20

Irgendjemand hatte das Ortsschild angefahren und anschließend versucht, es wieder geradezubiegen.

»Wendisch Bruch«, murmelte Sanela und ließ ihren Wagen am Straßenrand ausrollen. Ihr Navigationsgerät wollte sie weiter in die Ortsmitte lotsen, aber für diese öde Ansammlung von drei Dutzend Häusern und Höfen brauchte sie es nicht mehr.

Es war mörderisch heiß. Weit entfernt auf einer Anhöhe fuhr ein Traktor und blies eine gelbe Staubwolke in die Luft. Die Ernte reifte heran, und noch bevor sie eingefahren sein würde, wäre Charlotte Rubin eine verurteilte Mörderin.

Sanela stieg aus. Das T-Shirt klebte an ihrem Leib. Sie hob den Saum und fächelte ihrem Bauch etwas Kühlung zu. Dabei prägte sie sich die Lage der Gebäude ein. Zur Linken erstreckte sich eine Art Aussiedlerhof. Das Hauptgebäude war ein heruntergekommenes Haus mit grauem Putz, an das lange Baracken angebaut worden waren. Sanela vermutete Viehzucht und hoffte, dass die Lüftung funktionierte. Unkraut wucherte, wo der Beton auf dem Hof rissig geworden war. Die Fenster waren blind vor Schmutz. Keine Menschenseele war zu sehen. Die Stille lastete über dem Anwesen, und Sanela begriff, als sie die Anzeichen der Verwahrlosung zusammenzählte, dass es schon lange aufgegeben worden sein musste.

Rechts führte ein schmaler Feldweg in die Äcker. Hinter dem Ortsschild reihten sich entlang der Straße die wenigen Häuser auf. Da ihr Wagen mit dem Berliner Nummernschild auffallen würde, egal ob sie ihn vor oder hinter dem schiefen Ortsschild stehen lassen würde, stieg sie wieder ein.

Langsam rollte sie die Hauptstraße entlang und fragte sich, ob dieser Ort das Risiko wert war, das sie gerade einging. Wenn Gehring mitbekam, wo sie war, würde er ihr den Kopf abreißen.

Andererseits konnte sie in ihrer Freizeit natürlich machen, was sie wollte. Gut, der Begriff Freizeit war dehnbar. Sie hatte sich wegen der Schmerzen in ihrer Schulter krankschreiben lassen. Das war noch nicht einmal gelogen, denn die Beschwerden dauerten an, vielleicht auch deshalb, weil sie die Physiotherapie übertrieben hatte. Sie beruhigte den Anflug von schlechtem Gewissen damit, dass dieser Tag, egal wie sie ihn verbrachte, ihrer Genesung dienen würde. Landluft sollte ja bei so ziemlich allem helfen.

Das Dorf schien wie ausgestorben. Einige Häuser sahen so aus, als wären sie nicht mehr bewohnt. Eingefallene Zäune, unbeschnittene Hecken, zugewachsene Eingänge. An der Kreuzung in der Ortsmitte hatte es vor langer Zeit einmal Geschäfte gegeben. Auf den grauen Hauswänden, von denen sich schon große Placken Putz gelöst hatten, verblichen die Buchstaben. Früher hatten sie einmal die Worte Bäckerei und Fleischerei gebildet. Sogar ein Wirtshaus hatte es gegeben. »Zur Linde«, entzifferte Sanela und hätte schwören können, dass die alten Bäume davor Kastanien waren.

Sie hielt an und stellte den Motor ab. Ihre erste Aufgabe würde sein, Überlebende dieser stillen Katastrophe zu finden, die sich hier ereignet haben musste. Etwas war mit Wendisch Bruch geschehen. Vielleicht lag es an dem viel beschworenen demographischen Wandel – keine Arbeit für junge Leute, Wegzug, Verödung ganzer Landstriche. Es war eines dieser reizlosen Dörfer, die man sehr lieben musste, um es dort noch auszuhalten. Im Rückspiegel entdeckte sie eine alte Frau mit einem Stock, die fünfzig Meter hinter ihr die Straße überquerte, in der Mitte stehen blieb und die Hand über die Augen legte, um sich kein Detail ihres Autos entgehen zu lassen. Noch bevor Sanela den Entschluss fassen konnte, sie anzusprechen, schlurfte die Frau weiter.

Dann eben nicht, dachte sie. Mit einem Seufzen stieg sie aus und ging auf die geschlossene Tür des Gasthauses zu. Sie klopfte, aber nichts regte sich.

»Hallo? Ist da jemand?«

Sie drehte sich um. Die alte Frau war wie vom Erdboden verschluckt. Die Stille über dem Dorf war beinahe unheimlich. Sie trat einige Schritte zurück und sah die Fassade hoch. Es musste einmal ein hübsches Haus gewesen sein, vor langer Zeit. Erbaut in der Sommerhausarchitektur der dreißiger Jahre, mit Fensterläden aus Holz und einem gemütlichen, tiefgezogenen Dach. Auf der linken Seite des Grundstücks hatte jemand vor langer Zeit einen Biergarten angelegt. Noch immer spendeten die dicht belaubten Baumkronen Schatten, aber aus dem Kies spross das Unkraut, und einige verrostete Gartenstühle lehnten an der Hauswand. Sanela wartete nicht darauf, dass jemand kommen und ihr öffnen würde. Sie betrat das Grundstück und umrundete das Haus. Weiter hinten, zwischen einem Abstellschuppen neueren Datums und einem leeren, von der Sonne ausgebleichten Kinderplanschbecken aus billigem Kunststoff, hing Bettwäsche auf einer Leine. Zwischen den weißen Laken bewegte sich ein Schatten.

»Guten Tag. Entschuldigen Sie die Störung …«

Der Hund war groß wie ein Kalb und stürzte ohne Vorwarnung auf Sanela zu. Mit lautem Bellen und gefletschten Zähnen tanzte er um sie herum. Das Grollen aus seiner Kehle klang, als ob er schon lange auf so eine Gelegenheit gewartet hätte. Er musste uralt sein, mit grauen Lefzen und gelben Augen – und, leider, noch allen Zähnen.

»Ruhig«, stammelte sie. »Ganz ruhig.«

Man soll Hunden nicht in die Augen sehen, das macht sie aggressiv. Aber auch ohne Blickkontakt beruhigte sich das Vieh nicht. Sanela nahm sich vor, Wendisch Bruch auf der Stelle zu verlassen, wenn sie lebend aus dieser Situation herauskam.

