30

Gabriel Brock betrat mit seiner Frau Mechthild, die als Traumatherapeutin in der Kinderchirurgie der Charité arbeitete, die Terrasse des Tennisclubs Rot-Weiß in Dahlem. Er steuerte auf den letzten noch freien Tisch zu. Ein anderes Paar hatte die gleiche Idee – Jason Saaler mit seiner jungen Begleitung, Henriette ihr Name, so glaubte Brock sich zu erinnern.

»Ihr Tisch.« Er reichte Saaler die Hand und begrüßte Henny ebenso freundlich, wie er das grundsätzlich mit allen wechselnden Damen an der Seite des Kollegen getan hatte. Mechthild verhielt sich etwas zurückhaltender. Sie war mit Saalers Ehefrau befreundet gewesen.

»Nein, Ihrer.« Saaler trat zur Seite.

»Warum setzen wir uns nicht alle zusammen?«, fragte Henny in entzückender Naivität. Brock dachte: Weil meine Frau vielleicht mit ihren über fünfzig Jahren nicht nur Probleme damit hat, gemeinsame Gesprächsthemen mit einer Studentin zu finden, sondern auch, weil ihr die Situation nicht gefällt? Weil sie sich fragt, wie ein Mann wie Saaler einfach über zwei Generationen Altersunterschied hinweggehen kann? Und sie im Geheimen diese Frage auch auf uns überträgt? Er sah, wie Mechthild an ihrem Poloshirt zupfte und sich nervös durch die Haare fuhr, die immer noch diesen wunderschönen nussbraunen Schimmer hatten, auch wenn sie hier und da von silbernen Strähnen durchzogen waren. Er liebte es, seine Frau altern zu sehen. Er hatte das Gefühl, dass ihre Würde und Schönheit wuchsen, und er hoffte, dass auch sie ihn durch den Weichzeichner der Liebe betrachtete. Auch er war keine zwanzig mehr.

»Eine wunderbare Idee.« Saaler küsste seine Henny auf die Wange. Sie lächelte und schmiegte sich an ihn.

Brock spürte Mechthilds unterdrückten Seufzer mehr, als er ihn hörte. Es war auch für sie eine harte Woche gewesen. Und er, Gabriel, trug immer noch am Tod von Charlotte Rubin und den unlösbaren Rätseln, die ihnen diese starke und gleichzeitig so verwundbare Frau hinterlassen hatte. Er hatte den Abend nutzen wollen, um mit Mechthild darüber zu reden. Er tat das nur in außergewöhnlichen Fällen. Meist versuchten sie, das Berufliche in dem Moment hinter sich zu lassen, in dem sie ihr Zuhause betraten.

Doch der Fall Rubin war anders. Zwei Schwestern, nicht nur optisch ein Gegensatz, auch von ihrer Persönlichkeitsstruktur her absolut unterschiedlich. Die eine, Charlie, war abweisend bis zum Hochmut, lebte zurückgezogen, unauffällig und verletzte sich selbst, wenn es zu Konflikten kam. Die andere, Cara, ein flirrender Sonnenschein, eine Art everybody’s darling, die diese Vorschusslorbeeren aber mit destruktiver Lust zerschoss und den anderen die Trümmer um die Ohren fliegen ließ. Und dennoch hatten beide Schwestern eins gemeinsam: Die Welt war ihr Feind. Die eine verschanzte sich vor ihr, verkroch sich und versuchte, sich ihr zu entziehen, wann immer es ging. Die andere wollte diesen Feind verwirren, hinters Licht führen, ihm flink wie ein Salamander durch die Finger schlüpfen. Beide Strategien hatten ein und denselben Ursprung. Brock hatte ihn nicht herausfinden können. Charlies Tod war seine große persönliche Niederlage.

