeremy, der ihn bereits ungeduldig erwartet hatte, erbot sich, seinem Chef diese Arbeit abzunehmen, und kam wenig später mit dem Gewünschten in Brocks Arbeitszimmer.

Der Professor saß über der Akte Rubin. Er bedankte sich für den Tee mit einem kurzen Nicken.

»Und?«, fragte Jeremy. »Was sagt Rütter?«

Rütter wäre der leitende Staatsanwalt in diesem Verfahren gewesen.

»Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es keine Anklageerhebung gegen uns geben. Das ist gut. Trotzdem mache ich mir Vorwürfe. Ich hätte schon viel früher bemerken müssen, dass Gefahr im Verzug ist. Wo ist Frau Spornitz?«

»Ich weiß es nicht. Sie hat die Praxis verlassen. Wahrscheinlich ist sie zurück nach Dessau.«

»Sie hätten sie aufhalten müssen.«

»Das ging nicht. Es war ein Mann von der Kripo hier …«

»Die Kripo?«

Jeremy fasste den Besuch von Kriminalhauptkommissar Gehring in knappen Worten zusammen. Brock hörte aufmerksam zu.

»Dann sind die Ermittlungen in diesem rätselhaften Tierpark-Mord also doch noch nicht abgeschlossen? Das erstaunt mich. Wirklich. Obwohl ich immer das vage Gefühl hatte, dass trotz Rubins Geständnis etwas fehlte. Er hat nicht gesagt, was?«

Jeremy hob die Schultern. »Er wird sich noch einmal bei Ihnen melden.«

Brock nickte, nahm die Brille ab und ließ sie an einem Bügel spielerisch über der Schreibtischplatte tanzen.

»Fast genau zwanzig Jahre liegen zwischen Rubins Weggang aus diesem Dorf und dem erneuten Ausbruch ihrer Psychose. Es ist nicht unsere Aufgabe, einen Mord aufzuklären. Aber etwas muss der Auslöser gewesen sein. Es liegt in Charlotte Rubins Kindheit. Wir brauchen ihre Schwester. Nur sie kann …« Brock brach ab. »Frau Rubin ist tot. Damit ist der Fall für uns erledigt, nicht wahr?«

Jeremy musterte den Professor und hatte das Gefühl, dass dem eben nicht so war.

»In Ihrem Gutachten hätten Sie Charlotte Rubin die Zurechnungsfähigkeit attestiert. Damit wäre sie für diesen Mord voll verantwortlich gewesen.«

Brock steckte sich den Bügel seiner Brille in den Mund und kaute darauf herum.

»Glauben Sie, sie hat es getan?«, fragte Jeremy.

»Ich kann mich nur wiederholen: Das herauszufinden ist nicht unsere Aufgabe. Wir hatten einen klar umrissenen Auftrag. Und der besteht nicht darin, die Anlasstat zu analysieren, sondern die Person.«

»Ich glaube, der Kommissar hat Zweifel.«

»Wie ich vermutet habe. Aber woran?«

Jeremy suchte nach Worten. »Ich kann es nicht genau erklären. Es war die Art, wie er seine Fragen gestellt hat. Ich hatte das Gefühl, die Sache ist für ihn noch nicht vom Tisch. Etwas scheint unklar zu sein. Charlotte Rubins Tatbeteiligung ist eindeutig erwiesen. Ebenso die Umstände. Vielleicht hatte sie einen Helfer?«

Brock brummte etwas, das man mit viel gutem Willen für Zustimmung halten konnte.

»Mir fehlt etwas … Frau Spornitz, wo kann ich sie erreichen? Ich möchte gerne noch einmal mit ihr reden. Nur, um für mich noch einige Punkte zu klären.«

»Sie geht nicht an ihr Telefon.« Jeremy merkte, wie sein Herzschlag schon bei dem bloßen Gedanken an Cara schneller wurde. »Sie gibt uns einen Teil der Schuld am Tod ihrer Schwester.«

Brock musterte ihn ernst. »Diesen Schuh dürfen Sie sich niemals anziehen. Rubins Selbstmord ist die Spätfolge von fürchterlichen Dingen, mit denen wir nichts zu tun haben.«

»Was meinen Sie?«

»Manisch-depressive Züge, Paramnesien, Todessehnsucht. Behandlungsbedürftig, sicher, aber dennoch keine so schwerwiegende seelische Deformation, dass eine Unzurechnungsfähigkeit attestiert werden musste. Cara Spornitz ist im selben Haus wie ihre Schwester aufgewachsen.«

»Was meinen Sie?«, wiederholte Jeremy. Er spürte, wie seine Kehle trocken wurde.

