4

Sanela verließ die Cafeteria und wunderte sich, dass es draußen noch stickiger geworden war als drinnen. Einige Eltern stürzten sich auf sie, aber sie wehrte die Fragen mit dem Hinweis auf die Kollegen von der Kripo ab, die jede Minute auftauchen müssten. Die Spurensicherung war zwischenzeitlich eingetroffen. Ein hagerer Mann gab den Tierpflegern die Anweisung, das Wasser aus dem Graben abzulassen. Der Tierparkinspektor stand nervös daneben und wurde gerade von den Pflegern informiert. Er hatte ein Handy in der Hand, das er zwischendurch immer wieder ans Ohr hob, um kurze Zusammenfassungen des Gehörten durchzugeben, wahrscheinlich an seinen Chef. Zwischendurch gab er dem Hageren ein kurzes Zeichen, was so viel heißen konnte wie »Ihr könnt jetzt loslegen«. Der Hagere quittierte das mit einem Kopfnicken. Menschen in weißen Overalls begannen, den weichen Boden Quadratzentimeter für Quadratzentimeter abzusuchen. Sanela blieb vor dem Gatter stehen. Der Hagere bemerkte sie, kam auf sie zu und hob die Hand zu einem angedeuteten Gruß.

»Was haben Sie bis jetzt gefunden?«, fragte sie.

»Eine Hand, einen halben Unterschenkel und etwas, das aussieht …« Der Mann, zwei Köpfe größer als sie und mit den müden Zügen eines Menschen, der seinen Krug voll Elend und Leid schon bis zum Grund geleert hatte, öffnete den oberen Klettverschluss und fächelte sich mit dem Kragen etwas Luft zu. Er hatte ein schmales Gesicht mit vielen Falten, die sich unter seinem Kinn zu sammeln schienen. Die klugen Augen, verborgen unter schweren, zerknitterten Lidern, ruhten einen Moment auf ihr. Vielleicht wollte er abschätzen, was er ihr zumuten konnte. »Im Wirtschaftshof gibt es eine Veterinärklinik. Dorthin lasse ich die Kisten bringen. Professor Haussmann ist unterwegs.«

Oho. Die graue Eminenz der Gerichtsmedizin.

»Er kommt direkt aus der Charité und müsste gleich hier sein. Er wollte es so. Interessante Geschichte. Erlebt man nicht alle Tage.«

Der Mann blickte über die Schulter zurück in das leere Gehege. Es erhob sich in einem sanften Hügel aus dem Wassergraben. Die Mitte war ein ebenes Plateau, auf dem eine Futterraufe stand. Sie war aus dunklem, grobem Holz gezimmert. Im Trog glaubte Sanela noch Reste von Pellets und Möhren zu erkennen.

»Wo sind die Schweine?«

»Wir haben sie im Stall zusammentreiben lassen. Lange halten die es da aber nicht aus.«

»Wie viele sind es denn?«

»Ein Dutzend.«

Er schwieg und sah sie lange an. So lange, bis Sanela begriff.

»Dann werde ich mal den Veterinär informieren«, sagte sie. »Hoffentlich kriegen die Tierschützer nicht Wind von der Sache.«

»Hoffentlich trifft der Direktor bald ein. Für alle weiteren Maßnahmen brauchen wir sein Okay.«

Sie sah sich zu dem Inspektor um, der immer noch in sein Handy redete. Sie konnte nicht verstehen, was er sagte. Aber seine Stimme hatte einen verzweifelten Unterton. Immer wieder warf er besorgte Blicke in das Gehege.

»Wann kommt Gehring?«, fragte der Hagere.

Chef der Mordkommission, jung, dynamisch, arrogant. Jeder kannte ihn, aber er grüßte noch nicht einmal.

»Müsste gleich hier sein«, antwortete sie. »Ich habe die Wache Sedanstraße sofort informiert. Mal sehen, wem Gehring …«

… die Knochen übriglässt, wollte sie sagen. Ließ es aber bleiben.