»Hallo?« Ihre Stimme zitterte. Der Hund war wohl eine Mischung aus Labrador und Dogge, sein Fell graubraun gefleckt. Irgendwo auf der anderen Straßenseite musste es einen weiteren Hund geben, den dieses Mistvieh gerade alarmiert hatte. Sie hörte, wie er wütend und angriffslustig bellte. Noch mehr Hunde wachten auf. Das Dorf schien lebendig zu werden und ausschließlich von Vierbeinern bewohnt zu sein.

»Aus. Bruno!«

Das Betttuch wurde zur Seite geschlagen. Eine mollige Frau, vielleicht Anfang sechzig, kam unwillig, mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugier, auf den ungebetenen Besucher zu. Sie trug einen ausgewaschenen Baumwollkittel. Ihr rundes Gesicht war von der Hitze gerötet, aber nicht gebräunt. Vermutlich hielt sie sich den ganzen Tag im Haus auf. Ihre Haare sahen aus, als würde sie sie sich selbst schneiden. Sie waren dünn, hellbraun, von grauen Strähnen durchzogen und klebten schweißnass an Stirn und Schläfen. Sie gab sich alle Mühe, abweisend und unfreundlich zu wirken. Dabei musste sie in einem früheren Leben einmal eine niedliche Person gewesen sein, die Fremde durchaus willkommen geheißen hatte, denn die Neugier blitzte aus ihren kleinen Augen.

Bruno hörte augenblicklich auf zu bellen und verwandelte sich vor Sanelas Augen in ein liebenswürdiges Unschuldslamm, das neugierig an ihren Schuhen schnupperte. Sie versuchte, tief durchzuatmen.

»Ja?«

»Mein Wagen … ich fürchte, die Kühlung hat gerade den Geist aufgegeben. Gibt es hier irgendwo eine Werkstatt?«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Nein. Schon lange nicht mehr.«

»Dann muss ich ihn abschleppen lassen. Gibt es hier jemanden, der das macht?«

»Schon lange nicht mehr.«

Sanela lächelte verstehend. »Verstehe. Es ist ein bisschen einsam hier, nicht?«

Die Frau gab keine Antwort, verschränkte aber die Arme vor ihrer üppigen Brust und schien nichts dagegen zu haben, wenn dies nun das Ende der Unterhaltung gewesen wäre. Auch Bruno richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf und schien bereit, sich auf Kommando wieder in eine Bestie zu verwandeln.

»Kann ich bei Ihnen etwas zu trinken bekommen? Es ist so heiß.«

»Nein. Schon lange nicht mehr.«

Die Frau drehte sich um und wollte zu ihrer Wäsche zurück.

»Ich bezahle auch«, sagte Sanela schnell und wollte einen Schritt machen. Das leise Grollen aus Brunos Kehle hielt sie davon ab. »Es tut mir leid, wenn ich Sie störe. Aber das ist ein Notfall. Sie waren doch mal ein Gasthaus. Also, ich meine, das hier war doch mal so was in der Richtung.«

»Schon lange nicht mehr.«

»Ja«, erwiderte Sanela etwas gereizt. »Aber bis der Abschleppdienst hier ist, vergehen mindestens zwei Stunden. Bis dahin bin ich tot.«

»Na, nun übertreiben Sie mal nicht.«

»Ein Glas Wasser? Bitte. Ich helfe Ihnen auch bei der Wäsche.«

Die Frau schüttelte ärgerlich den Kopf und lief in einem seltsam wiegenden Gang auf den Hintereingang des Hauses zu.

»Kommen Sie rein«, warf sie Sanela über die Schulter zu. Bruno stand immer noch im Weg.

»Du hast es gehört«, zischte Sanela. »Also lass mich durch.«

Bruno senkte den Kopf und trottete zurück zu der Bettwäsche.

Das Innere des Hauses war dunkel, kühl und feucht. Ein kleiner Flur mit abgetretenen Steinfliesen führte in die Küche, die nach der Schließung des Gasthauses offenbar nicht mehr renoviert worden war. Einfache, schlichte Wandschränke in Pastellblau und ein großer Tisch in der Mitte mit einer lange nicht abgewischten Wachsdecke, an dem sich wohl das gesamte, nicht sehr aufregende Leben abspielte, machten sie wohnlich. Die Frau schob Lesebrille, Kartoffeln, Supermarkt- und Gartencenterprospekte und eine Menge Rechnungen zur Seite und bot Sanela einen Stuhl an.

»Danke«, sagte sie und setzte sich. »Leben Sie allein hier?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

Die ehemalige Wirtin ließ sie nicht aus den Augen, während sie ein Glas aus dem Hängeschrank holte und Wasser hineinlaufen ließ.

»Das Dorf kommt mir vor wie ausgestorben.«

»Das ist es auch bald. Wir sind die letzten acht.«

Sie stellte das Glas vor Sanela ab.

»Hier wohnen nur noch acht Leute?«

»Ja.«

»Das ist ja gruselig.«

Erst denken, dann reden. Sanela entging nicht, wie das Gesicht der Frau sich bei ihren letzten Worten wieder verschlossen hatte.

»Alleine das Einkaufen, meine ich. Wieso leben nur noch so wenige hier?«

»Schauen Sie sich doch um. Wer kommt denn freiwillig in diese gottverlassene Gegend?«

»Ich.«

»Weil Ihr Auto den Geist aufgegeben hat. Ab und zu kommen entkräftete Radfahrer vorbei, die ihre Karten nicht richtig lesen konnten. Aber sonst ist das eins der Dörfer, die in ein paar Jahren vom Erdboden verschwunden sind.«

»Das war doch nicht immer so. In Ihrem Gasthaus haben doch Leute gegessen und getrunken. Es gab einen Bäcker, einen Fleischer.«

»Einen Konsum, eine Grundschule, eine LPG, mehrere Höfe, und wenn Sie Wendisch Bruch wieder verlassen, kommen Sie an der Feldsteinkirche vorbei. Aber der letzte Pfarrer, den wir hatten, ist vor ein paar Jahren in Rente. Und ein neuer kommt nicht für acht Schäfchen. Obwohl ich das in der Bibel mal anders gelesen habe.«

