29

Jeremy wusste, dass alles, was er tat, falsch war. Er lag am helllichten Tag im Bett, er hatte in dieser Nacht sechsmal die Frau an seiner Seite geliebt, und er wollte weder an Brock noch an die Praxis und schon gar nicht an den Grund denken, der ihn nach Dessau getrieben hatte. Wenn er das nicht tat, war alles einfach, leicht und klar.

Er streckte den Arm aus, um nach seiner Armbanduhr zu suchen, die er auf dem Boden vermutete, und stieß um ein Haar eine leere Weinflasche um. Im letzten Moment konnte er sie auffangen und behutsam wieder abstellen.

Die Uhr zeigte halb zwei. Hinter seinen Schläfen pochte ein dumpfer Schmerz, den er auf einen Kater zurückführte. Vorsichtig richtete er sich auf und erwartete, hinter dem Gebirge aus weißen Kissen Caras Gestalt zu entdecken.

Sie war fort. Das Bett war leer, die ganze Etage ebenso. Er suchte seine Sachen zusammen und ging ins Bad. Nachdem er sich geduscht und angezogen hatte, rief er Miezes Apparat an. Er murmelte eine vage Entschuldigung auf den Anrufbeantworter und war erleichtert, als er das hinter sich gebracht hatte. Dann ging er hinunter in Caras Praxis.

Die heruntergezogenen Rollläden tauchten Flur und Wartezimmer in dämmriges Dunkel. Er rief nach ihr, und die Stille gab ihm die Antwort. Er war enttäuscht. Wenigstens einen Zettel hätte sie ihm hinterlassen können.

Er warf einen Blick in ihr Büro. Der Tresen war leer, auch keine Nachricht. Er beschloss, ihr ein paar Zeilen zu hinterlassen, klappte den Zugang zum Schreibtisch hinter der Barriere hoch und nahm sich ein Blatt Papier aus dem Drucker. Das Gerät stand in einem Stahlblechregal. In Augenhöhe befand sich der Medikamentenschrank. Die Türen waren einen Spalt breit geöffnet. War es Neugier? Oder der irritierende Umstand, dass der Schrank eigentlich abgeschlossen sein müsste? Er öffnete ihn. Sein Blick fiel auf sterile Spritzen, braune, handbeschriftete Flaschen und Arzneimittelpäckchen. Im Großen und Ganzen unterschied sich sein Inhalt nicht von dem einer Praxis für Humanmedizin. Er schloss die Türen und widmete sich im Stehen seinem Brief.

Liebe Cara … altmodisch. Verquast. Mist. Er knüllte das Papier zusammen, nahm ein neues. Du warst nicht da … nein. Gleich der erste Satz ein Vorwurf. Er nahm ein neues Blatt. Engel … machomäßig. Ich vermisse dich … weinerlich. Nach dem sechsten Versuch gab er auf und fischte die Knäuel wieder aus dem Papierkorb. Er wollte nicht, dass die Sprechstundenhilfe die Überreste seiner vergeblichen Suche nach den richtigen Worten fand. Zurück blieben zwei leere Medikamentenpackungen. Doptromin, Ketaprofol …

Er kannte die Namen dieser Arzneimittel nicht, aber sie verrieten ihm die Zusammensetzung. Schwere Betäubungsmittel, Muskelrelaxanzien. In Verbindung nur unter Aufsicht eines Anästhesisten anzuwenden. Er fragte sich, ob Cara einen Fachmediziner an der Seite hatte, wenn sie einen Bullen kastrierte. Er legte die missglückten Liebesbriefe auf den Schreibtisch und nahm die Packungen heraus. Sie schienen neu, hastig aufgerissen. Je zehn Ampullen, genug, um einen Safaripark einzuschläfern. Oder einfach nur der normale Verbrauch einer Landarztpraxis?

Er hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. Ertappt ließ er die Packungen zurückfallen und richtete sich auf. Cara lief an der Tür vorbei, sah ihn, blieb irritiert stehen, kam herein, wieder in Gummistiefeln, T-Shirt und dreckigen Jeans.

»Du bist noch da?«

Ihr Blick fiel auf die Papierknäuel. Sie stellte ihre Arzttasche vor dem Tresen auf den Boden.

»Was ist das?«

»Nichts.«

Er fühlte sich wie ein Sechsjähriger, den man an der Bonbonschale erwischt hatte. Sie schnappte ein Knäuel und faltete es auseinander. »Ich vermisse dich«, las sie. »Wo bist du? – Ach Jeremy. Ich habe einen Job und Patienten, die sich nicht nach Sprechstunden richten.« Sie trat auf ihn zu und wollte ihn küssen, aber er wich ihrer Berührung aus.

»Bist du sauer?« Sie warf alles in den Papierkorb. Wenn sie die Medikamentenpackungen bemerkte, dann ließ sie es sich nicht ansehen. »Ich hatte einen Notfall. Ein Fohlen wollte nicht raus, ich muss erst mal duschen. Vivi ist nicht da, ich habe ihr freigegeben. Kommst du mit?«

»Wohin?«, fragte Jeremy irritiert.