»Sie machen das gut.«

»Was?«

Er schloss das Klettband. »Sie haben das alles im Griff hier. Die Kollegen von Abschnitt 64 werden sich freuen, dass Sie ihnen so viel Arbeit abgenommen haben.«

»Wie meinen Sie das?«

War sie zu schnell gewesen? Zu forsch, zu selbständig? Das wurde doch immer gefordert. Nicht nur Dienst nach Vorschrift, sondern Entscheidungsfähigkeit und Tatkraft.

Er wandte sich zum Gehen. »So wie ich es sage. Wenn es ein Unfall war, haben Sie erstklassige Arbeit geleistet.«

»Und wenn nicht?«

»Dann übernimmt das LKA. Dann wäre es gut, nicht mehr als ordnungspolizeiliche Maßnahmen eingeleitet zu haben.«

Sanela dachte an die beiden Mädchen. Ein davongeflogener Luftballon, eine Schramme von einem Clown, hinter dessen Existenz sowieso ein großes Fragezeichen stand – das war keine Vernehmung zur Beweiserhebung gewesen, sondern allenfalls Erste Hilfe. Daraus konnte man ihr keinen Strick drehen.

»Was können Sie mir sagen?«

»Nichts«, sagte der Mann. »Noch nichts.«

Toter im Tierpark.

Von brasilianischen Killer-Schweinen zerfleischt.

Leiche im Futtertrog.

Vermutlich gingen dem Fotografen diese Schlagzeilen durch den Kopf, als er mehrmals auf den Auslöser seiner Spiegelreflexkamera drückte. Die Presse kam. Zuerst tauchte ein Kamerateam des RBB auf. Auf dem Weg zur Absperrung schnappte Sanela ein paar Wortfetzen des Reporters auf. Vergesst die Tigerbabys. Das wird der Aufmacher. Direktor kommt gleich, ist schon auf dem Weg, sagt drei Sätze. Vermutlich Unfall. Aggressive Viecher. Denen will keiner im Dunkeln begegnen.

Noch mehr Journalisten rückten nach. Rotteten sich zusammen. Fragten nach dem Polizeipressesprecher, dem Einsatzleiter. Ein Tierpfleger deutete auf Sanela. Sie hob abwehrend die Hand.

Die Worte des Kriminaltechnikers hatten sie beunruhigt. Bloß nicht zu eifrig sein. Sie hatte den Leichenfundort zu sichern und Zeugen daran zu hindern, das Weite zu suchen. Mehr nicht. Jedes Mal, wenn einer der Journalisten ihr mit genervtem Unterton eine Frage stellte, zuckte sie mit den Schultern. Sie würde den Teufel tun und sich den Mund verbrennen. Sie war Streifenpolizistin. Sie hielt hier die Stellung, mehr nicht. Sven, ihr Kollege aus dem Einsatzwagen, kam gerade aus der Cafeteria. In der Hand hielt er einen Pappbecher mit Cola.

»Allet klar?«

»Alles klar.«

»Die Kollegen von der Sedanstraße kommen gleich.«

»Warum dauert das denn so lange?«

»Baustelle.«

Ach ja, die Ampel vorne an der Frankfurter. Ein ewiges Ärgernis. Sie nickte. Zwei weitere Streifenwagenbesatzungen waren eingetroffen und sicherten jetzt das gesamte Gehege und die Zufahrtswege. Da sie weiter vorne für das Publikum abgesperrt worden waren, wurde es langsam ruhiger. Ein Elektrofahrzeug zuckelte vorüber, hielt. Der hagere Mann von der Spurensicherung, mit dem sie gerade gesprochen hatte, lud eine Kiste auf den Anhänger.

»Sie! Junge Frau!«

Er winkte sie heran. »Können Sie mitfahren und ein Auge darauf haben? Ich kann hier niemanden abziehen. Das kommt in die Tierklinik. Die wurde gerade zu einer Außenstelle der Gerichtsmedizin erklärt.« Er grinste. Also war Professor Haussmann schon eingetroffen und hatte entschieden, die erste Begutachtung gleich vor Ort zu arrangieren. Die Pekaris würden so schnell unterm Messer liegen, dass sie gar nicht wussten, wie ihnen geschah.