»Sie hat dieselben Verwundungen wie Charlotte Rubin davongetragen. Sie ist jünger, es kann also sein, dass sie im Gegensatz zu ihrer Schwester gar nicht weiß, was geschehen ist. Und dennoch ist sie traumatisiert. Sie hat das Gleiche erlebt, aber aus einem anderen Blickwinkel. Dem eines Kindes. Beide, Charlotte und Cara, hätten sich schon längst in eine Therapie begeben müssen.«

»Was könnte das sein?«

Brock lehnte sich zurück. »Etwas, das so furchtbar war, dass Charlotte Rubin keine andere Möglichkeit mehr sah, als sich selbst auszulöschen. Das ist es, was mir zu schaffen macht. Dass ich das übersehen habe.«

»Und Cara? Ist sie auch suizidgefährdet? Befürchten Sie, dass sie eine ähnliche Entwicklung durchmachen könnte wie ihre Schwester?«

»Das weiß ich nicht. Sie ist anders. Offensiver. Lebenszugewandter. Ein Angreifer. Jemand, der lieber zurückschlägt, als sich demütigen zu lassen.«

Vor Jeremys Augen tauchte Caras Bild auf: das sonnengelbe Kleid, ihr leichtfüßiger Gang, die roten, lächelnden Lippen. Aber auch die plötzliche Wut, die eiskalte Verachtung, als er ihr zu nahe gekommen war. »Sie hat damals vielleicht gar nicht gewusst, was Charlie passiert ist?«

Brock musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Was vermuten Sie denn?«

»Inzest. Vergewaltigung. Man liest ja so viele schreckliche Dinge, aber ich glaube fest daran, dass Cara noch zu klein war, das mitzubekommen, geschweige denn zu verstehen. Die Angst um ihre Schwester hat sie in eine, wie ich finde, gesunde Wut umgemünzt, für die sie jetzt, ebenfalls folgerichtig, Schuldgefühle quälen. Es gibt eine Menge Leute auf der Welt, die weitaus überspannter sind als sie und weniger Schlimmes erlebt haben.«

»Wahrscheinlich haben Sie Recht.«

Brock klappte die Akte zu und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Stelle auf dem Nasenrücken, wo seine Brille gesessen hatte. »Trotzdem würde ich gerne mit ihr reden.«

»Sie wird sich weigern. Sie hat schon als Kind die gesamte Verantwortung alleine tragen müssen. Die Selbstmordversuche ihrer Schwester haben ihr sehr zugesetzt. Einmal hat sie sie vom Dachbalken abgeschnitten. Sie liebt Charlie, und gleichzeitig hasst sie sie, weil sie ihr das angetan hat. Ich will nicht wissen, was in ihr vorgegangen ist, als sie von dem Mord im Tierpark erfahren hat. Das muss man auch erst einmal verkraften. Die eigene Schwester bringt einen Mann auf so bestialische Weise um.«

Brock fixierte ihn mit seinen ruhigen, hellen Augen. »Charlotte Rubin war kein Täter, sie war ein Opfer. Ihr ganzes Leben lang. Bis zum Schluss.«

»Wie … wie meinen Sie das?«

»Ihre Suizidversuche waren der letzte Versuch, einer ausweglosen Situation zu entrinnen. Dabei ging sie autoaggressiv vor und wählte die harte, radikale Methode: erhängen, hinunterstürzen, erstechen, aufschneiden und was Sie sonst noch erwähnt haben. Sie wollte weder gefunden noch gerettet werden, sonst hätte sie die weichen Methoden wie Schlaftabletten vorgezogen. Ihr Konflikt war für sie nur durch Selbstauslöschung zu lösen. Sie war depressiv und zeit ihres Lebens isoliert, räumlich oder seelisch, weshalb ich gerne mehr über Rubins Lebenssituation erfahren hätte. Vielleicht hätten wir ihr helfen können. Doch sie war zu schnell. Sie hat uns alle überlistet.«

»Also war sie ein Opfer ihrer selbst.«

»Ein Opfer der Umstände, die sie zu diesem Selbst gemacht haben.«

»Und deshalb konnte sie den Mann nicht umbringen?«

Brock schüttelte leicht den Kopf. Er setzte die Brille wieder auf und zog den Ordner zu sich heran. »Sie hat diesen grauenhaften Ritualmord im Tierpark nicht begangen. Aber sie wusste, wer es war.«

Das Dorf der Mörder
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