25

Walburga schlug zu. Die rote Flüssigkeit spritzte über die Wachstischdecke. Sie legte den Hammer zur Seite und versuchte, mit einem antiquarisch aussehenden Büchsenöffner die Dose aufzuhebeln.

»Lassen Sie mich das machen.«

Im Ofen schmurgelte ein Rinderbraten vor sich hin. Die gestückelten Tomaten sollten der Abrundung der Soße dienen. Sanela versuchte ihr Glück, kam aber auch nicht viel weiter. Immerhin konnte sie die Öffnung um so viel erweitern, dass sie den Inhalt in die Kasserolle schütten konnte.

»Danke.« Walburga schloss die Ofenklappe. »In einer Stunde gibt’s Essen.«

Sanelas schlechtes Gewissen hatte sich gelegt. Die kräftige Frau mit den braungrauen Haaren war eigentlich nur darüber enttäuscht gewesen, dass sie nicht schon früher von ihrem Gast über dessen Beruf informiert worden war.

»Hätten Sie mich dann aufgenommen?«, hatte sie gefragt.

Aber Walburga war ihr die Antwort schuldig geblieben. Sanelas Blick blieb an einer altmodischen Uhr mit Küchenwecker hängen. Halb elf. Hier wurde ja ziemlich früh gegessen. Sie beschloss, sich den Hunger dafür anzulaufen, und verließ den stillen Gasthof, der an diesem Tag durch den Bratengeruch eine ganz andere, viel freundlichere Atmosphäre bekommen hatte.

Ihr Auto stand noch dort, wo sie es abgestellt hatte. Sie öffnete die Motorhaube und vertiefte sich in den rätselhaften Anblick, der sich ihr bot. Sie wusste nicht, ob sie beobachtet wurde. Wenn ja, untermauerte sie mit dieser kleinen Theatervorstellung den offiziellen Grund ihrer Anwesenheit. Sie klappte die Haube wieder zu, wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab und sah sich um.

Die Straße war leer. Der Verfall einzelner Häuser raubte selbst denen, die noch bewohnt waren, den Rest von Würde. Als ob eine ansteckende Krankheit über Wendisch Bruch hereingebrochen wäre, eine rätselhafte Epidemie, der man resigniert bei der Ausbreitung zusah. Die Gärten verwahrlosten. Bäume wurden nicht mehr beschnitten. Graffiti zierten die betongrauen Wände des Bushäuschens. Der Pfahl, an dem einmal ein Fahrplan gehangen haben musste, häutete sich geradezu. Rost blähte die verblichene Farbe zu Blasen auf, bis sie platzten.

Sie schickte ihrem Vater eine SMS, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte, weil sie von KHK Gehring mit einer wichtigen Ermittlung beauftragt worden war, und lenkte dann, ohne zu wissen, warum, ihre Schritte Richtung Ortsausgang. Als sie das schiefe Straßenschild erreichte, hatte sie genug gesehen, um zu wissen, dass dieses Dorf nicht mehr auf die Beine kommen würde. Was würde geschehen, wenn die letzten Bewohner gestorben oder fortgezogen waren? In großen Städten hatte man begonnen, die verwaisten Plattenbauten abzureißen und ganze Stadtviertel zu »renaturieren«. Kämen die Bulldozer? Die Planierraupen? Machten Sprengmeister die letzten Überbleibsel menschlicher Zivilisation dem Erdboden gleich? Überließe man den Rest der Natur, die unendlich langsam, aber gründlich ihr Terrain zurückerobern würde? Wie lange würde es dauern? Zwanzig Jahre? Fünfzig Jahre?

Sie blieb mitten auf der Straße stehen. Auf ihr könnte man picknicken. Vielleicht kam einmal die Woche noch das Postauto. Und ab und zu ein verschreckter Elektriker, um kaputte Kabelanschlüsse zu reparieren und danach so schnell wie möglich das Weite zu suchen.