»Was ist da drin?« Sie deutete auf die Kiste.

Er senkte die Stimme. »Der Kopf.«

Der Wirtschaftshof war die Kehrseite des Tierparks. Ein fast verwildert anmutendes Gelände, zu dem eine schlecht betonierte Piste führte. Der Fahrer deutete auf eine Halle, die schon bessere Tage gesehen hatte.

»Da waren in den fünfziger Jahren die Elefanten drin.« Er wies mit einem Nicken auf weitere Gebäude. »Lager. Heizwerk. Aufenthaltsräume. Siloanlage. Kühlzellen. Futterküche. Strohscheune. Fleischerei. Direkt daneben ist die Klinik. Für die ganz großen Tiere.«

Sanela hob fragend die Augenbrauen.

»Elefanten zum Beispiel. Neulich hat sich einer beim Rückwärtsgehen die Bänder gerissen.«

Er hielt vor einem niedrigen Klinkerbau. Ein schwarzer Mercedes und ein Transporter waren davor geparkt. Vor dem Eingang standen zwei weitere Polizisten in Uniform. Mittlerweile musste der halbe Bereitschaftsdienst Berlins zum Tierpark abgezogen worden sein. Es war ja auch eine nette Abwechslung. Die meisten Tatorte waren nicht so grün, und mit etwas Glück erhaschte man auch noch einen Blick auf die Pfauen, die mit königlicher Gelassenheit ihre schillernden, prächtigen Federschleppen hinter sich herzogen und die Betonpiste zu ihrem Laufsteg machten. Sie stieg aus und bat die beiden, die Kiste vom Anhänger zu laden und ins Haus zu tragen. Sie sagte nicht, was sich darin befand.

Sie ging voraus in einen großen, fast leeren Raum, in dessen Mitte ein riesiger Stahltisch stand. Der Geruch von frischem Blut, Wild und Urin stieg ihr in die Nase. Alte Fliesen, wohl noch aus DDR-Fabrikation, kleine Fenster, dicke Rohre, auf denen sich rußiger Staub abgesetzt hatte. Die Fußbodenkacheln waren nass, jemand musste sie eben abgespritzt haben. Ein Tierparkmitarbeiter in Gummischürze beförderte gerade per Flaschenzug etwas in die hinterste Ecke, das aussah wie ein ausgewaideter Antilopenbock.

Sanela erinnerte sich an eine Zeitungsmeldung. Entsetzte Zoobesucher hatten mit ansehen müssen, wie ein totes Zebra an die Löwen verfüttert worden war. Sie riss den Blick von der dunklen Bauchhöhle der Antilope los und konzentrierte sich auf die Instrumente, die die Mitarbeiter der Spurensicherung neben dem Stahltisch anordneten. Ein älterer Mann in weißem Overall leierte gerade herunter, was sie bisher gefunden hatten: ein halber Oberschenkel. Eine Hand. Etwas, das Teil des Rückens gewesen sein könnte.

Sie ließ die Kiste auf den Tisch stellen. Der ältere Mann hob den Deckel und ließ ihn mit einer resignierten Geste wieder fallen.

»Danke. Jetzt haben wir ihn ja fast zur Hälfte zusammen.«

Sanela schluckte. Sie hatten um sechs ihren Dienst begonnen und früh Mittagspause gemacht. Friedrichsfelde lag weit im Osten, und sie hatte die Gelegenheit genutzt, um in der Datsche in Köpenick nach dem Rechten zu sehen. Ihr Vater hatte ihr eine Dose Ravioli geöffnet. Die Ravioli lagen ihr wie Steine im Magen. Vielleicht hatte der Tierarzt Buscopan dabei.

»Entschuldigen Sie die Störung.«

Der Mann im weißen Overall drehte sich so langsam nach ihr um, als ob er das genau nicht täte.

»Polizeimeisterin Sanela Beara. Ich war als Erste am Fundort.«

»Jochen Haussmann.« Er versuchte, höflich zu sein. Alles, was er jetzt sagte, konnte er wenig später dem Leitenden noch einmal erzählen. Sie trat näher an den Tisch und betrachtete die Instrumente. Dabei fragte sie sich, ob die Tiere geschlachtet oder nur operiert werden würden. Bei Kampfhunden wäre das keine Frage. Aber ein Dutzend Pekaris?