»Was hat denn diesen Exodus verursacht?«

Ihre unfreiwillige Gastgeberin ging ans Fenster. Sie sah in den Garten, wo ein leichter, sanfter Wind die Bettlaken blähte wie Segel. »Keine Kinder.«

»Oh. Schade.« Sanela trank die Hälfte ihres Wassers und überlegte, wie lange sie mit dem Rest haushalten konnte, bevor sie wieder hinausgeworfen wurde in die Gluthitze und die Einsamkeit, vor der selbst der liebe Gott kapituliert hatte. »Schade um das schöne Haus. Es gefällt mir.«

»Wollen Sie es kaufen?«

»Würden Sie es denn hergeben?«

Die Frau drehte sich um und schlurfte zu Sanela an den Tisch. Mit einem leisen Stöhnen setzte sie sich. »Lieber heute als morgen. Aber hier zieht doch keiner mehr her. Letztes Jahr haben sie sogar die Buslinie eingestellt.«

»Haben Sie kein Auto?«

»Nein. Schon lange nicht mehr.«

Mehrere junge Fliegen tanzten unter der Küchenlampe. Das Schweigen dehnte sich aus. Sanela trank ihr Glas leer, stand auf und ging an die Spüle.

»Darf ich?«

Die Frau nickte.

»Ich heiße übrigens Sanela Beara.«

Wie jedes Mal, wenn sie ihren Namen sagte, rechnete sie mit einer Reaktion. Aber ihr Gegenüber zuckte nur mit den Schultern.

»Mich hat meine Mutter Walburga genannt. Dagegen kommt man nicht an.«

»Stimmt.«

»Und dann heirate ich auch noch einen Wahl. Erich Wahl. Mit h. Aber das spricht natürlich keiner aus.« Sie schnaufte. Walburga, der Wal. Das war ja fast genauso schlimm wie Sanela, die Margarine. »Aber wer achtet schon auf so was, wenn man jung ist und verliebt.«

Sanela füllte das Glas mit Wasser und blieb an die Spüle gelehnt stehen.

»Was ist aus ihm geworden?«

»Er ist … gegangen.« Walburga Wahl blinzelte und rieb sich dann schnell über die Augen. »Das ist schon lange her, fast zwanzig Jahre. Ich habe danach versucht, das Haus weiterzuführen. Aber irgendwann ging es nicht mehr. Man muss wissen, wann Schluss ist.«

»Das tut mir leid.«

»Muss es nicht, junge Frau. Das ist ja nicht Ihr Problem. Wollen Sie nicht den Abschleppdienst anrufen?«

»Oh, ja.« Sanela wühlte in ihrer Handtasche, holte das Handy heraus und ging in den Flur. Der toten Leitung erklärte sie in epischer Breite, wo sie gestrandet war und welches Problem sie in ihrem altersschwachen Jetta vermutete. Als sie der Meinung war, dass Walburga Wahl genug gehört hatte, kehrte sie wieder zurück.

»Wie ich vermutet habe. Sie brauchen mindestens zwei Stunden. Wäre es sehr ungelegen, wenn ich hier warten würde?«

»Aber gar nicht.« Sie hatte sich wieder gefasst und lächelte sogar. »Das ist fast so, als hätte man wieder einen Gast.«

Offenbar hatte sie den richtigen Ton getroffen. Es musste sehr einsam sein in diesem leeren Haus und dem wie ausgestorben wirkenden Dorf. Sanela beglückwünschte sich zu ihrem Einfall mit dem kaputten Auto. Er gab Walburga die Gelegenheit, jemanden willkommen zu heißen, ohne Gefahr zu laufen, ihn nicht wieder loszuwerden.

Gemeinsam hängten sie die Wäsche ab und legten sie zusammen. Anschließend setzten sie sich in den Garten und tranken Wasser mit Holundersirup, und Walburga verkündete das Ende des Waschtages, der Rest musste warten, denn: »Es sind ja Gäste da!«

Walburga lächelte so verschmitzt, dass Sanela an ihrem Glas roch. Sirup und Wasser, nicht mehr. Offenbar machte allein ihr Auftauchen die Leute hier beschwipst. Als die zwei Stunden vergangen waren, tat Sanela noch einmal, als ob sie telefonieren würde, und schmückte die fiktive Absage des Abschleppdienstes noch mit einem Auffahrunfall auf der A13 Richtung Dresden aus.

»Wo denn?«, fragte Walburga neugierig.

Sanela hatte keine Ahnung.

»Wahrscheinlich Richtung Tschechien«, gab die Lindenwirtin sich selbst die Antwort. »Da kracht es immer wieder.«

Sanela zog den Krug zu sich heran und schenkte sich nochmal ein.

»Dann werde ich es mir wohl im Auto gemütlich machen müssen. Hier ist ja nichts weit und breit. So habe ich mir meine Urlaubstage nicht vorgestellt.«

»Sie machen hier Urlaub?«

»Ja. Ich hatte eine Menge Stress in letzter Zeit. Und für Mallorca reicht das Geld nicht. Ich dachte an Radfahren und Wandern.« Beschäftigungen, die in Sanelas Freizeitranking auf den letzten Plätzen lagen.

»Acht Kilometer weiter, in Jüterbog, finden Sie was. Die verleihen auch Räder, glaube ich.«

»Dann ruf ich mir mal ein Taxi. Gibt es hier eins in der Nähe?«

»Schon lange nicht mehr.«

Doch Sanela rief nicht an, sie wartete. Und tatsächlich dauerte es keine zwei Minuten, bis Walburga das Schweigen brach und den erlösenden Satz sagte: »Dann schlafen Sie halt hier.«

»Hier? Geht das denn?«

»Das war mal ein Gasthaus. Da werden wir doch wohl noch ein Zimmer für Sie finden. Wenn Sie mir mit dem Bettenbeziehen helfen? Ich bin nicht mehr so fix wie früher.«

»Selbstverständlich. Und ich bezahle das natürlich auch.«

»Schon gut. Nichts da.«

»Dann will ich wenigstens etwas kochen. Darf ich?«

Die Antwort war ein noch nicht ganz überzeugtes Brummen. Sanela ließ ihren Blick über das Grundstück wandern, die Wäscheleine und eine wild wuchernde Wiese, die in dürre Brombeerhecken überging. Dahinter mussten die Felder liegen. Bruno hatte sich zu Walburgas Füßen niedergelassen und besabberte die alten Turnschuhe, die sie trug.