Das Tor zum Aussiedlerhof stand einen Spalt offen. Sie konnte sich nicht erinnern, ob das bei ihrer Ankunft auch schon so gewesen war. Sie holte ihr Handy heraus und rief Gehring an, aber er ging nicht ans Telefon. Hatte wahrscheinlich Besseres zu tun, als sich um ihre Hirngespinste zu kümmern. Es war ein schöner sonniger Tag. Auch wenn in der Luft schon eine leichte Schwüle zu ahnen war. Für den Nachmittag hatte der Wetterbericht Wärmegewitter vorhergesagt.

Bei Licht betrachtet, und dazu noch mit der Erinnerung an etwas so Normales wie den Duft von Rinderbraten in der Nase, war Wendisch Bruch nicht unheimlich, sondern nur schäbig. Sein Reiz, wenn es je einen besessen hatte, lag in der Natur, die das Dorf in verschwenderischer Schönheit in die Arme nahm. Direkt neben dem Hof lag ein Rapsfeld. Die Pflanzen waren in die Höhe geschossen und abgeblüht. Gegenüber endeten die aufgegebenen Äcker am Hang eines sanft ansteigenden Hügels, auf dem sich reifendes Korn in einem leichten Sommerwind wiegte und Mais wie Schilf in die Höhe geschossen war.

Der Bürgersteig endete schon ein Stück vor der Einfahrt, die mit nachlässig vergossenem Beton befestigt war. Sanela öffnete das Eisentor und betrat den Innenhof. Sie registrierte eine Länge von circa fünfzig und eine Breite von circa dreißig Metern. Abgegrenzt war er von einer nachträglich hochgezogenen, unverputzten Mauer aus weißen Steinen. Aus den Fugen quoll an manchen Stellen Beton. Linker Hand lag ein Stall- oder Wirtschaftsgebäude. Auf der rechten Seite stand ein niedriges Wohnhaus, vielleicht in den sechziger Jahren modernisiert.

Sanela beschloss, sich als Erstes den Stall näher anzusehen. Sie trat durch eine schief in den Angeln hängende Tür. Ihr fehlten einige Latten, sodass das Licht von draußen schräg in den leeren Raum fiel. Sonnenstäubchen tanzten in den Strahlen, sie kreuzten sich im Lichteinfall der hohen, schrägen Fensterlöcher. Es roch süßlich, und sie erinnerte sich daran, dass die Schweineställe ihrer Kindheit einen ähnlichen Geruch verströmt hatten. Dazu kamen noch Ausdünstungen von Exkrementen, schimmelndem Stroh und vergorenem Futter. Der Raum war sehr lang. In der Mitte rosteten Stahlverankerungen, in denen einmal Pendeltüren gesteckt haben mussten. Der Boden bestand aus Beton. Halb herausgerissene Schienen hatten als Führung der Gussplatten gedient, die wohl schon längst zu einem Schrotthändler gebracht worden waren. Am Ende gab es einzelne Verschläge mit Holzboden, was Sanela auf den ersten Blick wunderte. Auf den zweiten stellte sie fest, dass auch hier Roste verlegt und anschließend wieder entfernt worden waren. Auf ihnen mussten die Abferkelbuchten gestanden haben. Das Holz war rissig, es stank fürchterlich. Vermutlich stammte der Stall noch aus einer Zeit, in der Sauen ihre Ferkel auf Stroh säugten. Später war der Raum mit kümmerlichen Investitionen auf Rentabilität hochgerüstet worden. Intensivtierhaltung, Turbomast. Glitschige, rutschige Metallböden, auf denen die Tiere sich kaum halten konnten und sich, wenn sie umfielen, gegenseitig erdrückten. Kalte Aufstallungen aus Stahl, die wie Klammern um die Sauen gelegt wurden und sie zur Bewegungsunfähigkeit verdammten. Tierquälerei, die so normal geworden war wie das Kilo Schweinebraten für drei Euro.

Und trotzdem hatte es sich nicht rentiert. Schwarze Spinnweben hingen wie Schleier in den Ecken der Wände, Dreck lag in rußigen Schichten auf jedem noch so kleinen Wandvorsprung. Er betonte die Risse und Konturen, ließ die Unvollkommenheit noch stärker hervortreten. Nur der Geruch zeugte noch davon, dass hier jemand mit wenig Investitionen viel Geld machen wollte und gescheitert war.