»Ein Mann?«, fragte sie. Das war keine Vernehmung, sondern Neugierde.

»Anzunehmen. Knöchel breit, behaart. Circa fünfzig bis sechzig würde ich vermuten. Das wird ein hartes Stück Arbeit.«

»Können Sie mir sagen, ob es ein Unfall war?«

Haussmann unterdrückte einen Seufzer. »Ich bin nicht Hanussen. Aber die Hand wurde abgebissen. Die Leichenteile, die bis jetzt gefunden wurden, weisen ähnliche Verletzungen auf.«

»Der Todeszeitpunkt?«

»Da müssen Sie sich noch ein wenig gedulden. Das ist ja hoffentlich nicht alles, was von dem Opfer übrig geblieben ist.«

Er musterte sie etwas wohlwollender. Vielleicht auch mitleidig. Sie konnte sich denken, welchen Eindruck sie auf ihn machte. Eine Knöllchenverteilerin an einem Tatort. Aber er wusste nicht, dass sie ihre Bewerbung für den gehobenen Dienst und ein Studium an der Hochschule für Wirtschaft und Recht bereits an die ZSE1 abgeschickt hatte. Das wusste keiner in der Sedanstraße. Nur der Dienststellenleiter, denn der musste den Aufstiegsvermerk ausstellen. Dass es dabei nicht immer um die Eignung ging, war bekannt. Sie gehörte nicht zu den Lieblingen. Sie war eine von denen, die die Zähne zusammenbissen und den Glauben nicht verlieren wollten, dass Fleiß und Leistungsbereitschaft auch noch zählten. Und der Wille. Ein eiserner Wille. Ein Wille aus Stahl. Kriminalhauptkomissar Gehring aus der Sedanstraße musste jeden Moment hier sein. Sie merkte, wie ihre Handflächen feucht wurden. Das gab es so gut wie nie, dass der Leiter der Mordkommission mit einer Streifenpolizistin aus seinem Stall an einem Tatort war. Sie würde diese Chance nutzen. Koste es, was es wolle.

»Könnte es heute Nacht passiert sein? Ein Betrunkener vielleicht, der über das Gatter geklettert ist und von diesen Urwaldschweinen angegriffen wurde?«

Haussmann hatte mit Sicherheit drei Doktortitel, mehrere Honorarprofessuren und eine Veröffentlichungsliste so lang wie das Vorstrafenregister eines Intensivtäters. Und Geduld. Geduld mit einer neugierigen, ehrgeizigen, etwas zu klein geratenen Streifenpolizistin, und das rechnete sie ihm hoch an.

»Ich konnte auch nicht mehr als einen Blick darauf werfen. Wir müssen abwarten, was wir noch im Magen dieser – wie heißen die Viecher?«

»Pekaris.«

»Dieser Pekaris finden. Die Wundränder sind punktuell unterblutet. Hämatome im Wundrandbereich lassen darauf schließen, dass der Mann noch gelebt hat, als er zerlegt wurde.«

»Zerlegt? Sie sagten doch gerade …«

Ihr Blick fiel auf die Knochensägen und Beile, die an der Wand hingen.

»Gefressen«, korrigierte er sich. »Es tut mir leid. Ich muss ehrlich sagen, dass ich so etwas noch nicht erlebt habe. Kampfhunde kamen mir schon mal unters Messer. Vor allem, wenn sie Kinder angegriffen haben. Aber Schweine …«

Mir wird schlecht, dachte sie. Ist es das, was mich erwartet, wenn ich mein Ding wirklich durchziehen will?

