48

Cara und Jeremy stolperten vorneweg, Marten lief hinter ihnen. Jedes Mal, wenn Cara ihre Schritte verlangsamte, stieß Marten sie weiter. Bei Jeremy war er zurückhaltender. Welchen geheimen Groll hegte er gegen Charlies Schwester? Warum verteilte er seine Grobheiten ausgesprochen überlegt?

Sie hatten die Straße nach Baruth wenige hundert Meter hinter dem Ortsausgang verlassen und einen Feldweg auf einen Hügel eingeschlagen. Von ferne mochten sie vielleicht aussehen wie drei harmlose Spaziergänger. Aus der Nähe hätte man erkennen können, dass den beiden, die vorangingen, die Hände auf dem Rücken gefesselt waren und der dritte einen Stock in der Hand trug. Aber es war niemand in der Nähe. Als sie den Hügel überschritten hatten, breiteten sich nur noch Äcker, Wiesen und Wälder vor ihnen aus. Einige Kilometer weiter glaubte Jeremy im Dunst einen Kirchturm zu erkennen.

Inzwischen gab es auch keinen Weg mehr. Marten trieb sie über die Furchen, die die Trecker zwischen den Äckern gezogen hatten. Das Reifenprofil hatte sich tief in den trockenen Staub gegraben, es zerbröselte beim Darübergehen. Obwohl es früher Abend war, ließ die drückende Hitze nicht nach. Fast schien es so, als würden die dunklen Wolken am Horizont sie vor sich herschieben. Cara stolperte über eine Wurzel, taumelte, konnte mit den gefesselten Händen das Gleichgewicht nicht mehr halten und fiel auf die Knie.

»Ich kann nicht mehr«, stammelte sie. Tränen rannen ihr über die Wangen. Marten stieß Jeremy zur Seite und packte sie grob am Arm.

»Wir sind bald da.«

»Wohin gehen wir denn? Hier ist doch weit und breit nichts. Lass uns einfach hier liegen, und hau ab. Wenn du wirklich Charlies Freund warst, verpfeif ich dich auch nicht.«

Er zog sie hoch und gab ihr einen Stoß in den Rücken, der sie beinahe wieder zu Fall gebracht hätte.

»He!«, rief Jeremy. »Lassen Sie sie!«

Marten achtete gar nicht auf ihn. Er schien nur auf die Gelegenheit gewartet zu haben, Cara zu drangsalieren.

»Es interessiert mich nicht, was du vorhast, Cara. Es ist unwichtig, genau wie du. Kapierst du das endlich? Nein?«

Er gab ihr einen Schlag auf den Hinterkopf. Cara brach zusammen. Jeremy holte mit seinem rechten Bein aus und trat Marten mit voller Wucht in den Rücken, der daraufhin über Caras Beine stolperte. Sie schrie auf vor Schmerz. Jeremy trat wieder zu. Er reagierte instinktiv, ohne darüber nachzudenken, dass sie mit gefesselten Händen in einer aussichtslosen Situation waren. Aber vielleicht verlieh ihm gerade das ungeahnte Kräfte. Marten, vornübergebeugt auf allen vieren, wollte wieder auf die Beine kommen. Jeremy trat ihm in die Seite. Mit einem Stöhnen klappte der Mann zusammen. Cara strampelte wie verrückt, um ihre Beine freizubekommen. Jeremy wollte sich auf ihn stürzen, als ein brennender Schmerz durch seine Knie zuckte. So bestialisch, so weißglühend, wie er es noch nie empfunden hatte. Im Stürzen sah er, wie Marten erneut mit seinem Stock ausholte. Der nächste Schlag traf seinen Rücken.

»Nein!«, schrie Cara. »Hör auf! Du bringst ihn um! Was hat er dir denn getan?«

Schwer atmend kam Marten wieder auf die Beine.

»Steht auf. Alle beide. Versucht das nie wieder.«

Jeremy hatte das Gefühl, seine Kniescheiben wären zu Brei zerschlagen. Er wälzte sich, von Schmerzen gekrümmt, im Staub.

»Ich … ich kann nicht«, stöhnte er.

Marten riss Cara hoch. »Dann gehe ich mit ihr allein weiter, und du wirst nie erfahren, was ich mit ihr und all den anderen gemacht habe.«

»Welche anderen?« Jeremy fühlte seinen Körper nur noch in einer einzigen Woge aus Schmerz.