Er hatte eigentlich nur mit Mechthild den milden Sommerabend genießen wollen, eine Kleinigkeit essen, ein bisschen miteinander reden, sich die Wunden mit Trost verbinden lassen wollen. Gemeinsam mit einem Turtelpärchen am Tisch zu sitzen war eine Herausforderung. Sie hatten andere, diskrete, aber nicht minder innige Wege gefunden, sich der gegenseitigen Zuneigung zu versichern. Wege, für die man Jahrzehnte brauchte und die dafür auch noch nach Jahrzehnten in die richtige Richtung führten.

Doch Brock, noch unter dem Eindruck der Ereignisse des Tages, nickte. Er war schon versucht gewesen, Jason Saaler anzurufen. Nun führte sie der Zufall zusammen, das war natürlich viel besser.

»Wir wollen nur eine Kleinigkeit essen«, sagte er und drückte Mechthilds Arm. Das hieß: Du hast was gut bei mir. Sie entzog sich seinem Griff. Das hieß: Ich kann die Gefallen, die du mir schuldest, schon gar nicht mehr zählen.

Sie nahmen Platz. Brock und Mechthild auf der einen Seite, im Rücken die Tennisplätze, im Blickfeld den Grill, an dem sich bereits eine Schlange gebildet hatte; Saaler und Henny ihnen gegenüber. Für die Kinder der Gäste hatte man einen Extrabereich reserviert. Ein Zauberer machte gerade kleine Kunststückchen, die von den Kleinen begeistert bejubelt wurden. Ein aufmerksamer Kellner huschte vorbei, Brock bestellte für sich ein Bier, für Mechthild ein Glas Champagner.

Das hieß: Gib mir fünf Minuten mit ihm allein. Mechthild orderte auf die Nachfrage des Kellners hin statt der Hausmarke Roederer Cristal. Das hieß: Okay, fünf Minuten. Und keine Sekunde länger, mein Lieber. Dabei schenkte sie Henny ein so hinreißendes Lächeln, als ob sie ihr schon auf dem Spielplatz die Windeln gewechselt hätte.

Saaler und Henny gönnten sich eine Flasche Meursault.

»Wollt ihr nicht mal nachsehen, ob es heute Langusten gibt?«, fragte Brock.

Henny und Mechthild verstanden und hielten das für eine gute Idee. Sie machten sich auf den Weg, Henny hakte sich bei Mechthild unter. Sie sahen aus wie Mutter und Tochter.

»Rubin …«, begann Brock ohne Einleitung.

Saaler nickte. »Ich habe es gehört. Schlimme Sache. In der U-Haft, nicht wahr? Ich weiß nicht, was in unseren Haftanstalten los ist. Drogen, Handys, Waffen … wie kann das sein?«

»Eine Heftklammer. Wahrscheinlich auch noch aus unserem Büro.«

»Oh.« Saaler nickte mitfühlend. »Das gibt eine Menge Scherereien.«

»Die sind nicht so wichtig.«

»Was bedrückt dich dann? Ist etwas mit Jeremy?« Bei der Erwähnung seines Sohnes bekam Saalers Stimme unbewusst mehr Schärfe.

Brock schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, nein. Obwohl … ich glaube, er hat sich in eine junge Frau verguckt.«

»Die mit der Baby-Allergie?«

»Mit was?«

»Er hat mir von ihr erzählt.« Saalers Ton gewann nicht unbedingt an Wärme. »Eine merkwürdige Frau. Bekommt hysterische Anfälle bei Kindergeschrei. Er wollte wissen, was das bedeuten könnte.«

Der Kellner brachte die Getränke. Saaler kostete den Wein, nickte und ließ sich einschenken. Brock stieß mit seinem Bier an. Nachdem sie einige Schlucke schweigend getrunken hatten, setzte er sein Glas ab. Mechthild und Henny hatten sich ans Ende der Schlange eingereiht, das gab ihnen etwas mehr Zeit als fünf Minuten.