»Als ich herkam, habe ich einen Traktor gesehen. Die Felder werden noch bestellt.«

»Im Nachbardorf, ja. Hier gibt’s das schon lange nicht mehr. Lohnt sich nicht. Mittlerweile zahlt Brüssel ja dafür, dass sie ihre Milch wegschütten und den Raps zu Benzin verarbeiten. Eine Sünde ist das, wenn Sie mich fragen.«

Das hatte Sanela zwar nicht getan, aber sie gab Walburga Recht.

»Da steht Schnittlauch«, sagte sie plötzlich. »Er blüht ja schon! Das sieht hübsch aus. Gab es hier mal einen Küchengarten?«

»Hier gab es alles.«

Sanela sprang auf und lief in die Ecke des vernachlässigten Gartens. Violette, runde Blüten auf saftig grünen Stängeln strotzten mit anderen robusten Gewächsen, die auch ohne die ordnende Hand eines Gärtners zurechtkamen, um die Wette: Rhabarber, Zucchini, hochgeschossener Blattsalat, grüne, noch nicht ganz reife Stachelbeeren.

»Borretsch!«, rief sie. »Und Dill!«

Sie lief weiter durch Disteln und kratzende Brombeerranken und blieb am Ende des Gartens mit einem verzückten Aufschrei stehen. »Und Apfelbäume!«

Eine alte Streuobstwiese lag am Fuß eines sanft geschwungenen Hügels. Schief, krumm und knorrig ragten die Stämme aus dem beinahe hüfthohen Gras und erinnerten Sanela an die Obstbäume ihrer Kindheit. Kirschen, Pfirsiche, Aprikosen … der Sommer war ein Fest gewesen. Manchmal glaubte sie noch, seinen Duft zu riechen. Wenn ihr Kollege Sven eine Tüte Schaumzuckererdbeeren im Wagen öffnete, stiegen ihr die künstlichen Aromen in die Nase, betäubend, überwältigend, zu echt, um wahr zu sein. Aber so hatten die Erdbeeren in der Küche ihrer Mutter gerochen, wenn sie Marmelade und Kompott kochte. Sie hatte bis heute nicht verstanden, warum die Früchte im Supermarkt sauer rochen und nach Holzwolle schmeckten und die bunten Süßigkeiten dufteten wie die echten Erdbeeren, die man kurz nach dem Pflücken essen musste, weil sie sonst noch in der Hand zu blutrotem, zuckersüßem Matsch zerliefen.

Am Ende der Wiese standen die Pflaumenbäume. Sie wurden nicht mehr abgeerntet. Ihre Früchte fielen zu Boden, ein Festmahl für Wespen und Vögel. Sanela pflückte sich eine Handvoll der überreifen dunkelvioletten Pflaumen und stieg den Hügel hinauf. Oben angekommen, setzte sie sich ins Gras und biss in die erste Frucht. Sie war prall und süß und warm von der Sonne. Sie würde fragen, ob sie sich welche mitnehmen durfte. In anderen Dörfern stellten die Leute Körbe mit Obst und Gemüse vor die Tür, und jeder konnte sich bedienen, einfach mitnehmen, so viel er wollte, und einen Obolus in die »Kasse des Vertrauens« werfen. In Wendisch Bruch verrotteten die Pflaumen an den Bäumen. Wahrscheinlich kamen zu wenig Leute.

Sie legte schützend die Hand über die Augen und suchte den Traktor. Die gelbe Staubwolke hatte sich gelegt, das Fahrzeug war verschwunden. Die Felder lagen nebeneinander wie riesige Handtücher. Flachs, Raps, Mais, Weizen. Dazwischen ragten wie Inseln immer wieder kleine Baumgruppen in den Himmel. Es war ein schönes Land. Sanft, in gedämpften Farben, nicht spektakulär wie die Alpen oder die Nordsee, dafür streichelte es die Seele. Vielleicht ein wenig einsam, aber Städter mochten das doch. Was lief falsch in Wendisch Bruch?

Von ihrem Ausblick aus konnte Sanela das Dorf überblicken. Der Zustand einiger Dächer verriet, dass die Häuser von den Besitzern aufgegeben worden waren. Acht Menschen lebten noch dort unten. Sanela zählte die Häuser, es waren über dreißig. Sie fragte sich, in welchem Charlotte Rubin groß geworden war. Vielleicht in dem kleinen, das fast ganz mit Efeu überwuchert war? Oder in einem der drei neueren Bauten am Ortsausgang? Auf dem Hof? Ein Aussiedlerhof. Er war das hässlichste von allen Gebäuden Wendisch Bruchs.

Sie presste den letzten Pflaumenkern zwischen Daumen und Zeigefinger und schoss ihn auf eine diebische Krähe ab, für die Walburgas Obstgarten das Paradies sein musste. Natürlich verfehlte sie den Vogel.

Auf dem Rückweg nahm sie so viele Pflaumen mit, wie sie tragen konnte. Ihre Wirtin hatte den Garten verlassen und stand bereits, eine Halbschürze um die ausladenden Hüften gebunden, in der Küche. Auf dem Herd stand ein großer Topf mit Wasser. Die Kartoffeln lagen in der Spüle. Sanela legte die Pflaumen dazu und brauste sie ab.

»Das wird unser Nachtisch«, sagte sie. »Kroatische Pflaumenbuchteln. Haben Sie Eier, Mehl und Hefe?«

Walburga wies auf eine niedrige Tür neben dem Herd, die Speisekammer. Sanela fand alles, was sie brauchte, und wenig später hatte sie den Teig zubereitet und begann, die entsteinten Pflaumen gemeinsam mit Zucker in einer Eisenpfanne zu karamellisieren. Fenster und Türen im Erdgeschoss waren geöffnet, durch sie strich die warme Luft von draußen herein und begann, die Kälte aus dem dunklen Erdgeschoss zu vertreiben. Walburga hatte ein halbes gefrorenes Kaninchen aus dem Keller geholt.

»Wird hier gejagt?«

Sanela erwartete eine Antwort in Richtung »Schon lange nicht mehr«, aber Walburga, die den Braten in der Mikrowelle aufgetaut hatte und nun in einer Kasserolle mit Gartenkräutern und Kartoffeln arrangierte, brummte nur: »Natürlich.«

Sanela rüttelte die Pfanne und achtete darauf, dass weder Zucker noch Pflaumen anbrannten.