»Ich rede von denen, die ich für Charlie in die Hölle geschickt habe.«

»Ich … ich verstehe Sie nicht.«

Jeremy spuckte Blut und kleine Steine. Sie waren weißer als der Staub, in dem er lag, und er ertastete mit der Zunge eine Lücke, wo einmal sein Vorderzahn gewesen war.

»Das verlange ich auch gar nicht. Vielleicht lasse ich dich einfach hier liegen und verrotten. Aber Cara nehme ich mit. Sie soll endlich aufhören mit diesem Kleinmädchengetue, diesem Cinderellageplappere. Sie soll kapieren, was passiert ist, und endlich verstehen. Genau wie die anderen. Kapieren, verstehen, bereuen.«

»Marten, Marten!«, schrie Cara. »Ich weiß nicht, was du meinst! Was ist denn los mit dir? Ich hab dir doch nie etwas getan!«

»Ja, Unschuldsengel. So war das immer. Daumen in den Mund und große Augen machen. Das ist deine Spezialität.«

Jeremy versuchte mühsam, sich aufzusetzen. Er wusste, dass er keine Chance gegen Marten hatte. Er würde sie nie gehen lassen.

»Was werfen Sie Cara eigentlich vor?«, fragte er. Seine Zunge stieß an die Zahnlücke. Er versuchte, so deutlich wie möglich zu sprechen. »Sie hat als Kind ihre Mutter verloren und als Teenager ihren Vater. Und jetzt auch noch Charlie. Ich ahne, was sich auf dem Hof abgespielt hat. Aber Cara war zu klein, um das zu verstehen.«

»Cara«, stieß Marten hervor und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf seine Angeklagte, »Cara war immer zu klein. Charlie hätte sich vielleicht noch retten können, aber sie ist geblieben. So lange, bis ihre kleine Schwester alt genug war, um nicht mehr ins Heim zu kommen. Charlie hat das alles nur ausgehalten, um Cara zu schützen. Selbst als sie nicht mehr konnte und sie sich jedes Mal, wenn sie zum Stall gegangen ist, hinterher aufhängen wollte. Und unsere süße kleine Cara macht was?«

Er trat auf sie zu und holte aus. Sie zuckte zusammen, aber er stoppte seine Bewegung und ließ die Hand sinken.

»Sie hasst ihre Schwester.«

»Das ist nicht wahr!«

»Doch. Du hast sie kein einziges Mal besucht. Noch nicht mal im Knast. Du hast jeden Kontakt mit ihr abgebrochen. Du wolltest sie nicht mehr sehen.«

»Ich habe ihr das Leben gerettet! Immer wieder!«

»Und sie anschließend dafür verachtet.«

»Aber das …« Cara schüttelte den Kopf. Tränen rannen über ihre schmutzigen Wangen und hinterließen dunkle Spuren auf ihrer staubverkrusteten Haut. »… das war kein Hass. Das war ein Schutz. Sie war doch die Einzige, die ich hatte. Es hat mich so wütend gemacht, so unfassbar wütend, wenn sie es wieder versucht hat. Und wieder und wieder. Es war kaum noch zum Aushalten. Sie hat nicht mit mir geredet, kein einziges Mal.«

Jeremy gelang es, auf die Beine zu kommen. Er versuchte, den stechenden Schmerz in seinen Knien und Rippen wegzuatmen, merkte aber nur, dass ihm noch schwindliger wurde.

»Ich glaube, Sie haben sich da in etwas verrannt«, sagte er.

»Halt dich raus!«, brüllte Marten.

»Das kann ich nicht. Verstehen Sie doch, dass Sie Charlie nie so gut gekannt haben, wie Sie glaubten. Die beiden Schwestern hat mehr miteinander verbunden. Viel mehr. Cara hat die Vergangenheit verdrängt. Charlie nicht. Und wenn Charlie ihre kleine Schwester schützen wollte, wer sind Sie, dass Sie diesen Wunsch nicht akzeptieren?«

»Ich bin vielleicht der Einzige, der wirklich alles weiß. Mehr als das. Der Einzige der etwas getan hat!«

»Wusste Charlie das?«

Marten, noch immer in der achtsamen Haltung eines Menschen, der sich gegen Angriffe von allen Seiten absichern muss, hob den Stock.