»Und? Was hat es zu bedeuten?«

»Eine Abtreibung, würde ich sagen. Die Fälle, in denen junge, gut ausgebildete Frauen ihre Kinder zur Adoption freigeben oder sie in die Babyklappe legen, sind selten. Sie haben ein Umfeld, das aufmerksamer ist und in dem sich Schwangerschaften nicht so leicht verheimlichen lassen. Die Aversion gegen das Geschrei, dieser Hass auf das Kind – sein Gegenpol ist nicht Liebe, sondern Egoismus.«

»War es ein männlicher oder ein weiblicher Säugling?«

»Freud?« Saaler hob sein Weinglas und betrachtete den Inhalt. »Nein. Narzissmus. Das Geschrei ist wie eine Ohrfeige. Eine Kränkung, die jedes Mal an das eigene Versagen erinnert.«

»Dann müsste dieses Versagen aber auch als solches erkannt werden. Ein lupenreiner Narziss sieht Fehler nie bei sich selbst. Nur bei anderen.«

Saaler stellte das Glas ab. »Wenn man uns so reden hört …«

Brock nickte. Sie warfen sich Hypothesen zu wie Kinder Flummis. Trotzdem waren die Neuigkeiten, die Brock über Cara erfuhr, alarmierend. Er bemühte sich aber, in Jeremys Interesse gegenüber dessen Vater seine Besorgnis nicht zu zeigen.

»Eine Baby-Allergie, so was …« Brock schob sein Glas zur Seite, weil der Kellner Besteck, einen Brotkorb und einen kleinen Teller mit frischer bretonischer Sel-de-mer-Butter brachte. Er wartete, bis der Mann seine Arbeit beendet hatte, und beobachtete dabei, wie der Zauberer einem kleinen Mädchen eine Münze hinter dem linken Ohr hervorzog.

»Das Geschrei«, sagte Saaler. »Nur das Geschrei. Dann führt sie sich wohl auf wie eine Hysterikerin. Wenn das was Ernstes wird, dann weiß ich ja, wer dem Kind nachts das Fläschchen gibt.«

Brock war erstaunt, dass Saaler das wusste. Er unterstellte seinem langjährigen Kollegen, dass dieser in Bezug auf Kinder von nichts eine Ahnung hatte. Er nahm ein Stück Weißbrot und bestrich es mit Butter.

»Falls es Kinder gibt«, fuhr Saaler fort. Sein Gesicht mit den markanten Zügen hatte alle Freundlichkeit verloren. Wenn dieser Cäsar nicht gerade lächelte, sah er aus, als ob er gerade eine Kohorte Sklaven zum Tod in der Arena verurteilt hatte. »Ich möchte niemanden in meiner näheren Umgebung, der Abtreibungen gutheißt oder sogar selbst … nein. Ausgeschlossen.«

»Bevor du dich in etwas hineinsteigerst – es ist überhaupt nicht klar, was zu dieser Schrei-Phobie geführt hat. Ich habe eine ganz andere Theorie, was diese junge Dame betrifft.«

»Du kennst sie?«

»Es ist Rubins Schwester.«

»Wie bitte?«

Brock wusste, dass dies ein Vertrauensbruch war. Aber im Vergleich zu den Schuldgefühlen, die ihn seit Rubins Tod plagten, war dies noch die geringste aller Verfehlungen. »Er hat sie in meiner Praxis kennengelernt.«

»Und da … da lässt du so etwas zu?«

»Er ist erwachsen. Und er weiß, was er tut.«

Jeremys Vater sah das anders. »Mein Sohn ist mit der Schwester einer Psychopathin zusammen? Diesem Ungeheuer, das einen Mann bei lebendigem Leib zerfleischen ließ? Mein Gott, Brock!«

Brock machte eine beschwichtigende Handbewegung. Mechthild und Henny waren beinahe am Grill angelangt. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Aber Saaler war immer noch nicht versöhnt mit der Aussicht, seinen Sohn in den Händen einer offenbar Verrückten zu wissen. »Wenn zwei Menschen dasselbe erleben, wie hoch ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch dasselbe daraus machen? Die eine hat im Tierpark einen Menschen getötet. Und die andere hasst Babys. Das öffnet makabren Phantasien Tür und Tor.«

»Du bist Arzt«, erwiderte Brock. »Kein Phantast.«

Saaler trank einen Schluck Wein. Mechthild und Henny bahnten sich langsam ihren Weg durch die Tische zu ihnen zurück.