»Wie leben Sie hier? Es muss doch schwer sein, wenn die Leute immer weniger werden.«

Walburga unterbrach ihre Tätigkeit und ging zum Kühlschrank. Sie holte eine geöffnete Flasche Weißwein heraus und füllte zwei Wassergläser, von denen sie eines an ihren Überraschungsgast weiterreichte.

»Man trinkt es sich schön.«

»Und das funktioniert?«

Sanela kostete. Ein leichter, frischer Tischwein, der perfekte Begleiter für die Reise von einem sonnendurchglühten Tag in einen milden Abend.

»Schon lange nicht mehr.«

Der Satz war wohl mittlerweile Walburgas Standardrepertoire.

»Als ich oben auf dem Hügel gesessen habe, ist mir eingefallen, dass in Dörfern doch Familien wohnen. Ich kann ja verstehen, wenn die Jungen weggehen – aber die Alten?«

»Die sind ja hiergeblieben.«

»Sie sind doch nicht alt. Höchstens fünfzig, oder?«, log Sanela und wurde für diese Dreistigkeit auch noch mit einem verlegenen Lächeln belohnt.

»Legen Sie mal noch zehn Jahre drauf.«

»Wirklich? Also wenn alle hier so gut aussehen wie Sie, ziehe ich glatt um.«

Walburga holte kopfschüttelnd ein Tablett vom Kühlschrank. »Tun Sie sich das mal lieber nicht an. In ein paar Jahren sitzen Sie ganz alleine hier. Männer gibt’s hier nicht. Und so jung, wie Sie sind, haben Sie doch mit der Familienplanung noch gar nicht angefangen. Oder?«

»Keine Zeit.«

»Was sind Sie denn von Beruf?«

»Ich arbeite in einem kroatischen Restaurant in Berlin, das ein Freund von mir betreibt. Im Service, manchmal auch in der Küche.«

»Hm.« Walburga äugte misstrauisch auf den Teig, der in einer Schüssel auf dem Tisch stand und keine Anzeichen zeigte aufzugehen. »Haben Sie Hefe daran getan?«

»Oh. Hab ich vergessen.«

Sanela zog die Pfanne vom Herd. Dabei landete ein kräftiger dunkelvioletter Spritzer auf ihrem T-Shirt.

»Das müssen Sie gleich auswaschen, sonst geht es nicht mehr raus.«

Sanela lächelte verlegen. »Ich habe nichts zum Wechseln dabei.«

Im gleichen Moment hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Wer fuhr schon in Urlaub aufs Land ohne Gepäck? Aber Walburga schien diesen Patzer gar nicht zu bemerken. Sie ging hinaus und kam wenig später mit einem ausgeleierten Unterhemd zurück, das sie Sanela entgegenstreckte.

»Geben Sie es mir.« Sie deutete auf das T-Shirt mit dem Forty Licks-Aufdruck. »Ich tue es gleich in die Wäsche.«

»Danke.«

Sanela wechselte die Kleidung noch in der Küche. Sie drehte ihrer Gastgeberin lediglich den Rücken zu. Alles andere wäre ihr übertrieben vorgekommen. Walburga nahm das T-Shirt, brachte es hinaus und kam gleich wieder. Sanela fühlte sich, als würde sie einen Kartoffelsack tragen. Aber das Unterhemd roch sauber. Nach Weichspüler und Trocknen auf der Leine an frischer Luft. Sie nahm sich eine der Schürzen, die an Haken an der Tür hingen, und band sie sich um.

Walburga ging noch einmal in die Speisekammer und kam mit einem Päckchen Trockenhefe zurück. »Das sollte helfen.«

»Danke.«

Während sie die Hefe einarbeitete, sah Walburga nach dem schmurgelnden Kaninchen.

»Neulich kam was im Fernsehen«, sagte Sanela beiläufig und begann, den Teig in gleichmäßige Kugeln zu verarbeiten. »Es ging um eine Frau aus dieser Gegend. Es waren wohl auch Reporter hier, oder?«

Sie hatte sich vorgenommen, das Thema nur sehr vorsichtig anzuschneiden und zu sehen, wie Walburga darauf reagieren würde. Die tat allerdings so, als hätte sie nichts gehört.

»Jedenfalls dachte ich mir, das Dorf kennst du doch … bis mir auffiel, dass ich noch nie hier gewesen bin. Es muss dieser Fernsehbericht gewesen sein. Erst habe ich gedacht, es wäre ein Ausflugstipp, aber dann … es ging um diese Mörderin aus dem Berliner Tierpark. Charlotte Rubin. Kannten Sie sie?«

»Sind Sie deshalb hier?« Walburga schob die Kasserolle zurück in den Ofen. »Wenn ja, da ist die Tür.«

»Nein! Natürlich nicht! Aber die Sache war wochenlang in den Medien und hat, glaube ich, jeden irgendwie berührt. Ich fände es viel merkwürdiger, hier zu sein und es nicht anzusprechen.«

»Sind Sie von der Presse?«

Sanela berührte das kleine goldene Kreuz, das sie um ihren Hals trug und das sie nur ablegte, wenn sie Dienst hatte. »Ich schwöre Ihnen bei der Heiligen Mutter Maria, dass ich keine Journalistin bin.«

»Katholisch?«

»Ja.«

»Dann nehmen Sie wohl ernst, was Sie sagen.«

»So wahr ich hier stehe.« Frag jetzt bloß nicht, ob ich bei der Polizei bin, dachte sie. Dann hätte ich ein echtes Problem mit dem heiligen Donatus.

»Schon gut. Man wird misstrauisch. Wenn die plötzlich mit ihren Kameras im Garten stehen und gar nicht erst um Erlaubnis fragen … ja, ein paar waren hier. Die sind aber schnell wieder weg, als sie gesehen haben, dass hier nichts zu holen ist.«

»Trotzdem muss es doch eine ziemliche Aufregung gewesen sein. Also wenn das in meinem Dorf passiert wäre …«

»Hier ist nichts passiert.«

»Klar, natürlich nicht. Aber sie kam doch von hier, oder?«

»Wie man’s nimmt. Die Rubins waren Zugereiste. Sie haben nie richtig zu Wendisch Bruch gehört. Das war hier mal was ganz anderes. So was für die Bessergestellten der LPG. Funktionäre. – Wir nicht, nee …«, beeilte sie sich zu erklären. »Wir betreiben die Linde schon seit Generationen. Auch wenn sie zu DDR-Zeiten die HO-Gaststätte Buschwiesen war. Aber nach der Wende ging alles den Bach runter, und an Land gespült wurden Leute wie die Rubins. Sie lebten draußen auf dem Aussiedlerhof, den haben Sie vielleicht gesehen, als Sie hereingefahren sind.«

»Gleich an dem schiefen Ortsschild?«

»Ja. Wir hatten wenig Kontakt zu ihnen und sie kaum welchen zu uns.«

Ein bisschen schwierig in so einem kleinen Dorf, dachte Sanela. Da kann man sich doch eigentlich nicht aus dem Weg gehen.