Sie verließ den Stall und sehnte sich nach einer Dusche.

»Hallo?«, rief sie. »Ist hier jemand?«

Hummeln summten über wuchernder Schafgarbe. Weit entfernt am Horizont zog ein Flugzeug einen Kondensstreifen über den Himmel. Es musste in Schönefeld gestartet sein. Ganz schwach war sein Motorenlärm noch zu vernehmen. Oder war es die Autobahn? Ein Traktor weit weg auf den Feldern? Sonst war es still. Totenstill.

Sie sah das Haus. Ein schmuckloser grauer Kasten. Die Fenster waren blind vor Schmutz und Staub. Dort, wo sie das Wohnzimmer vermutete, hing eine halb heruntergerissene Gardine. Der Putz wies auf ein depressives Verhältnis der Vorbesitzer zu Farbe oder auf die Mangelwirtschaft der letzten DDR-Jahre hin. Zwei Stufen führten zum Eingang, gelb gefliest. Es gab keine Klingel.

Der Abstand zwischen Haus und Straßenfront wurde als Unterstand genutzt, vermutlich für Nutzfahrzeuge, einen Traktor oder die Autos der Besitzer. Aber es schien keine Besitzer mehr zu geben. Schon lange nicht mehr, schoss es ihr durch den Kopf. Sie blieb unschlüssig stehen. Gehrings Warnung stand wie ein unsichtbares Stoppschild direkt vor ihr. Sie hatte keinen Ermittlungsauftrag. Sie war eine krankgemeldete Streifenpolizistin – Attest besorgen!, blinkte in ihrem Hirn –, die sich unerlaubterweise in Charlies Heimatkaff herumtrieb und Fragen stellte. Wahrscheinlich wusste die gesamte Achterbande von Wendisch Bruch schon längst, warum sie hier war.

Nur sie nicht.

Was zum Teufel trieb sie dazu, ihren Aufstiegsvermerk aufs Spiel zu setzen? Warum war Charlies Tod nicht auch für sie der Moment, den Fall zu den Akten zu legen? Die Sonne brannte auf die verwitterten Bodenplatten, zwischen denen das Unkraut hervorschoss. Sie schloss die Augen und glaubte den Geruch zu riechen, der manchmal noch durch die Ritzen ihres Unterbewusstseins in ihre Alpträume kroch. Pulver. Blut. Exkremente. War das der Donner eines nahenden Gewitters oder das Dröhnen der Panzer der Jugoslawischen Volksarmee, die heranrollten? Maschinengewehrsalven. Schreie. Jemand riss sie weg, hinein in die Trümmer eines Hauses. Ein Mann in zerfetzter, blutbefleckter Uniform. Er beugte sich zu ihr herab.

Sei still. Kein Ton. Sonst bist du tot.

Sie riss die Augen auf und stand noch immer in dem verlassenen Hof. Weit hinten am Horizont ballten sich blasse Wolken. Der Himmel wechselte die Farbe. Das dunstige Blau verdichtete sich zu Grau. Ein Windstoß trieb trockene Blätter vor sich her, spielte mit ihnen, ließ sie im Kreis tanzen.

Sanft strich sie sich über die Kehle. Schweiß sammelte sich in ihrem Nacken und zwischen den Schulterblättern. Sie sah auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass es nach Walburgas Zeitrechnung Mittag war und der Braten bestimmt schon auf dem Tisch stand. Sie drehte sich um und ging zum Ausgang. Aus den Augenwinkeln war ihr, als ob sich die Gardine am Wohnzimmerfenster minimal bewegte. Sie sah genauer hin. Im Fensterrahmen war kein Glas mehr. Es war der Wind, der mit dem mürben Stoff spielte.

»Und da wohnt bestimmt keiner mehr?«

Walburga schob ihr die Schüssel mit den Kartoffeln zu. Sanela bediente sich.