»Nach oben.«

Sie zog ihn an sich. Sie roch nach Stall und Schlamm. Nach Gülle und Blut. Und nach einem Hauch von Liebe.

Später trafen sie sich in der Küche. Sie hatte sich die Haare mit einem Einmachgummi zu einem Pferdeschwanz gebunden und ein Sommerkleid angezogen. Gerade wühlte sie sich scheppernd durch einen Küchenschrank voller Töpfe und Pfannen.

»Wird das mein Frühstück?«

»Ich habe Hunger.« Strahlend präsentierte sie ihm eine nagelneue Teflonpfanne. »Rührei?«

Er nahm sie in den Arm und küsste sie.

»Hol schon mal welche aus dem Kühlschrank.«

Während er die Eier aufschlug und sie ein Stück Butter in der Pfanne schmelzen ließ, beobachtete er sich selbst inmitten dieser eigentlich alltäglichen Situation, die ihm immer noch vorkam wie eine Filmszene. Überirdisch schöne Frau und verkaterter, unrasierter Mann in einer so gut wie nie benutzten Küche.

Zum Essen setzten sie sich an einen Glastisch, auf dem eine leere Obstschale aus Chromargan stand.

»Warum bist du noch hier?«, fragte sie.

»Warum wohl?«, gab er ihre Frechheit zurück und biss in ein Stück Toastbrot.

»Um auf mich aufzupassen?«

»Auch.«

»Das ist nicht nötig.«

»Wo warst du?«

Sie stellte die Kaffeetasse ab, aus der sie gerade getrunken hatte. »Auf einem Ponyhof an der Mulde. Was soll das? Kontrollierst du mich? Bist du deshalb gekommen? Hat dein Professor gesagt, ich brauche einen Aufpasser?«

»Nein. Ich bin hier, weil ich dich sehen wollte. Weil ich mir Sorgen gemacht habe. Ich will dich nicht alleinlassen in dieser Situation. Deine Schwester ist vor ein paar Tagen gestorben, und du tust …«

»Was tue ich? Ich trauere nicht so, wie man das im Allgemeinen zu tun hat? Ist es das? Soll ich Schwarz tragen? Die Tiere verrecken lassen?«

Sie zog eine Toastscheibe aus dem Halter und begann, sie wütend mit Butter zu bestreichen. Der Toast zerbrach. Sie warf das Messer auf den Teller. Noch bevor er beruhigend die Hände heben konnte, hatte sie den Schalter umgelegt.

»Okay, Jeremy. Sag mir einfach, was los ist. Fickst du mich aus therapeutischen Gründen?«

Hätte diese Frage ihn unvorbereitet getroffen, wäre er wortlos aufgestanden und gegangen. Doch er hatte gelernt. Cara kam mit ihren eigenen Emotionen nicht zurecht. Alles, was über ein geregeltes Gleichmaß an Gefühlen hinausging, warf sie völlig aus der Bahn. Sie wusste sich nicht anders zu helfen, als wild draufloszuschlagen. Egal, wen sie damit treffen würde.

»Warum lächelst du jetzt so?« Wütend blitzte sie ihn an. »Habe ich was Lustiges gesagt?«

»Wie viele Männer hast du auf diese Weise eigentlich schon in die Flucht gejagt?«

Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ist doch egal. Mit mir hält es sowieso keiner aus. Warum soll ich mir Mühe geben? Zeitverschwendung. Brauchst du noch lange?«

Sie deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf seinen Teller.

»Ja«, antwortete er. »Richte dich schon mal darauf ein.«

Sie schnappte nach Luft. »Auf was? Ich will dich nicht. Dich nicht und deine gottverdammte Praxis und diesen gütigen Halbgott mit Nickelbrille, der aussieht wie eine Karikatur von Sigmund Freud. Wenn du das nicht kapierst, dann musst du auf die Couch. Meine Schwester hat versucht, mich in den Wahnsinn zu treiben. Sie ist … sie war eine Mörderin. Weißt du, wie man um so jemanden trauert? Ja? Dann kannst du es mir gerne verraten. Aber mach mir keine Vorschriften, was ich wie zu tun oder zu lassen habe! – Isst du das noch auf? Sonst kann ich es dir einpacken.«

Sie deutete auf Jeremys angebissenen Toast und das kalte Rührei.

»Charlie war keine Mörderin«, sagte er.

Cara sah ihn lange an. Dann räumte sie rücksichtslos die Teller ab, warf die Essensreste in den Mülleimer und stellte das Geschirr scheppernd in die Spüle.