»Ja.«

»Was?«, entfuhr es Cara. »Was wusste Sie?«

»Es begann kurz vor deinem fünfzehnten Geburtstag. Weißt du noch? Charlie hat mir das Zeug besorgt und die Dosis aufgeschrieben. Sie wusste nicht, wofür ich es brauche. Aber sie konnte eins und eins zusammenzählen. Sie hatte nämlich Augen im Kopf. Sie hat mitbekommen, wie einer nach dem anderen von der Bildfläche verschwunden ist. Wir haben nie darüber geredet. Aber sie wusste es.«

»Was wusste sie? Welche anderen?«

»All die Männer, die nachts auf euren Hof gekommen sind. Erst war deine Mutter dran, und dann, als sie sie fast totgefickt hatten, sollte Charlie an die Reihe kommen.«

Caras Unterlippe begann zu zittern. Ihr ganzer Körper bebte.

»Und das hast du gewusst?«, fragte sie mit tränenerstickter Stimme.

»Alle wussten es.« Marten stieß wütend die Spitze des Stocks in die Erde. Wieder und wieder. »Alle haben mitgemacht. Auch mein Vater. Als meine Mutter es nicht mehr ausgehalten hat, hat er sie krankenhausreif geprügelt. So ist das in Wendisch Bruch. Und so wäre es weitergegangen, wenn wir die Sache nicht auf unsere Weise gestoppt hätten.«

Jeremy stellte sich neben Cara. »Und was war Ihre Weise? Einen nach dem anderen zu töten?«

»Ja«, sagte Marten. Einfach nur schlicht und ergreifend: Ja.

»Sie hätten zur Polizei gehen müssen. Die Sache anzeigen.«

»Das habe ich getan. Mehrmals, anonym. Sie kündigten sich vorher an, kamen, sahen sich den Hof an, die beiden sauber geschrubbten Mädchen, die stumme Mutter, den wütenden, zu Unrecht verdächtigten Vater und zogen wieder ab.«

»Aber«, setzte Jeremy an, der alles vermeiden wollte, was sich nach einem Vorwurf anhören konnte, »warum haben Sie dann zum Äußersten gegriffen? Ich verstehe, dass Sie Charlie vor den Männern schützen wollten. Hätten Sie nicht einfach auf und davon gehen können? Wäre das nicht besser gewesen, als so viel Schuld auf sich zu laden?«

»Das wollte ich ja!«, schrie Marten. Er trat blitzschnell zu Cara und griff mit seiner freien Hand an ihre Kehle. Er präsentierte Jeremy ihr verzerrtes Gesicht wie eine Trophäe. »Aber sie … sie! Sie konnte ja nicht allein bleiben! Sie war ja noch so klein! Charlie hat sich geweigert. Wegen ihr! Wegen diesem …diesem …« Er stieß Cara von sich. Sie stolperte ein paar Schritte und konnte sich nur noch mühsam auf den Beinen halten.

»Es tut mir so leid«, wimmerte sie. »Marten … bitte …«

»Hör mir auf mit dem Geflenne.« Er hob den Stock und trieb seine beiden Gefangenen weiter wie bockige Schafe.

»Ich verstehe Sie trotzdem nicht«, fuhr Jeremy fort und drehte sich im Laufen nach Marten um. Der Mann musste reden. Er hatte das wohl noch nie getan. Vielleicht veränderten sich sein Hass und seine Wut, wenn er alles herausschreien konnte. Vielleicht war es das, was er wollte: dass endlich jemand die Verbrechen, die in diesem Ort geschehen waren, wahrnahm. »Charlie ist doch nicht vergewaltigt worden. Oder?«

Marten gab ihm einen halbherzigen Stoß. Obwohl er Jeremy brutal zusammengeschlagen hatte, schien er mit ihm noch immer sanfter umzugehen als mit Cara.

»Wen oder was haben Sie denn dann gerächt? Ihre Mutter? Bei allem Respekt, aber so nahe können Sie dieser Frau nicht gestanden haben.«

»Schneller. Ich will da sein, bevor es dunkel wird.«

Cara sagte kein Wort mehr, lief mit gesenktem Kopf und schien sich selbst völlig aufgegeben zu haben.

»Wohin gehen wir?«, fragte Jeremy.