»Niemand. Noch nicht mal Obdachlose kommen hier vorbei. Obwohl das eigentlich mal eine Idee wäre. Die Leute könnten Land und Häuser geschenkt bekommen. Der alte Fritz hat so die ganze Mark Brandenburg besiedelt. Ich verstehe nicht, warum die sich lieber in ihren Zweiraumwohnungen zu Tode saufen, statt irgendwo neu anzufangen.«

»Ist vielleicht zu viel Arbeit.«

Sanela zerteilte ihr Essen in kleine, mundgerechte Portionen, legte das Messer weg und fing an, nur noch mit der Gabel zu essen. Walburga machte das Gleiche.

»Wovon leben Sie eigentlich?«

»Rente. Und ich verpachte Land. Es ist nicht viel, aber es reicht zum Überleben.«

»Und die anderen hier?«

»Das Gleiche. Rente, Stütze, irgendwie kommt man über die Runden. Muss ja.«

Walburgas Offenheit hatte sich in eine vorsichtige Zurückhaltung verwandelt. Sie tat zwar so, als ob ihr Sanelas Job nichts ausmachen würde, aber sie behielt ihr Insiderwissen wieder für sich.

»Ich war eben am Aussiedlerhof. Wann ist er denn verlassen worden?«

»Das weiß ich nicht genau. Wir hatten mit denen ja nicht viel zu tun. Das ist wohl schleichend gekommen. Die Äcker hat der Alte versoffen. Als er starb, blieb die Kleine noch so lange, bis sie was anderes gefunden hat.«

»Die Kleine?«

»Die Jüngste von denen. Cara. Sie war vierzehn oder fünfzehn, als der Alte starb.«

»Hat sich das Jugendamt nicht um sie gekümmert?«

Walburga hob die buschigen Augenbrauen. »Welches Jugendamt? Das war drei, vier Jahre nach der Wende. Da saßen ganze Jugendämter noch geschlossen im Knast.«

Sanela gab ein zustimmendes Murmeln von sich. Sie wollte den zarten Anflug von Vertrauen nicht gleich wieder mit einer Bemerkung zerstören, die natürlich etwas damit zu tun gehabt hätte, wie wenig man in so einem kleinen Dorf eigentlich aufeinander achtete.

»Das ist wirklich lecker.«

Walburga strahlte. »Vom Metzger in Jüterbog. Kommt jede Woche einmal mit seinem Wagen und klappert die Gegend ab.«

»Was ist denn mit dem Metzger hier passiert? Und der Fleischerei?«

Das Gesicht der Frau verschloss sich. »Den gibt es nicht mehr.«

»Und?«

Walburga aß schweigend weiter. Sanela legte die Gabel auf dem Rand des Tellers ab.

»Frau Wahl. Ich bin nicht hier, um zu ermitteln. Ich will nur begreifen, was passiert ist. Charlotte Rubin ist genauso wie ihre Schwester sehr, sehr jung ausgezogen. So jung, wie es eigentlich hierzulande nicht üblich ist. Und nach und nach sind auch die Männer in Wendisch Bruch weg. Was ist mit dem Metzger passiert?«

»Nichts. Was soll passiert sein? Er hat zugemacht und ist mit seiner Frau an die Costa Blanca.«

»Wann?«

Walburga kniff die Augen zusammen.

»Ach, das ist lange her. Vor zwanzig Jahren? Meine Güte, wie die Zeit vergeht.«

»Haben Sie mal wieder was von den beiden gehört?«

»Nein. Doch! Sie haben eine Karte geschickt. Vom Meer.«

»Mehr nicht?«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Und die anderen?«

»Welche anderen?«

»Die Männer. Was ist aus denen geworden?«

Die Frau senkte den Kopf und begann, an den Plastikfransen der Decke zu zupfen.

»Walburga, was ist aus Ihrem Mann geworden?«

Beinahe hatte Sanela Mitgefühl. Doch das verflog, als sie an den Bäcker dachte. Die Lindenwirtin suchte in der Tasche ihres Kittelkleides nach einem Papiertaschentuch, um sich damit erst über die Augen zu wischen und dann die Nase zu putzen.