»Die Ermittlungen laufen noch. Oder schon wieder. Gestern war ein Mann von der Kripo da. Es scheint Zweifel zu geben, ob Charlie diesen Mord wirklich begangen hat.«

Er stand auf und ging zu ihr. Sie ließ kaltes Wasser über das Geschirr und dann über ihre Handgelenke laufen. Er legte seine Hände auf ihre Schultern. Sie ließ es geschehen. Nach einer halben Ewigkeit fragte sie mit erstickter Stimme: »Was sagst du da? Warum erst jetzt? Warum erst nach ihrem Tod?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber … wer soll es denn dann gewesen sein? Sie hat es doch zugegeben!«

»Ich weiß es nicht«, wiederholte er.

»Warum?«, schrie sie. »Warum? Warum? Warum?«

Sie drehte sich um und schlang ihre nassen Arme um seinen Hals. Er drückte sie an sich und streichelte zärtlich ihre zuckenden Schultern. Sie weinte, weinte wie ein Kind: untröstlich.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte er immer wieder wie ein Mantra. Endlich beruhigte sie sich etwas. Er führte sie zurück an ihren Stuhl und zog sich einen zweiten heran. Sie ließ die Schultern hängen und starrte ins Leere.

»Cara, wir brauchen deine Hilfe. Auch wenn es dir schwerfällt und du deine Gefühle nicht unter Kontrolle hast. Charlie ist tot. Sie hat die Tat gestanden, aber wenn es Zweifel gibt, ob sie es war, dann schließe ich daraus, dass der wahre Mörder noch immer frei herumläuft.«

Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht, sagte aber nichts.

»Dann glaube ich sogar, dass sie ihn gekannt hat. Und dann …«

Er wagte nicht weiterzusprechen. Er wollte ihr keine Angst machen. Doch sie verstand, was er angedeutet hatte.

»Dann kenne ich ihn auch?«

»Professor Brock vermutet, dass der Mord an Werner Leyendecker kein Akt des Zufalls war. Er glaubt, dass Charlie eine Psychose hatte. Ihre Selbstmordversuche deuten auf ein schreckliches Erlebnis in ihrer Kindheit hin. Erst als sie euer Dorf verlassen hat, besserte sich ihr Zustand. Um sich dann vor wenigen Monaten fürchterlich zu verschlechtern. Wieder versucht sie, sich das Leben zu nehmen. Sie tut es nicht aus einem Gefühl der Schuld, sondern aus Angst. Charlie hat niemals Gewalt gegen andere ausgeübt, immer nur gegen sich selbst. Sie nimmt den letzten Fluchtweg, der ihr bleibt.«

»Sie wollte wirklich weg? Weg von hier, aus dem Leben?«

»Ja. Das wollte sie wirklich. Und wenn du nicht so gut auf sie aufgepasst hättest, wäre es ihr schon viel früher gelungen.«

Mit einem Stöhnen lehnte sie sich zurück und starrte an die Decke. Ihre Augen waren nass von Tränen, ihre Haut fleckig rot vom Weinen. Jeremy wusste, dass er sie in diesem Moment zum ersten Mal erreichte.

»Um zu wissen, was Charlie so in Panik versetzt hat, brauchen wir deine Erinnerung. Nur dann können wir auch herausfinden, wer der wahre Schuldige an eurer und deiner Tragödie ist.«

»Meiner Tragödie?« Ein spöttisches Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel.

»Ja.«

Sie wurde ernst und richtete sich auf. »Du glaubst also wirklich, alles hat in Wendisch Bruch angefangen?«

»Ja.«

»Ich kann mich aber an nichts richtig erinnern. Nur diese ständige Angst um Charlie, die Wut und der Hass auf sie. Das ist noch da. Der Rest … ich weiß, wie mein Zimmer ausgesehen hat und es im Frühjahr stank, wenn die Gülle auf den Feldern verklappt wurde. Ich kann mich an den Bäcker erinnern und an den Fleischer. Daran, als die letzten Schafe weggetrieben wurden, und wie es war, wenn wir ein Huhn geschlachtet haben. Wir hatten Fliegenfänger in der Küche, lange Leimspiralen, an denen sie kleben blieben. Wir haben direkt unter ihnen gegessen. Manche haben noch die Flügel bewegt. Willst du das wissen?«

»Das und noch viel mehr.«

»Ich weiß aber nicht mehr!« Sie sprang auf. Lief unruhig zur Spüle, wieder an den Tisch, nahm sich ein Glas und ließ Wasser einlaufen, das sie gierig trank.

»Dann gibt es nur eine Lösung«, sagte er.

Sie stellte das Glas ab. In ihren Augen flackerte Angst.

»Lass mir Zeit. Ich muss nochmal drüber schlafen. Morgen. Okay? Morgen?«

»Alle Zeit der Welt.«

Er trat auf sie zu und küsste sie. Zögernd, wie ein Hund, den man zu oft geschlagen hatte, ließ sie sich darauf ein.

»Und was machen wir bis dahin?«, flüsterte sie.

Jeremy sagte nichts. Er fand, es gab bessere Wege, ihr zu antworten.

Das Dorf der Mörder
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