31

Lutz Gehring entschied sich, nicht auch noch am Freitagabend ins Fitnessstudio zu gehen, sondern das Wochenende in einer Sportbar in der Nähe seiner Wohnung einzuläuten, konnte sich aber nicht richtig auf die Übertragung des Fußballspiels konzentrieren. Nach dem dritten Bier hatte sich genug Ärger in ihm angestaut, dass er sein Handy herauszog. Immer noch keine Nachricht von Beara.

Ein fünftes Mal anrufen? Das war absurd. Was zum Teufel hielt sie davon ab, wenigstens einen kurzen Blick auf ihr Telefon zu werfen? Sie war es, die genervt hatte. Sie war es, die verlangt hatte, den ganzen Fall Rubin noch einmal aufzurollen. Vielleicht hatte sie aber auch festgestellt, dass ihre Vermutungen doch zu weit hergeholt waren, und traute sich nicht, das zuzugeben. Und er machte sich zum Idioten bei Leuten wie der Schwab. Im Geiste schrieb er wütende E-Mails, die jeder Hochschule davon abrieten, Sanela Beara auch nur in die Nähe des Haupteinganges kommen zu lassen.

Er schob das Handy zurück in seine Hosentasche. In diesem Moment klingelte es, und da er Mühe hatte, es aus der Enge wieder herauszufummeln, achtete er nicht auf die Nummer des Anrufers.

»Ja?«, bellte er, weil laute, kurze Worte das Beste gegen alkoholbedingtes Nuscheln waren.

»Vieritz mein Name. Das ist doch die Nummer von Kommissar Gehring?«

»Ja.« Vieritz. Er überlegte. – Vieritz! »Was kann ich für Sie tun? Einen Moment, bitte.«

Er stand auf und ging vor die Tür, nicht ohne sein Bier mit nach draußen zu nehmen. Einer der Tische auf dem Gehweg war noch frei. Er setzte sich. Holla die Waldfee, hatte er einen im Tee …

»Jetz könn’ wir reden. Habn Sie was rausgefunden?«

»Ja. Tut mir leid, dass ich Sie noch störe. Ist ja schon Wochenende eigentlich. Unsere Sonja. Ist schon seit Ewigkeiten bei uns. Hat schon für meinen Vater gearbeitet. Immer korrekt, immer präzise. Ohne die läuft der Laden nicht.«

Gehring trank sein Bier, während Vieritz sich weiter über Sonjas Sonnenseiten ausließ. Ein Wunder in der Buchhaltung, eine strenge Mahnerin in allen Steuerangelegenheiten. Hüterin der Fahrtenbücher und der Portokasse. Und des Kellerschlüssels.

»Da unten bewahrt sie tatsächlich all die alten Kisten auf. Hätte ich ja nicht gedacht. Wusste gar nicht, was da drin ist. Aber weil Sie so wichtig geklungen haben und wir der Polizei immer gerne einen Gefallen tun, ist sie heute Nachmittag runter.«

Gehring war gespannt, welchen Gefallen Vieritz im Gegenzug von der Polizei erwartete.

»Und?«, fragte er. »Wurde Sonja fündig?«

»Ja. Neunzehnhunderteinundneunzig waren Leyendecker und Göhler in Wendisch Bruch. In einem Hotel Zur Linde. Da haben sie übernachtet. Gab’s da die D-Mark schon? Ja? Nich? Oder?«

Gehring war mit dieser Frage eindeutig überfordert. Vieritz gab die Antwort selbst.

»Gab es schon. Achtundzwanzig D-Mark pro Einzelzimmer. Preise waren das mal, da darf man gar nicht drüber nachdenken. Die Quittung kann ich Ihnen zuschicken. Gegessen haben sie auch, Soljanka und Schweinebraten mit Rotkohl. Brauchen Sie das alles?«

»Neunzehnhunderteinundneunzig?« Gehring nahm einen Bierdeckel, schrieb die Zahlen darauf und versuchte, die Daten irgendwie zusammenzubekommen. Wie alt mochte Rubin damals gewesen sein? Zwölf? Dreizehn? Das passte doch vorne und hinten nicht zusammen.

»Kein Irrtum?«, fragte er.

»Wenn ich es sage, ich hab’s ja schwarz auf weiß.«

»Und der Unfall mit Herrn Göhler ereignete sich nochmal?«

»Winter fünfundneunzig auf sechsundneunzig.«

Da musste Rubin siebzehn Jahre alt gewesen sein und Wendisch Bruch längst verlassen haben. Sie hatte eine Ausbildung begonnen, sich die erste eigene Wohnung gemietet. Brachte man da ausgewachsene Landmaschinenvertreter mit einer Ladung Gülle um die Ecke?

»Vier Jahre danach.« Was war in diesen vier Jahren geschehen?

»Wie meinen?«

»Danke, Herr Vieritz. Sie haben uns sehr geholfen. Wenn Sie die Belege bitte beim LKA Schwerin abgeben könnten? Oder macht es Ihnen zu viel Mühe, sie mir direkt zuzusenden?«

»Nein, Meister. Überhaupt nicht. Wird sofort erledigt. – Ach, Herr Kommissar. Ich hätte da mal noch eine Frage.«

Gehring unterdrückte ein Seufzen und wappnete sich. »Ja?«

»Also, meine Punkte, neune sind es jetzt. Und Sie wissen doch, wir sind auf den Führerschein angewiesen …«

»Das kostet, Herr Vieritz.«

»Ach so, ja. Also was kann ich Ihnen denn so anbieten?«

»Nicht mir. Dem Richter, wenn Sie das nächste Mal verdonnert werden. Weisen Sie nach, dass Ihre Existenz und damit einige Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen, und man kann die Punkte in eine Geldstrafe umwandeln.«

»Das geht?«

»Das geht. Rufen Sie mich an, wenn’s so weit ist.«

Vieritz verabschiedete sich wortreich und dankbar. Wahrscheinlich glaubte er, Gehrings Arm würde bis nach Flensburg reichen.

Der Kommissar stand auf und ging zurück in die Kneipe. Mit einem neuen Bier kam er wieder heraus, die Luft war dort einfach besser. Er ließ sich noch einmal durch den Kopf gehen, was Vieritz ihm erzählt hatte.

Leyendecker und sein Kompagnon Göhler waren tatsächlich in Wendisch Bruch gewesen, dem Heimatdorf von Charlotte Rubin. Damals war sie ein dreizehnjähriges Mädchen gewesen. Vier Jahre später stirbt der eine, über zwanzig Jahre später der andere. Und dazwischen verschwanden die Männer von Wendisch Bruch.

Erst auf dem Nachhauseweg wurden ihm zwei Dinge klar: Das war kein Zufall. Und Beara hätte sich, komme, was wolle, schon längst gemeldet.

Das Dorf der Mörder
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