»Er ist weg«, sagte sie schließlich.

»Wie, weg?«

»Weg. Verschwunden. Er sagte, er fährt für ein paar Tage nach Berlin, und ist nicht mehr wiedergekommen.«

»Und dann? Sind Sie zur Polizei?«

»Nein. Doch. Ja.«

»Und?«

»Die haben mir gesagt, in den meisten Fällen tauchen Vermisste von alleine wieder auf. Nach drei Tagen oder so. Wenn er dann nicht wieder da wäre, sollte ich Anzeige erstatten.«

»Haben Sie das getan?«

Walburga antwortete nicht. Sanela wartete. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das Gespräch führen sollte. Natürlich hatte sie die Richtlinien der Vernehmungslehre studiert. Aber saß sie einer Zeugin oder einer Beschuldigten gegenüber? Waren sie noch bei einer Spontanaussage, oder hatten sie den Rubikon zur sachverhaltsbezogenen Frage überschritten? Befanden sie sich in der Kontakt-, der Erzähl- oder der Fragephase? Und warum machte sie sich darüber eigentlich Gedanken, wo dieses Gespräch doch nichts anderes war als die Unterhaltung zweier Frauen beim Mittagessen. Aber Walburga sah das anders.

»Ich hab schon viel zu viel erzählt.« Sie schob den halb leergegessenen Teller zur Seite und trank einen Schluck Holunderblütenschorle.

Sanela überlegte sich ihre nächsten Worte genau. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr Mann seit … seit wann?«

»Neunzehnhundertvierundneunzig.«

»Seit achtzehn Jahren vom Zigarettenholen nicht zurückgekommen ist?«

Walburga zuckte mit den Schultern.

»Und Sie haben keine Anzeige erstattet?«

»Die Polizei hat sie ja nicht angenommen.«

»Aber Sie sollten sich doch melden, wenn er nicht wieder auftaucht!«

Sanela stand auf und ging zum Fenster. Sie hatte das Gefühl, wenn sie noch eine Sekunde länger sitzen bliebe, würde sie explodieren. Sie stützte sich mit den Handflächen auf dem Fensterbrett ab und hob die Fersen. Die Muskelanspannung tat gut. Langsam ließ sie sich wieder sinken und drehte sich zu Walburga um.

»Ich muss das melden.«

Walburga zuckte mit den Schultern, dabei zupfte sie an ihrem Taschentuch herum.

»Hat ihn denn niemand vermisst außer Ihnen?«

»Wer sagt denn, dass ich ihn vermisst habe? Zwanzig Jahre waren wir verheiratet. Zwanzig Jahre Knochenarbeit, von morgens früh bis abends spät. Ab und zu ist ihm die Hand ausgerutscht, und wenn er betrunken war, hat er kein Nein akzeptiert. Dann hieß es Augen zu und an England denken. Unserem Sohn hat er auch früh beigebracht, wo der Bartel den Most holt. Seine Verwandten sind vor dem Mauerbau in alle Welt. Jedes Jahr zu Weihnachten bekommen sie eine Postkarte von uns. Keiner vermisst ihn.«

»Von uns?«

»Von mir. Mit Grüßen von uns beiden. Er hatte es nicht so mit dem Schreiben.«

»Und die Leute hier im Dorf?«

»Er war ja nicht der Erste.«

Sanela zog ihren Stuhl um den Tisch herum und platzierte ihn vor Walburga, bevor sie sich auf ihn setzte.

»Was heißt das?«

»Vor ihm sind schon zwei andere abgehauen. Unser Metzger mit seiner Frau. Und Harald Schmidt. Nicht der Harald Schmidt, der andere eben.«

»Und wo sind die geblieben?«

»Walter und Gisela an der Costa Blanca. Das hab ich doch schon gesagt. Harald ist irgendwas mit Zeitschriftenabos geworden. Keiner weiß genau, wo er jetzt ist. Aber es geht ihm gut. Ab und zu ruft er mal meinen Sohn an, die beiden sind befreundet.«