»Vielleicht lag es daran«, spekulierte sie und begann, die Kugeln flachzudrücken und mit den gerösteten Pflaumen zu füllen. Walburga fettete währenddessen eine flache Auflaufform ein. »Außenseiter haben es schwer.«

»Es lag nicht an uns. Wir hatten immerhin mal so etwas wie ein funktionierendes Gemeindewesen. Im Dorfgemeinschaftshaus gab es sogar eine Kegelbahn. Glauben Sie mir, in so einem Kaff ist man um jeden froh, den es hierher verschlägt. Da muss man sich als Zugereister wirklich Mühe geben, um nicht dazuzugehören. Aber irgendwie waren sie seltsam, wollten keinen Kontakt. Jedenfalls nicht zu mir oder den anderen Frauen.«

Aha. Es schien wunde Punkte zu geben.

»Und zu den Männern?«

Walburga trank einen Schluck Wein. »Es gab Gerüchte. Aber um die schere ich mich nicht. Sie haben hier genau zwei Möglichkeiten: Entweder machen Sie alles mit oder nichts. Und alles war mir einfach zu anstrengend.«

»Also sind Sie auch so etwas wie eine Außenseiterin.«

»Nein. Nicht mehr. Ab einer Einwohnerzahl unter zehn gibt sich das.«

Sanela lächelte in sich hinein. Walburga hatte einen Humor, der ihr gefiel. Bruno kam in die Küche. Sein Frauchen stellte ihm eine Schüssel Wasser hin, die er halb ausschlürfte und den Rest auf dem Boden verteilte. Anschließend wagte er auch noch, sich zu schütteln. Sie war froh, dass sie trotz der Hitze eine lange Hose trug.

»Ich mache jetzt Ihr Zimmer.«

Sanela legte die letzte gefüllte Buchtel in die Auflaufform und wusch sich die Hände.

»Ich helfe Ihnen.«

»Nein. Ich sagte ja schon: Es ist fast so, als ob man wieder Gäste hätte.«

Auch gut, dachte sie, nahm die Schürze ab und ging zurück in den Garten, der mittlerweile im Schatten lag. Die Hitze hatte etwas nachgelassen. Bruno trottete hinter ihr her. Vielleicht war er genauso froh über die Abwechslung. Viel zu tun hatte er hier wohl nicht. Sie setzte sich auf die alte Holzbank, die an der Hauswand stand, und der Monsterhund ließ sich mit einem gewaltigen Seufzen vor ihr auf den Boden fallen.

Sie hörte, wie Walburga im Haus hantierte. Einen Moment war sie versucht, Gehring anzurufen. Aber was hätte sie ihm sagen sollen? Sie wusste noch nicht einmal, ob er ihren Hinweis auf eine zweite Person im Mordfall Leyendecker ernst genommen hatte. Natürlich hatte sie mit ihrem Besuch in Rubins Haus eine Grenze überschritten. Genauso wie mit ihrem Auftauchen in Wendisch Bruch, diesem versinkenden Dorf im Fläming, dem keiner eine Träne nachweinen würde.

Von weit her hörte sie eine Glocke schlagen. Sechs Uhr. Der Klang kam bestimmt nicht von der Dorfkirche, brachte Sanela aber auf einen Gedanken.

»Na, Bruno? Lust auf einen Spaziergang?«

Die Feldsteinkirche war ein kleiner, bescheidener Bau von protestantischer Strenge. In seinem Inneren standen links und rechts vom Mittelgang sechs Bankreihen aus Holz und ein steinerner Altar, den noch nicht einmal eine Decke schmückte. Keine Kanzel, keine Orgel, keine Empore. Ein großes Kreuz mit dem leidenden Christus war der einzige Schmuck. Der Boden war mit alten, abgetretenen Steinkacheln gefliest, manche kippelten beim Darübergehen.

Brunos Hecheln draußen vor der Tür hallte über die kahlen Wände. Sanela bekreuzigte sich, ging vor den Altarstufen in die Knie und flüsterte ein schnelles Otse nas Koji. Sie war gerade fertig, als ein Schatten den Eingang verdunkelte. Jemand musste die gleiche Idee wie sie gehabt haben. Sie stand auf, wischte sich den Staub von der Hose und drehte sich um.

Eine alte Frau stand, gestützt auf einen Stock, in der Tür. Sanela wusste nicht, ob es die gleiche war, die sie im Rückspiegel ihres Autos gesehen hatte. Bei eins zu acht standen die Chancen dafür nicht schlecht.

»Guten Abend«, sagte sie und versuchte, höflich, gottesfürchtig und freundlich zugleich zu wirken.

Die Frau nickte ihr zu und musterte sie dann von oben bis unten. Walburgas Unterhemd war einfach zu groß, ständig rutschte ein Träger herab. Unter dem prüfenden Blick fühlte Sanela sich wie eine frivole Touristin, die der Würde des Ortes nicht entsprach.

»Wollte nur mal nach dem Rechten sehen.« Die Stimme schmirgelte wie Sandpapier auf Holz: rau, trocken, heiser.

Die Frau machte einige vorsichtige Schritte auf die hinterste Bank zu. Sanela wollte auf sie zueilen und ihr helfen, aber sie winkte unwirsch ab und setzte sich. Das alte Holz stöhnte unter dem ungewohnten Gewicht.