»Der Veterinär wird gleich hier sein. Die Tiere auch. Danach sehen wir weiter. Alles, was bisher gefunden wurde, ist schon auf dem Weg ins Labor.«

Haussmann streifte seine Gummihandschuhe ab. »Verdauung ist der aggressivste Vorgang, den sich die Natur ausgedacht hat. Geht bei Tieren ähnlich schnell wie beim Menschen. Nun denn. Lange nicht mehr im Zoo gewesen. Gibt es irgendwo Kaffee?«

Tierpark, dachte sie rebellisch. Das hier ist der Tierpark und nicht der Zoo. Aber das wussten auch nur die aus dem Osten. Haussmann sah aus wie einer, der in Heidelberg studiert hatte und diese ganze absurde Geschichte bei der nächsten Feuerzangenbowle mit Freuden zum Besten geben würde.

»Ich lasse Ihnen einen bringen«, sagte sie. Er würde ihn brauchen.

»Mir auch einen.«

Sanela fuhr herum. Ein Mann Mitte dreißig in einem sommerlichen, hellen Leinenanzug war auf leisen Gummisohlen herangetreten und reichte Haussmann die Hand.

»Herr Professor Haussmann. Tut mir leid, aber es ging nicht schneller. Was haben wir denn da?«

Haussmann musterte die Erscheinung des Mannes mit einem rätselhaften Blick. Gehring war groß, breitschultrig, durchtrainiert und so offensichtlich der Meinung, gutaussehend zu sein, dass niemand ihm ernsthaft widersprechen wollte. Seine Haare waren raspelkurz, er trug mit Vorliebe enge, hauchdünne Rundhalspullover und T-Shirts, die seine Schultern und Oberarme betonten, und aus nicht nachvollziehbaren Gründen die Hosen eine Nummer zu klein. Sein Kopf war schmal, als hätte man ihn kurz nach der Geburt zwischen eine Presse gelegt. Das gab seiner Erscheinung etwas Unproportioniertes, was durch die schmale Nase und den scharf geschnittenen Mund noch betont wurde.

»Sehen Sie selbst. Aber ich warne Sie. Kein schöner Anblick.«

»Das bin ich gewohnt.«

Haussmann machte eine einladende Handbewegung. Die beiden kannten sich, und Sanela hatte das Gefühl, für eine Zehntelsekunde so etwas wie ein leicht boshaftes Glitzern in Haussmanns Augen zu entdecken. Gehring öffnete mit sichtbarer Neugierde den Deckel, ließ ihn fallen, gab ein Stöhnen von sich und kramte mit Mühe ein benutztes Tempo aus der Vordertasche seiner angeknitterten Hose.

»Oh mein Gott. Ich halte mich an die Fotos.«

»Das erleichtert unsere Arbeit.«

»Was können Sie mir schon sagen? – Ach, Frau Beara.« Er wandte sich an Sanela, ohne ihr die Hand zu reichen. Sie zuckte zusammen, denn sie hatte bis zu diesem Moment nicht angenommen, dass er ihren Namen kannte. »Schwarz, ohne Zucker, ohne Milch. Großartige Arbeit. Danke. Sie sehen nicht gut aus. Ganz grün um die Nase. Holen Sie sich auch einen. Und schaffen Sie uns den Zoodirektor heran. So schnell wie möglich.«

»Das ist der Tierpark«, sagte sie. Aber Gehring hörte nicht zu.

Sanela ging hinaus. Der Fahrer hatte mitsamt seinem Elektroauto das Weite gesucht. Ein paar Schritte weiter fand sie mehrere Strohballen und setzte sich, bevor ihre Beine den Dienst versagten. Ganz langsam verdichteten sich die Fakten zu einem Grauen, wie Sanela es noch nie zuvor verspürt hatte. Sie hatte Unfallstellen abgesperrt. Männer von halb totgeprügelten Frauen weggezogen, einmal die Waffe benutzt, um einen Drogendealer zu fassen. Sie war vorbereitet auf das, was das Leben an Auswurf in die Gosse warf. Sie hatte Leichen gesehen mit friedlichen, sanften Gesichtern – und die Fratze des gewaltsamen Todes. Sie war in Wohnungen gekommen, in denen die unendlichen Facetten des Bösen auf sie gewartet hatten: Grausamkeit, Vernachlässigung, Sadismus. Sie war sechsundzwanzig und fühlte sich an manchen Tagen wie sechzig. Sie wollte zur Kriminalpolizei, weil sie nicht nur das Wie, sondern auch das Warum begreifen wollte. Aber das hier, ahnte sie, könnte sie überfordern. Dass ein Mensch, bei lebendigem Leib vielleicht sogar, von wilden Schweinen gefressen worden war.