»Und Ihr Erich? Haben Sie von dem jemals noch etwas gehört?«

»Nein. Aber wir waren nicht so eng miteinander.«

Sanela riss die Augen auf. So eine unglaubliche Geschichte hatte sie noch nie gehört. Und Geschichten, da waren sich alle Kollegen einig, hörten Streifenpolizisten viele. »Sie waren verheiratet. Also muss es doch eine gewisse Nähe gegeben haben.«

»Er hat mich geschlagen! Haben Sie das nicht mitbekommen? Hören Sie eigentlich nicht zu?«

»Doch. Natürlich.«

»Er hat mich verprügelt und an den Haaren ins Bett gezogen. Dann hat er seinen Frust an mir ausgelassen. Mich beschimpft, mich getreten, mich …« Sie zog die Nase hoch. »Er konnte es ja machen. Es war ja keine Straftat.«

Vergewaltigung in der Ehe. Erst seit 2004 ein Offizialdelikt. Mitte der Neunziger musste es ein Tabuthema gewesen sein, vor allem in so einem kleinen Dorf. Sanela war versucht, ihre Hand auf den Arm der geprüften Frau zu legen, aber sie traute sich nicht.

»Es tut mir leid. Wirklich. Trotzdem hätten Sie eine Vermisstenanzeige aufgeben müssen.«

»Natürlich. Sie haben Recht. Aber je länger er weg war, desto absurder wurde die Vorstellung. Und jetzt? Was soll ich denn antworten, wenn der Polizist mich fragt, seit wann Erich Wahl aus Wendisch Bruch vermisst wird?«

»Ich weiß es nicht.« Sanela schüttelte den Kopf. Von so einer absurden Ehe hatte sie noch nie gehört. »Vielleicht, dass es Ihnen jetzt erst aufgefallen ist?«

Plötzlich fing Walburga an zu kichern. Es war ein fast hilfloser Gefühlsausbruch, der die düstere Spannung zerriss. Sie legte den Kopf in den Nacken und kicherte weiter, lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sanela war schockiert, doch etwas an diesem Lachen war so ansteckend, dass Sanela irgendwann, ohne es zu wollen, mit einfiel. Sie schütteten sich aus vor Lachen. Immer wenn Sanela aufhören wollte, brach auch Walburga ab. Dann war ein paar Sekunden Stille, sie sahen sich an und prusteten wieder los.

Ich fasse es nicht, dachte Sanela und rieb sich die Tränen aus den Augen. Wenn das einer auf der Dienststelle mitbekommt, wie ich mit einem Vermissten umgehe … endlich hatte sie sich wieder unter Kontrolle.

»Erst jetzt aufgefallen«, keuchte Walburga schließlich und tupfte sich die Augen ab. Immer noch erschütterten kleine Lachanfälle ihren Busen wie mittlere Erdbeben.

»Ich kann mitkommen«, bot Sanela an. »Vielleicht hilft es ja. Aber wir müssen es melden. Und ich möchte, dass nach allen Männern gesucht wird.«

Abrupt brach die Heiterkeit ab.

»Warum denn das? Das will ich nicht. Ich habe Ihnen die ganze Geschichte im Vertrauen erzählt. Ich will nicht, dass sie die Runde macht und alle denken, ich hätte gequatscht.«

»Worüber denn? Ich habe doch nur gefragt, was aus dem Bäcker, dem Fleischer und seiner Frau, Herrn Schmidt und allen anderen geworden ist.«

»Genau das meine ich. Wir reden nicht darüber.«

Walburga stand auf und räumte die Teller ab. Die Speisereste entsorgte sie in einen grauen Emaileimer. Das Geschirr stellte sie in die Spüle.

»Ich will Ihnen helfen«, sagte Sanela.

Die verlassene Ehefrau, die sich über die Jahre bestens mit ihrem Schicksal arrangiert hatte, quetschte Spülmittel aus einer Plastikflasche ins Wasser. »Nicht nötig. Ich schaffe das schon alleine. Kümmern Sie sich lieber um Ihren Wagen.«

»Sie wollen doch auch, dass ich suche.«

»Ach, da täuschen Sie sich aber gewaltig.« Die Frau schüttelte den Kopf, als hätte Sanela soeben einen etwas seltsamen Witz gemacht.