»Ich bin zu Besuch bei Frau Wahl«, sagte Sanela. »Wahrscheinlich haben Sie meinen Wagen gesehen.«

»Aus Berlin, nicht wahr? Das ist ja eine weite Strecke bis zu uns heraus. Ich wusste gar nicht, dass Walburga Leute aus der Hauptstadt kennt.«

»Ja«, antwortete Sanela gedehnt, weil ihr keine passende Erklärung einfiel. »Ich will Sie nicht stören.«

»Sie sind Ausländerin? Das war kein deutsches Gebet.«

»Es war das Vaterunser. Das gibt es in allen Sprachen der Welt.«

Die Frau kniff misstrauisch die Augen zusammen. Sanela schätzte sie auf mindestens siebzig. Eine dieser verblühten, von Arbeit und Entbehrung hart gewordenen alten Krähen, die den ganzen Tag nichts anderes zu tun hatten, als ihre Nachbarn zu beobachten. Ihr Haar war schlohweiß und zu einem strengen Knoten im Nacken gebunden. Der Stock und die Deformation ihrer Hände wiesen auf eine Gichterkrankung hin.

»Was wollen Sie hier?«

»Beten«, antwortete Sanela. »Einen schönen Abend noch.«

Sie wollte zur Tür. Bruno sprang bei ihrem Anblick auf und begann, hechelnd mit dem Schwanz zu wedeln.

»Sie sind hier wegen Charlotte.«

Sanela blieb stehen. »Kannten Sie sie?«

»Jeder kannte diese Mischpoke.«

Die harten Züge der Frau verschlossen sich noch mehr. Trotzdem fühlte Sanela, dass sie zum Reden gebracht werden wollte. Sie wusste nur noch nicht, wie. Langsam kehrte sie zu der Holzbank zurück.

»Wendisch Bruch war in den Schlagzeilen«, sagte sie. »Das Dorf, aus dem das Monster kam. Das ist schon heftig, mit so etwas leben zu müssen.«

»Es ist gut, dass sie hinter Schloss und Riegel ist.«

»Glauben Sie, sie hat es getan?«

»Natürlich«, murmelte die Frau. Ihre kleinen Augen waren hell und wässrig. »Zuzutrauen wäre es ihr.«

Sanela setzte sich. Sie erwartete Protest, aber die Alte ließ es geschehen.

»Ich habe gelesen, dass Charlotte Rubin Wendisch Bruch schon als sehr junges Mädchen verlassen hat. Mit fünfzehn oder sechzehn, glaube ich. Wie kann man denn in dem Alter schon so viel verbrannte Erde hinterlassen?«

Die Alte zuckte mit den mageren Schultern. »Das liegt in der Familie. Alkoholiker, Schlampen, Asoziale. Ich weiß noch, dass ich jedes Mal, wenn ich sie sah, dachte, aus der wird nichts. Trotzdem haben sich die Männer nach ihr umgesehen. Mit zwölf sah sie schon aus wie zwanzig.«

Aus dem Mund der Frau klang das wie ein Verbrechen.

»Und später? Hatte sie einen Freund?«

Fehler. Erst denken, dann fragen. So viel Neugier war unüblich für eine Ortsfremde. Doch die Frau schien das nicht zu irritieren.

»Nein. Zumindest keinen, der sich getraut hätte, das zuzugeben. Mit denen wollte keiner was zu tun haben. Jedenfalls nicht von uns.«

»Mit uns meinen Sie …«

»Anständige Leute.«

Charlotte Rubin konnte kein hübscher Teenager gewesen sein. Oder man sah das in so einem Kaff anders. Sie war einen Kopf größer als die meisten Frauen und hatte eine ungelenke, nicht sehr weibliche Körpersprache. Was um alles in der Welt sollte die anständigen Männer in Wendisch Bruch verrückt gemacht haben?

»Sie ist nicht sehr hübsch.«

»Das war keine von denen. Na ja, die Kleine vielleicht. Die Nachzüglerin. Die war anders. Sie hat den Alten bis zu seinem Tod gepflegt, aber dann ist sie auch abgehauen. Was sollte sie hier auch. Der Hof war am Ende, der Alte hat alles versoffen. Da war der Wurm drin. In jedem. Auch in der Kleinen. Wie die einen angesehen hat manchmal …«

Die Frau schauderte.

»Und den Hof wollte keiner haben?«

»Der war im Eimer.«

Bruno begann, mit einem sehnsuchtsvollen Jiepern auf sich aufmerksam zu machen. Sanela sah auf ihre Uhr und bemerkte, dass es schon kurz vor sieben war. Walburga würde sich hoffentlich keine Sorgen machen.

»Ehrlich gesagt, wundert mich das. Ich bin auf dem Weg durch einige Dörfer gekommen, und keines sah so verlassen aus wie dieses hier. Frau Wahl sagte, es gebe keine Kinder hier. Warum nicht?«

Die Frau griff mit der linken Hand nach ihrem Stock und mit der zitternden rechten nach der Banklehne vor ihr. Sanela sprang auf und half ihr hoch. Sie spürte die Knochen unter dem dünnen Baumwollstoff und hatte Angst, ihr Griff könnte der Frau etwas brechen. Schließlich stand die alte Dame, schwankend, doch eisern entschlossen, alleine loszugehen.

»Warum gibt es keine Kinder hier?«, fragte Sanela noch einmal.

Ein kurzes, freudloses Lachen war die Antwort. Die Frau schlurfte zur Tür und wurde draußen von Bruno empfangen, der sie vorsichtig und behutsam abschnupperte, als ob er wüsste, dass ein ungestümes Schwanzwedeln sie zu Boden werfen könnte. Sanela folgte ihr. Nach der Kühle in der Kirche kam ihr die Wärme draußen feucht und schwül vor.

»Keine Männer«, sagte die Alte und ging grußlos davon.

»Warum gibt es keine Männer in Wendisch Bruch?«

Walburga, die gerade ihre zweite Buchtel von den anderen gelöst hatte, hielt mitten in der Bewegung inne. Sie saßen am Küchentisch, die benutzten Teller nachlässig aufeinandergestapelt, und machten sich gerade über Sanelas Nachtisch her.

»Wer sagt denn so was? Gott, sind die lecker.«

»Eine alte Frau. Ich habe sie in der Kirche getroffen.«

»Dünn wie ein Rohrstock?«

Sanela nickte, weil sie gerade den Rest ihrer ersten Buchtel in den Mund gestopft hatte. Sie waren nicht ganz so zart und süß geworden, wie sie ihr zuhause gelangen. Es musste an den anderen Zutaten und einem fremden Ofen liegen. Trotzdem schmeckten sie. Buchteln waren das einzige Rezept, das sie an ihre Heimat erinnerte. Sie buk Buchteln, seit sie denken konnte, und sie gelangen ihr normalerweise im Schlaf.

