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Als Sanela wieder erwachte, drang Licht durch die Ritzen der Holzbohlen. Nicht viel, eigentlich nur ein winziger Schimmer, aber sie konnte sich diesen Umstand trotzdem nicht erklären. Die Leuchtziffern ihrer Uhr funktionierten nicht mehr, und so robbte sie direkt unter den spärlichen Lichteinfall. Mit Müh und Not erkannte sie, dass die Zeiger auf halb sechs standen. Die Luft hatte sich auch verändert. Sie war trockener geworden, und der Gestank nach Moder, Morast und Gülle war nicht mehr so überwältigend.

Was war geschehen? Hatte jemand eine Plastikfolie über den Boden gelegt gehabt und sie weggezogen, während sie schlief? Sie musste die ganze Nacht durchgearbeitet haben. Zentimeter für Zentimeter hatte sie die Erde durchwühlt und war dabei auf noch mehr Knochen und Kleidungsreste gestoßen. Einen Schlüsselbund. Eine Brieftasche. Ein uraltes Handy, eines der ersten Generation – klobig, schwer und natürlich kaputt. Vier Paar Schuhe: Turnschuhe, Stiefel, Halbschuhe. Und einige Dinge, die sie nicht mehr identifizieren konnte, weil sie sich schon fast aufgelöst hatten. Eventuell Spielzeugtiere. Keine Windeln, keine Babykleidung. Ein paar Lumpen, die vielleicht einmal eine Decke oder ein Handtuch gewesen waren.

Vier erwachsene Tote, drei Kinder. Die Erwachsenen bekleidet, die Kinder nackt.

Sie kroch noch näher an die Ritze heran und versuchte, außer dem Licht auch etwas von der Luft einzufangen, die durch die Öffnung strömen musste. Ein Wunder, dass sie noch nicht erstickt war. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebte. Eines Tages würde man die Überreste von fünf Erwachsenen finden, und einer davon wäre sie. Sie wusste nicht, wann das sein würde. Gehring müsste doch schon längst unterwegs sein. Sie hatte ihm doch alle Fakten auf dem Silbertablett serviert.

Jedes Mal, wenn sie mit ihren Gedanken an diesem Punkt angelangt war, zwang sie sich innezuhalten. Der nächste Schritt wäre die Verzweiflung, und mit der wäre niemandem geholfen. Am wenigsten ihr selbst. Sie musste durchhalten.

Es war zu wenig Luft. Die Schwäche übermannte sie erneut. Sie fürchtete sich davor, wieder einzuschlafen. Vielleicht würde sie nicht mehr aufwachen.

Und dann sang ein Vogel.

So fern, so unerreichbar weit weg.

Das Dorf der Mörder
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