Sanela setzte sich hinters Steuer und drehte den Schlüssel im Zündschloss. Die Lichter am Armaturenbrett gingen an. Das Radio vermeldete eine lang anhaltende Dürre und die üblichen Klagelieder der Landwirte. Oben auf dem Hügel zog der Trecker mit einer Egge Furchen. Die Staubwolke war rot wie das trockene Land. Schwalben schossen über die frisch aufgeworfene Erde. Es war drückend heiß, die Schwüle wurde beinahe unerträglich. Alle warteten auf den Regen. Sanela schaltete das Radio aus.

Der Drang, den Wagen zu starten und Wendisch Bruch den Rücken zu kehren, war beinahe übermächtig. Sie lehnte den Kopf an die Nackenstütze, schloss die Augen und massierte sich die Schulter. Der Schmerz unter der Narbe pulsierte im Rhythmus ihres Herzschlages. Etwas stimmte nicht. Sie musste nochmal zum Arzt. Das Auto war heiß wie ein Backofen. Sie ließ die Scheibe herunterfahren und beobachtete im Außenspiegel die menschenleere Straße. High Noon in Wendisch Bruch. Fehlten nur noch die fliegenden Büsche oder ein paar alte Zeitungsseiten, dann könnte man hier einen Western drehen. Ein Hund bellte in der Ferne. Noch einer. Ein dritter fiel ein mit einem langgezogenen Heulen.

Sie griff nach ihrem Handy und wählte Gehrings Nummer. Wieder hatte sie nur die Mailbox am Apparat. Ihr fiel auf, wie unfreundlich seine Stimme klang.

»Lutz Gehring. Nachrichten nach dem Pfeifton, ich rufe zurück.«

»Beara«, meldete sie sich. Sie wusste, dass sie ihn mit ihrer Forderung bis zur Weißglut reizen würde, und bemühte sich deshalb um einen neutralen Ton. »Ich möchte Sie bitten, eine Fahndung nach einigen ehemaligen Bewohnern von Wendisch Bruch einzuleiten: Harald Schmidt, nicht der, sondern ein anderer, angeblich mit einer Drückerkolonne unterwegs. Erich Wahl und Gisela und Walter, Nachname unbekannt, er war Fleischer in Wendisch Bruch. Die vier sind seit über fünfzehn Jahren verschwunden. Und …«

Sie verstellte den Außenspiegel eine Winzigkeit nach rechts. Hatte sich am Aussiedlerhof gerade etwas bewegt, oder spielte ihr die flirrende heiße Luft über dem Asphalt eine Fata Morgana vor?

»Und vielleicht könnte man überprüfen, was mit all den Leuten passiert ist, die von hier weggezogen sind. Und sie fragen, warum sie das getan haben. Ob sie einen Grund hatten. Ob der etwas mit Charlotte Rubin zu tun hatte.«

Sie ließ das Handy sinken. Das Gefühl, beobachtet zu werden, war zu deutlich, um noch länger ignoriert zu werden.

»Oder dem Aussiedlerhof.«

Sie legte auf und atmete tief durch. Es war hier. Es wollte gefunden werden.

Ein Windstoß fuhr durch das geöffnete Fenster und streifte ihren schweißfeuchten Nacken. Sie fröstelte. Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob sie es auch finden wollte. Sie griff nach dem Autoschlüssel. Als sie ihn weiter nach rechts drehte, spürte sie den Widerstand. Noch etwas mehr Druck, eine winzige Handbewegung, der Motor würde anspringen, sie könnte den ersten Gang einlegen und langsam die Straße hinunterrollen. In einer Stunde wäre sie in Berlin.

Stattdessen zog sie den Schlüssel aus dem Schloss und stieg aus. Sie war versucht, zu Walburga zu gehen und ihr zu sagen, was sie vorhatte. Dann ließ sie es bleiben. Sie drehte sich um und lief die glutheiße Straße hinunter.

Das Dorf der Mörder
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