Marten deutete auf ein kleines Wäldchen, das sich am Fuß des Hügels an den Saum eines Maisfelds schmiegte. Die Blätter wiegten sich im Wind, der, kaum dass sie die Senke von Wendisch Bruch verlassen hatten, auffrischte. Es sah aus, als ob eine unsichtbare himmlische Hand über das Feld strich. In Jeremy keimte zum ersten Mal, seit sie Charlies Rächer begegnet waren, so etwas wie Hoffnung. Er berührte Cara absichtlich mit der Schulter. Sie sah kurz hoch. Er wies mit seinem Blick auf das Feld.

»In den Wald?«, fragte Jeremy.

»In die Hütte.«

Zwischen Maisfeld und Wald, verfallen, mit eingesunkenem Dach, stand etwas, das vor langer Zeit vielleicht ein Stall gewesen sein könnte.

Cara blinzelte ihm zu. Sie hatten die Fahrspuren der Trecker verlassen und liefen nun direkt über einen abgeernteten Kartoffelacker, der an das Maisfeld grenzte.

»Jetzt!«

Jeremy ließ sich mit aller Wucht zurück auf Marten fallen, der mit einem wütenden Schrei zu Boden ging. Cara rannte los. Sie hetzte über die Schollen, fiel hin, rappelte sich wieder auf und jagte auf das Feld zu.

»Halt!«, brüllte Marten. »Bleib stehen! Sofort!«

Er sprang auf und setzte Cara nach. Jeremy, die Hände auf dem Rücken, blieb vornübergebeugt stehen und konnte sehen, wie sie die ersten Reihen der Anpflanzung erreichte. Sekunden später war sie verschwunden. Nur die schnellen, zitternden Bewegungen der großen Pflanzen verrieten, in welche Richtung sie lief.

Marten erreichte das Feld.

»Komm raus!«, brüllte er. »Ich krieg dich!«

Er war zu nah. Er hatte keinen Überblick. Fluchend marschierte er auf und ab. Schließlich entschloss er sich, ihren Spuren zu folgen – niedergetretene Stängel, geknickte Blätter. Er tauchte ein in das wogende Grün.

Jeremy beobachtete atemlos die Bewegungen im Maisfeld. Cara war schnell. Der Abstand zwischen den beiden vergrößerte sich. Marten hingegen brauchte Zeit, um sich in dem Feld zurechtzufinden und Caras Spur nicht zu verlieren. Schließlich rührte er sich nicht mehr vom Fleck. Hatte er seine Suche aufgegeben? Jeremy ließ das Feld für einen Moment aus den Augen und suchte in fliegender Hast nach etwas, das ihm helfen konnte, sich von seinen Fesseln zu befreien. Am Rand des Kartoffelackers lag ein Haufen Steine, ein alter Traktorreifen und anderer Schutt. Sein Herz jubelte in wildem Triumph, als er eine zerschlagene Bierflasche zwischen den Brocken entdeckte. Er warf einen Blick zurück auf das Feld.

Marten bewegte sich nicht mehr. Jeremy konnte nicht ausmachen, wo er sich aufhielt. Dafür beschrieb Cara gerade einen gewaltigen Kreis. Sie ging in die Irre. Sie würde über kurz oder lang direkt in Martens Armen landen. Jeremy lief so schnell er konnte zu dem Steinhaufen und ließ sich fallen. Seine tauben Hände tasteten nach der Flasche. Mehrmals rutschte sie ihm aus den Fingern und rollte weg. Fluchend und schwitzend gelang es ihm schließlich, sie festzuklemmen. Er achtete nicht darauf, dass die scharfkantigen Bruchstellen tief in sein Fleisch schnitten. Schweiß kroch in seine Augen und brannte wie Säure. Er versuchte, sich das Gesicht an seinen Oberarmen abzuwischen, und arbeitete weiter. Endlich, kurz bevor ihn die letzten Kräfte verließen, löste sich die erste Schnur. Nach mehreren verzweifelten Anläufen gelang es ihm, auch die zweite durchzuschneiden und die Fesseln so weit zu lockern, dass er sie sich vom Handgelenk streifen konnte.

Mit einem Stöhnen massierte er sich die geschwollenen, blutenden Stellen und sprang auf. Was er sah, ließ sein Herz gefrieren. Marten zerrte Cara gerade aus dem Feld. Sie stolperte willenlos hinter ihm her.