»Das war Esther. Sie hatte es nicht leicht im Leben. Ihr Mann war der Bäcker hier im Dorf.«

Das war alles andere als eine Erklärung.

»Er war, na ja, also er ging mit seinen Broten wohl liebevoller um als mit seiner Frau.«

»Und? Hat sie ihn eines Tages in den Ofen geschoben?«

Walburga sah sie mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht an. »Nein. Nicht direkt. Er … das war eine schlimme Geschichte. Sie ist auch schon lange her, und keiner redet gerne davon.«

Sanela spürte, wie ihr Herz zu rasen begann. Sie tupfte mit dem Zeigefinger die Puderzuckerreste von ihrem Teller und versuchte, so unbeteiligt wie möglich auszusehen.

»Was denn für eine schlimme Geschichte?«

»Sie hat … also ich weiß nicht, ob ich das erzählen kann.«

Komm schon, dachte Sanela ungeduldig. Du kannst doch nicht mittendrin aufhören, wenn es am spannendsten ist.

»Noch einen Schluck Wein?«

Walburga goss ihr, ohne zu antworten, nach.

»Was hat Esther?« Sanela schob ihren Teller zur Seite, rückte ein Stück näher an Walburga heran und senkte die Stimme, als ob die restlichen sieben Frauen des Dorfes draußen vor dem offenen Fenster stehen würden. »Was ist mit ihm passiert?«

Als ob Sanelas Vorsicht ansteckend wäre, sah nun auch Walburga ängstlich hinaus in den dunklen Garten.

»Er steckte im Trog.«

»In … einem Futtertrog?«

»Nein, es war ein Backtrog. Früher waren sie aus Holz, jetzt sind sie aus Edelstahl. In ihnen wird der Teig zubereitet. Er geht über Nacht, und am frühen Morgen werden daraus die Brote geformt und gebacken.«

Walburga legte ihre Buchtel, die sie in der Hand gehalten hatte, zurück auf den Teller. Sie hatte Puderzucker im Gesicht, aber Sanela unterließ es, sie darauf hinzuweisen.

»Und wie muss ich mir das vorstellen? Was genau ist mit Esthers Mann passiert?«

»Er ist irgendwie in den Trog gefallen und darin erstickt. Vielleicht war er betrunken und wollte nochmal nachsehen, und da ist es dann passiert. Genau weiß es keiner, es war ja auch niemand dabei.«

»Wie kann man denn in einem Backtrog ersticken?«

»Ich weiß es nicht. Es gibt Todesarten, von denen erfährt man auch nur hinter vorgehaltener Hand. Der Arzt hat gesagt, er wäre erstickt. Die Polizei war hier und hat den Vorfall untersucht, aber auch sie ist zu der Ansicht gekommen, dass es ein Unglück gewesen sein muss. Der Behälter ist so groß.« Sie streckte die Hand aus, was einer ungefähren Höhe von einem Meter entsprach. »Und er war bis zur Hälfte mit Teig gefüllt. Da war er kopfüber drin.«

»Jesus Maria.« Sanela trank ihr Glas leer. Auf diese Geschichte hin brauchte sie Alkohol.

»Ja, das kann man wohl laut sagen.«

»Und Esther?«

»Trug ein Jahr Schwarz und lebte danach genauso weiter wie bisher.«

»Wann war das?«

»Ach Gott, da muss ich überlegen. Anfang der Neunziger? Sie hat die Bäckerei noch eine Weile weitergeführt, aber sie lief nicht mehr richtig. Kein Wunder. Wer will auch sein Brot dort kaufen, wo der Meister … na ja. Man hatte immer so ein ungutes Gefühl, was wohl noch alles so reingefallen sein könnte. Sie hat einen neuen Trog angeschafft, aber das hat auch nichts geholfen. Nach zwei Jahren hat sie aufgegeben, seitdem sitzt sie den ganzen Tag am Fenster.«

Sanela stand auf und nahm ihr Glas, das Walburga gerade wieder gefüllt hatte. Sie ging zum Fenster, lehnte sich hinaus und holte tief Luft. Wendisch Bruch hatte erstaunliche Töchter.

»Und die anderen?«, fragte sie und drehte sich um.

Walburga stand ebenfalls auf und trug die Teller zur Spüle.

»Die anderen Männer? Wo sind sie hin?« Trink nicht so viel, dachte sie und nahm einen großen Schluck.

»Ich glaube, für heute haben Sie genug erfahren. Sie schlafen sonst schlecht. Wollen Sie sich nicht Ihr Zimmer ansehen?«

Sanela ahnte, dass sie an diesem Abend nichts Brauchbares mehr aus Walburga herausbekommen würde, und ließ sich auf den Vorschlag ein. Das Zimmer befand sich im ersten Stock. Es war klein und roch nach Mottenkugeln und Weichspüler. In ihm standen zwei durchgelegene Doppelbetten, ein Schrank, dessen Türen beim Öffnen erbärmlich quietschten, und an der Wand hing ein Waschbecken. Auf dem frisch bezogenen Bett lagen zwei Handtücher und ein Nachthemd aus verwaschen geblümter Baumwolle. Walburga entschuldigte sich mehrmals mit der Erklärung, seit Jahren keine Gäste mehr gehabt zu haben, und ließ Sanela dann alleine.

Sie setzte sich auf das Bett, das unter ihrem Gewicht nachgab und auf dem man wohl Trampolin springen konnte. Als sich die Schritte ihrer Gastgeberin entfernt hatten, holte sie ihr Handy aus der Tasche. Die Versuchung, Gehring anzurufen, war fast übermächtig. Sie ließ es nur deshalb bleiben, weil sie um diese Uhrzeit nur seinen Anrufbeantworter im Büro erreichen würde.

Was hatte sie in der Hand? Nichts. Vielleicht war es Zufall, dass es in diesem Dorf nur noch Frauen gab. Aber sie musste herausfinden, warum das so war. Wenn sich alle Gatten auf so merkwürdige Weise entleibt hatten, war das zumindest ein Anfang. Sie warf sich zurück aufs Bett und schloss die Augen. Sie war müde. Todmüde. Ihre Schulter schmerzte wieder. Sie wollte noch einmal hochkommen und die Schmerztabletten in ihrer Handtasche suchen, aber sie schaffte es nicht mehr.

Das Dorf der Mörder
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