Lass es einen Unfall sein.

Ein Betrunkener. Ein hilfloser Diabetiker. Fällt irgendwo im Dickicht hinter den Elchen um und wacht erst nachts wieder auf. Findet den Ausgang nicht. Verwechselt was. Steht plötzlich diesen Bestien gegenüber. Nur Muskeln und Bosheit. Nein. Tiere waren nicht böse. Aber sie könnten wütend werden. Sehr wütend.

Was versetzte Schweine in eine solche Rage?

Sie atmete gegen die Enge in ihrer Kehle an. Weiter vorne konnte sie den Wirtschaftseingang sehen. Silos, Garagen und mehrere Gebäude, in denen wohl die Verwaltung untergebracht war. In den offenen Unterständen erkannte sie Schubkarren und einen Traktor. Die Baracken hinter dem Gebüsch dienten wohl weiteren Gerätschaften zur Aufbewahrung. Das Einzige, das das trügerische Bild eines frühen Sommertages auf dem Bauernhof störte, waren die Pfauen.

Das ganze Gelände war hundertsechzig Hektar groß. Sie wusste nicht, wie viel das in Fußballfeldern war, aber es dürften einige sein. Zur Cafeteria würde sie ohne Shuttle hin und zurück eine gute halbe Stunde brauchen.

Ein Lkw ruckelte über die Straße, Staub wirbelte in einer dichten Wolke hinter ihm auf. Er fuhr an Sanela vorbei hinter die Klinik. Wahrscheinlich die Schweine.

Als die Sicht wieder klar wurde, erkannte Sanela auf der anderen Seite der Straße eine Frauengestalt.

Sie trug einen weiten Kittel und Gummistiefel, trotz der Hitze. Sie blinzelte in die Sonne und zündete sich eine Zigarette an. Das Haus, vor dem sie stand, war ein niedriger Stallbau mit grauem Verputz. Der Unterschied von Schatten zu Licht war zu groß, als dass Sanela hätte erkennen können, was sich darin befand.

Ihr Handy klingelte. Sven brauchte Hilfe an der Absperrung. Mittlerweile waren der Tierparkdirektor, drei Kamerateams und über zwanzig Fotografen und Reporter eingetroffen. Es hatte am Vormittag einen Pressetermin mit den Tigerbabys gegeben. Sie waren noch im Park gewesen, und jetzt wurde man die Meute einfach nicht mehr los. Sanela bat um zehn Minuten Aufschub mit der Begründung, dass Gehring eingetroffen war und Kaffee verlangte und sie irgendwo in der Verwaltung vielleicht Glück haben könnte, was Sven – wie jeder, der schon einmal mit dem Kommissar zu tun gehabt hatte oder mit dessen Ruf vertraut war – widerspruchslos akzeptierte. Sie ging hinüber zu der Frau, die sofort die Zigarette fallen ließ und austrat.

»Guten Tag. Ich heiße Sanela Beara. Wo bekomme ich auf die Schnelle einen Kaffee her?«

Die Frau blinzelte sie an. Sanela stand im Gegenlicht.

»Im Casino?«

Also doch laufen. Sanela wollte sich bedanken und gehen, da sagte die Frau: »Ich glaube, irgendwo haben wir noch Pulverkaffee. Wenn Ihnen das reicht?«

»Klar.« Gehring hatte sie schließlich nicht nach einer Soja-Latte geschickt.

»Das dauert aber einen Moment. Warten Sie hier.«

Ihre Stimme war warm, weiblich und leise. Ein starker Kontrast zu dem kräftigen Körper und der derben Kleidung. Sie war vielleicht Mitte dreißig, doch trotz dieser noch relativen Jugend und dem runden Gesicht wirkte sie hart. Kleine dunkle Augen, zusammengepresster Mund, schrieb sie auf ihren inneren Notizblock. Naturverbundener, mitteleuropäischer Typ. Kräftig, wohl schwere Arbeit gewohnt.