»He, Freak!«, rief dieser Wahnsinnige in Jeremys Richtung. »Willst du auch abhauen, oder was?«

Jeremy hatte erwartet, dass Marten mit Cara zu ihm kommen würde. Stattdessen schlug er mit seiner Geisel den Weg zum Stall ein.

»Es ist mir scheißegal, was du machst. Für sie ist es gleich zu Ende. Deine Entscheidung, ob du sie alleine lässt oder nicht.«

Wieder versetzte er Cara einen brutalen Stoß.

»Geben Sie auf!«, rief Jeremy. »Sie sind doch am Ende. Die Polizei wird bald hier sein. Das hat doch alles keinen Sinn.«

»Sie haben mich zwanzig Jahre nicht gekriegt!« Martens Stimme kippte beinahe, so sehr brüllte er sich in Rage. »Zwanzig Jahre hatten sie Zeit. Und? Ist was passiert? Nichts! Ich hätte das ganze Dorf plattmachen können, und es wäre keinem aufgefallen!« Er wandte sich wieder an Cara. »Dein Lover setzt sich ab. Kriegst du das mit? Der feige Hund macht sich vom Acker und lässt dich hier krepieren. – Machs gut, Freak! Du wirst sie nie mehr wiedersehen!«

Jeremy schätzte den Weg zurück nach Wendisch Bruch auf einen Kilometer. Bis zum Stall waren es keine hundert Meter mehr. Egal was Marten dort mit Cara vorhatte, er würde auf keinen Fall rechtzeitig zurück sein. Dort unten im Stall wartete der sichere Tod. Hinter ihm, nur ein kleines Stück zurück über den Hügel, das Leben. Marten gab ihm die Chance davonzukommen. Wenn er, Jeremy, genau das tat, was alle anderen in dieser gottverlassenen Gegend auch getan hatten: die Augen zu verschließen und nur an sich selbst zu denken.

Langsam setzte er sich in Bewegung. Seine Beine wollten ihm nicht mehr richtig gehorchen. Er konnte kaum glauben, was er tat. Er folgte bereitwillig einem Mörder, der Cara in seiner Gewalt hatte und der von einer aberwitzigen Wahnidee besessen war. Die Schwester sollte all das büßen, was Charlie erlitten hatte. Die einzig Unschuldige in diesem gottverlassenen Dorf. Jeremy wusste, dass Marten nicht klar denken konnte. Die Situation war aussichtslos. Und trotzdem hatte er das Gefühl, Marten erreichen zu können und dass das ihre einzige Chance wäre. Jeder Wahn war in sich logisch. Man musste diese Logik nur erkennen.

Die beiden erreichten den Unterstand kurz vor ihm und verschwanden in dem offen stehenden Eingang. Jeremy beeilte sich, kam kurz nach ihnen in den Stall und sah sich, fast blind, um.

Marten zog gerade eine Spritze auf. Er tat das mit der Routine eines Krankenpflegers, während Cara auf dem Boden saß, ein Bein angewinkelt, das andere ausgestreckt, und ihm mit ausdruckslosem Gesicht dabei zusah.

»Was machen Sie da?«, keuchte Jeremy.

Marten drehte sich zu ihm um und nickte anerkennend. »Schön, schön. Sieh mal, Cara, es gibt noch Liebe auf der Welt. Was hast du mit ihm gemacht, dass er dir sogar in die Hölle folgt?«

»Geh«, flüsterte Cara. Ihre Lippen waren blutverkrustet und aufgesprungen. Sie hatte sich an den scharfkantigen Blättern im Maisfeld Schnittverletzungen zugezogen. Feine Linien, die quer über Stirn und Wangen verliefen. »Das hier geht nur Marten und mich etwas an.«

»Nein«, sagte Jeremy. »Mich auch.«

Ihr Blick brannte ein Loch in seine Seele. Er schmerzte unendlich. Aber Jeremy hatte sich noch nie so lebendig gefühlt.

Marten warf die Ampulle weg und klopfte die Luftbläschen aus dem Kolben. Dann spritzte er einen kleinen Teil der Flüssigkeit in die Luft.

