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Gehring trank einen Schluck Holunderblütensirup mit Wasser. Auf dem Küchentisch lag Sanela Bearas T-Shirt. Walburga Wahl, immer noch auf ihrem Stuhl wie festgeklebt – wahrscheinlich war sie das auch, alles klebte, sogar sein Hemd, seine Hände, seine Schuhsohlen auf dem Boden –, übte sich weiterhin im Leugnen.

»Ich weiß nicht, wo sie ist.«

»Die Kollegen aus Jüterbog werden gleich hier sein. Wir werden Ihr ganzes Haus auf den Kopf stellen, wenn es sein muss. Wo ist sie?«

Den Wagen hatte ihm Walburga bereitwillig gezeigt. Er stand in einem Schuppen, der den Garten nach Westen hin zu der Ruine des Nachbarhauses abgrenzte. Mit dem T-Shirt hatte sich jedes weitere Abstreiten erübrigt. Sanela Bearas Tasche, ein Modell aus Segeltuch mit einem Riemen zum Umhängen, hatte noch auf dem Beifahrersitz gelegen. Ihren Inhalt hatte Gehring auf der Arbeitsfläche neben der Spüle verstreut. Sie hatte noch nicht einmal ihr Handy und ihren Dienstausweis bei sich. Alles sprach für ein plötzliches, keinesfalls geplantes Verschwinden Bearas.

»Sie ist weggegangen und nicht wiedergekommen.«

Er hielt Walburga die kleine gelbe Karte mit dem Logo der Berliner Polizei und Sanelas Foto unter die Nase.

»Ohne ihren Dienstausweis?«

»Ich nehme doch auch nicht meine Papiere mit, wenn ich in den Garten gehe.«

»Sie ist aber nicht im Garten!«, brüllte Gehring. Langsam war Schluss mit lustig. Er hatte Lügen und Taktieren bei Verdächtigen immer als persönliche Kränkung aufgefasst. Geradezu als Affront, als ob man ihn unter Wert einschätzte. Er wünschte sich Gegner, die ihm gewachsen waren. Die er mit Klugheit knacken konnte. Wahrscheinlich, um sich selbst hinterher als Sieger zu sehen. Darum ging es doch letzten Endes. Sieger zu sein. Die einen glaubten an das Gute, die anderen an den Sieg. Das Gute würde nie gewinnen. Es war Teil dieser Welt wie das Böse. Er sah durchs Fenster auf das vertrocknete Gras und das Laub vom Vorjahr, das immer noch unter den Bäumen lag. Vielleicht war die Welt wie ein Garten, und jeder gute Gärtner wusste, dass der Kampf gegen das Unkraut nie aufhören würde. Er riss sich los von dem traurigen Anblick ihrer Wäsche auf der Leine und wandte sich wieder Walburga zu.

»Sie ist seit sechsunddreißig Stunden verschwunden.«

»Sie wird schon wieder auftauchen.« Sie sah auf ihre Hände, die ein Papiertaschentuch unruhig in kleine Fetzen zupften.

»So wie Ihr Mann, Erich?«

Ihr Kopf ruckte hoch. »Was hat der denn damit zu tun?«

Von Schwab war immer noch keine Nachricht gekommen. Das verhieß nichts Gutes. Wahrscheinlich hatte der Staatsanwalt sie erst zwei Stunden warten lassen, bis er sich vom Golfplatz in sein Büro bequemt und sich dann die Zusammenfassung der unwahrscheinlichsten Mordserie des noch jungen Jahrhunderts in aller Ausführlichkeit hatte darlegen lassen, um sie anschließend wieder nach Hause zu schicken. Wenigstens hätte sie sich zwischendurch melden können. Er war allein. Allein in einem Dorf, in dem eine Kollegin verschwunden war und in dem sich eine Reihe ungeklärter Vorfälle ereignet hatte. Der Anblick des Fliegenfängers irritierte ihn. Er bevorzugte eine zusammengefaltete Zeitung.

»Er ist weggegangen, als ein Päckchen Zigaretten noch zwei Mark kostete. Das hat Frau Beara mir noch mitteilen können. Und das ist nicht das Einzige, was ich von ihr erfahren habe.«

»Was denn noch?«

»Das möchte ich gerne von Ihnen wissen. Es würde Ihnen vor Gericht helfen, wenn Sie kooperieren.«

Sie atmete heftiger. Ihr gewaltiger Busen hob und senkte sich. »Ich habe nichts Unrechtes getan. Im Gegenteil. Ich habe Ihrer Kollegin sogar das Bett bezogen. Wir haben zusammen gekocht und gegessen, sie ist eine sehr sympathische Frau.«

Lüg du nur, dachte Gehring. Sympathisch ist das letzte Attribut, das einem beim Gedanken an Beara in den Sinn kommt.

»Und dann?«

»Fragen Sie doch Esther. Mit der hat sie auch gesprochen, in der Kirche.«

»Wer ist Esther?«

»Die Dorfälteste. Sie wohnt schräg gegenüber.«

»Ist das auch eine Frau ohne Mann?«

»Herrgott!« Sie wollte mit der Hand auf den Tisch schlagen, hielt sich aber in letzter Sekunde zurück. »Muss man sich jetzt auch noch wegen seiner Lebensweise rechtfertigen?«

»Nur, wenn diese Lebensweise auf Kosten anderer geht.«

Sein Handy vibrierte. Endlich. Er sprang auf und ging hinaus in den Flur, um die Nachricht zu lesen. Schwab.

Rütter will Beweise. Personenstandsabfrage Wahl, Walburga: verheiratet mit Erich seit 1975. Ein Sohn, Marten, *1977. Anruf Prof. Brock. Thema Ich habe keine Schwestern mehr (O-Ton Rubin) RR dringend.

Gehring klappte das Handy zu. Mit Brock, dem etwas verwirrt klingenden Professor, konnte er im Moment nichts anfangen. Aber mit Marten Wahl. Der Name war weder auf der Liste der Auswanderer noch auf der der Vermissten aufgetaucht. Er kehrte zu Walburga zurück. Sie blickte ihn so hoffnungsvoll aus ihren kleinen Augen an, dass er beinahe Mitgefühl mit ihr bekam.

»Frau Wahl. Wo ist Ihr Sohn?«

Das Dorf der Mörder
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