Die Frau verschwand in der Baracke. Sanela wartete. Das Motorenbrummen hinter der Klinik erstarb. In der plötzlichen Stille erwachte ein Geräusch.

Ein Nagen, Kratzen, Rascheln, Zischen, als ob ein einziger Organismus mit hunderttausend Füßen scharrte. Es musste aus dem Gebüsch hinter der Baracke kommen, aus einem kleinen Verschlag, der neben dem Haus errichtet worden war und niemandem auffiel, weil er wie ein Provisorium wirkte und von dichtem Efeu überwuchert war. Fast schien es, als wäre diese Mimikry gewollt. Als würde sich der Anbau jedem neugierigen Blick entziehen wollen, sich verbergen hinter Gestrüpp und Wildwuchs. Vielleicht war er einmal ein Käfig gewesen, denn die Vorderfront bestand aus alten, aneinandergeschweißten Gittern, die man erst aus der Nähe erkennen konnte. Eine Eisentür führte hinein. Sie stand halb offen. Sanela bemerkte, dass die Schlösser neu und teuer waren. Ein erstaunlicher Gegensatz zu dem bröckelnden Putz der Barackenwand und dem Rost an Tür und Gittern. Was wurde hier so gut geschützt?

Sie schob die halb offene Tür noch ein Stück zur Seite. Die rostigen Angeln quietschten. Links an der Stirnwand, die an die Baracke grenzen musste, stand ein eiserner Wandschrank, wie er in Umkleidekabinen zu finden war. Rechts eine Stahlkiste, so groß wie vier Schuhkartons. Zwischen Kiste und Schrank hing ein Schlauch. Das Scharren wurde leiser. Das Zischen blieb.

»Zutritt verboten.«

Sanela fuhr herum. Die Frau war ihr gefolgt. Sie schob eine Efeugirlande zur Seite und deutete auf ein ausgeblichenes Emailleschild mit genau diesen Worten an der Tür.

»Was ist das?«

»Das wollen Sie nicht wirklich wissen. Gehen Sie. Dieser Bereich ist für Besucher gesperrt. Es sei denn, Sie wollen hier ermitteln. Wollen Sie das?«

»Sollte ich das?«

Eine winzig kleine Pause. Dann sagte die Frau: »Die Pekaris. Wegen denen sind Sie doch hier. Gibt es was Neues?«

»Was wissen Sie darüber?«

»Nur das, was hier in der hintersten Ecke ankommt. Jemand ist wohl nachts übers Gatter geklettert.«

»Wer sagt das?«

Die Frau trat an ihr vorbei in den Verschlag. Sanela nahm das als stillschweigende Erlaubnis und folgte ihr. Augenblicklich überfiel sie ein Gefühl der Beklemmung. Das Geräusch kam aus der Stahlkiste, und es wurde leiser.

»Die Tierpfleger haben so was erzählt. In Leipzig ist letztes Jahr ein Mann ins Eisbärengehege geklettert und getötet worden. Nachts.«

»Wird das Gelände hier denn nicht überwacht?«

»Natürlich.« Die Frau wich ihrem Blick aus. »Genau wie in Leipzig.«

Eine leichte Brise kam auf und ließ vertrocknete Blätter in den Bäumen rascheln. Sanela trat an die Stahlkiste. Der Deckel war mit einem Riegel verschlossen.

»Was ist da drin?«

»Ratten.«

»Kann ich die mal sehen?«

»Nein.«

Die Frau ging zum Stahlspind und öffnete die Tür. In dem Schrank stand eine Gasflasche. Sanela legte die Hände an den Gürtel. Das sah noch nicht bedrohlich aus, aber sie war näher an ihrer Dienstwaffe.

»Öffnen Sie die Kiste.«

»Nicht jetzt.« Die Frau drehte den Hahn zu.