»Er ist …«, sagte sie matt, »er ist wohl so was wie meine Familie. Dieser perverse Rest von gemeinsamem Schicksal.«

»Quatsch.« Marten setzte sich neben Cara und löste ihre Fesseln. »Hör auf mit dem Gefasel. – Wir sind nicht verwandt, Herr Jeremy. Was ist das eigentlich für ein alberner Name?«

»Jeremias. Der, den Gott erhöht.«

»Ach ja? Im Moment sieht es nicht danach aus. Hör gut zu. Du wirst jetzt tun, was ich dir sage. Dann geht es schnell und schmerzlos. Dahinten ist eine Grube. Die wirst du jetzt öffnen.«

Mit einer blitzschnellen Bewegung griff er in die Tasche seiner Jeans und förderte einen Fünfkantschlüssel zutage, den er Jeremy zuwarf. Er wollte ihn auffangen, doch er konnte mit seinen halb tauben Händen nicht richtig zugreifen. Polternd fiel das Werkzeug zu Boden.

»Okay, ich sehe schon. Du brauchst ein bisschen Motivation.« Marten beugte sich zu Cara und bog ihren Kopf zur Seite. Die Spritze setzte er an ihren Hals.

»Mach dich an die Arbeit. Sonst ist sie tot, bevor sie noch begreifen kann, warum. Ich habe vor, euch da drinnen noch ein paar gemeinsame Minuten zu gönnen. Ich kenne die Dosis. Ich hatte ja Praxis. Also entscheide dich.«

Jeremy hob den Schlüssel auf. »Wo soll ich anfangen?«

»In der Ecke.«

Jeremy ging in den hinteren Teil des Stalls. Hier lag noch Stroh auf dem Boden. Nach ein paar Schritten merkte er, dass der Trittschall anders klang. Er bückte sich und schaufelte das Stroh zur Seite.

»Bretter?«, fragte er.

»Links und rechts arretiert. Mach dich an die Arbeit.«

Es waren eigentlich nur zwei Kanthölzer, die die Bohlen verriegelten. Beide waren mit Winkeleisen an der Holzwand befestigt. Jeremy schraubte sie los. Als er fertig war, zog Marten Cara an den Armen hoch und schob sie durch den Raum.

»Und jetzt werden wir mal nachsehen, was da unten drin ist.«

»Marten«, wimmerte Cara. »Bitte nicht.«

»Ach, erinnerst du dich auf einmal, wie es geht? Ja? So ist das mit dem Hinschauen.«

Ein unfassbares Grauen legte sich über ihre Züge. »Ich will nicht. Lass mich, Marten, bitte lass mich. Charlie hätte das nicht gewollt.«

»Aufmachen«, befahl Marten.

Jeremy bückte sich und hob die erste Bohle an. Ein unfassbarer Gestank schlug ihm entgegen.

»Nein!« Caras Schrei gellte so laut, dass er das Brett wieder fallen ließ. Sie rannte zur Tür, aber Marten hatte sie eingeholt, noch bevor sie ins Freie kam. Er griff in ihre Haare und riss ihren Kopf nach hinten. Mit seinem Körper schob er sie voran, zurück in den Stall, die Nadel der Spritze stach mehrere Millimeter in ihren Hals. Sie blieb stocksteif stehen.

»Mach weiter.«

Jeremy hob das Brett an. Es war schwer, unendlich schwer, doch der Gedanke, was Cara gerade angetan wurde, verlieh ihm übermenschliche Kräfte. Er hatte keine Idee, wie er Marten ablenken könnte, deshalb widmete er sich seiner Aufgabe mit scheinbar williger Hingabe.

»Sehr gut. Siehst du schon was?«

Jeremy blickte in eine niedrige Grube, die mit schwarzem Schlamm gefüllt war.

»Dreck«, sagte er.

»Weiter, los!«

Jeremy lockerte das nächste Brett. »Was soll das werden?«, fragte er. »Unser Grab?«

Cara schluchzte auf. »Ich weiß es. Jetzt weiß ich es wieder. Oh mein Gott, hilf mir! Warum tust du mir das an? Warum?«

Ein seltsames Lächeln glitt über Martens Gesicht.

»Das ist doch nur ein Bruchteil von dem, was Charlie mitgemacht hat. Sieh es dir an. – Mach weiter, Jeremias! Gott hat dich erhöht, um der Wahrheit zu dienen. Lasst uns das Werk zu Ende bringen. Erst Cara, dann Jeremias, dann ich. Dann ist es vollbracht.«

Jeremy hob das nächste Brett. Im Schlamm, verdreckt und beschmiert, bekleidet mit nassen Lumpen, lag die Leiche einer Frau.

Das Dorf der Mörder
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