»Warum nicht?«

»Weil sie noch nicht tot sind.«

Sanela spürte, wie ihre Nackenhaare sich aufstellten. Die Gurte des Pistolenholsters schnürten sich eng um ihre Brust. Ihr fiel das Atmen schwer. Vielleicht lag es auch an dem Geruch. Der Wind hatte sich gewendet, er trug etwas mit sich, das schwer zu bestimmen war. Gärendes Futter. Feuchtes Stroh. Brot. Möhren. Gas.

»Was ist das?« Mit einem knappen Nicken wies sie auf die ungewöhnliche Konstruktion.

»Die Gaskammer.«

Sie bekam keine Luft mehr. War das ein Schock? Posttraumatischer Stress? Die meisten Menschen lebten im Unklaren über ihre körperliche Belastbarkeit. So lange, bis sie auf die Probe gestellt wurde.

»Sie sind in der Futtertierzucht. Zwanzig Liter CO2 pro Minute, fünf Minuten lang. Wenn Sie vorher öffnen, verlängern Sie den Todeskampf. Oder die Hoffnung. Beides gehört sich nicht.«

Es gehört sich nicht. Wir sind höflich beim Vergasen. Dieses Wort. Irritierend. Beängstigend. Ein Unwort. Eines, das man nicht in den Mund nahm.

Die Rattenzüchterin lächelte. Nicht freundlich, nicht warm. Eher eine schiefe Grimasse, ein Verziehen der schmalen Lippen zu einer Art verständnisvoller Belustigung.

»Sie dachten, im Tierpark leben nur Vegetarier?«

»Natürlich nicht.«

Während die Frau sprach, prüfte sie die Gasanzeige und den Hahn. »Wir züchten Mäuse, Meerschweinchen, Kaninchen und Frostratten. Für die Schlangen und Greifvögel. Und Küken für die Dromedare. Alle denken, die fressen nur Heu. Tun sie aber nicht. Für heute liegt eine Bestellung aus dem Brehmhaus vor. Fünfzig Mäuse, drei Wochen alt. Ich versuche, die Tiere knapp zu halten.«

»Beliefern Sie auch die Pekaris?«

»Ja. Zwei mal dreißig Küken pro Woche. Außerdem bekommen sie ein Schweinefuttergemisch und manchmal was aus der Knochentonne. Die wollen was zu beißen haben.«

Die Frau drehte den Gashahn zu. Das Zischen erstarb. Es war still.

»Die Knochentonne?«

»Für die Raubtiere zerlegen wir das Fleisch. Was übrig bleibt, kommt in die Abfallbehälter. Die Pfleger holen sich das, was sie brauchen. Den Rest holt die Müllabfuhr.«

Sanela schob einen Strang Efeu zur Seite und spähte durch die Gitterstäbe nach draußen. Hinter der Klinik begann der Urwald.

»Ich kann sie nicht sehen. Auf der Rückseite, sagen Sie?«

Die Frau trat neben sie und nickte. »Ich sage schon seit Jahren, sie sollen da weg. Grade im Sommer. Wenn der Wind falsch steht, zieht alles in die Wohnung. Man kann kein Fenster mehr auflassen.«

Die Lichtenberger Plattenbauten umrundeten den Tierpark wie ein riesiger Wall.

»Ich bin eigentlich fertig«, sagte die Frau. »In zehn Minuten hole ich sie raus. Wollen Sie dabei sein?«

»Danke. Nicht nötig.«

Sanela folgte der Frau hinaus auf die Straße zu den Verwaltungsgebäuden. Die Fahrbahndecke bestand aus großen Betonplatten, die langsam verwitterten. Gras spross aus den Rissen. Die Frau bog nach links ab und hielt auf die Barackentür zu. Bevor sie hineingehen konnte, fragte Sanela: »Wer sind Sie?«

»Ich heiße Charlotte Rubin. Charlie. Alle nennen mich Charlie. Wenn Sie mehr wissen wollen, wenden Sie sich an den Kurator. Verwaltungstechnisch gesehen gehören wir zum Kinderzoo.«

»Zum … Kinderzoo.«

»Ja. Ich kann Ihnen jetzt den Kaffee machen. Wollen Sie ihn noch?«

Das Dorf der Mörder
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