»Welche Paramnesien meinst du?«, brummte Saaler.

»Bellende Dorfhunde. Und, wie ich gerade erfahren habe, Kindergeschrei.«

»Frag einen Neurologen.«

»Ich frage dich.«

Saaler schob seinen Unterkiefer vor wie ein Pitbull kurz vor dem Angriff. »Nahtod. Wahn. Drogen. Religiöse Verzückung. Epilepsie. Cortexschädigung. Venenverschluss. Brock!«

»Ich brauche keine Diagnose. Ich will eine Deutung.«

»Dann mach eine Rückführung! Ich bin kein Schamane!«

Henny erreichte den Tisch als Erste und riss erstaunt die Augen auf.

»Schamanismus? In diesem Kreise erlauchtester Wissenschaftler?« Sie stellte einen Teller mit gegrillten Langusten vor Saaler ab. Sich selbst hatte sie immerhin einen Salat gegönnt. Mechthild hatte für Brock und sich je ein Steak mitgebracht.

Saaler brummte etwas und knackte das erste der Schalentiere. Brock konnte ihm ansehen, dass seine Gedanken einzig und allein um seinen Sohn und dessen fragwürdigen Umgang kreisten.

Den Rest des Abends verbrachten sie mit leichten Gesprächen, bei denen die Frauen die Federführung übernahmen und sie mit Klatsch und witzigen Bemerkungen über die anderen Gäste unterhielten.

Eher als Brock vermutet hatte, waren zwei Stunden vergangen. Mechthild saß fröhlich vor ihrem vierten Glas Champagner, und auch die Flasche Meursault war schon längst gegen eine zweite ausgetauscht worden. Sie bestellten die Rechnung, stritten sich ein wenig, wer den anderen einladen durfte – Saaler gewann –, und machten sich gemeinsam auf den Weg nach draußen. Die Männer gaben sich die Hand, die Frauen verabschiedeten sich innig mit Wangenküssen. Ein Bild, das täuschte, wie Brock noch auf dem Nachhauseweg erfuhr.

»Ich verstehe das einfach nicht«, sagte sie, bei ihm eingehakt, als sie die Clayallee hinunterliefen und die Linden ihren betörenden Duft ausströmten. »Sie ist jung, intelligent, witzig – warum tut sie sich das an mit diesem alten Mann?«

Er blieb stehen und küsste sie auf die Wange. »Saaler und ich sind fast der gleiche Jahrgang. Also – warum tust du dir das an?«

»Weil ich dich liebe?«, fragte sie ihn und wärmte Brocks Herz damit wie schon seit dreißig Jahren. Sie war und blieb bezaubernd.

»Zauberei«, murmelte Brock. Er nahm sie in den Arm und spürte, wie sie sich an ihn schmiegte.

»Was meinst du?«

»Ich musste gerade an Taschenspielertricks denken.«

»Damit tust du ihr aber wirklich Unrecht.«

»Wem?« Verwirrt sah er zu ihr hinab.

»Ich dachte, du redest von Henny?«

»Nein«, antwortete er, etwas aus dem Takt gebracht. »Nein, mir ging nur eine Situation in der Praxis nicht aus dem Kopf. Verzeih.«

Sie küsste ihn auf den Mund – das hieß, ich will dich. Er erwiderte den Kuss, im Stehen, auf der Straße, beschienen vom Licht einer Laterne, wie ein junges Liebespaar, das sich nicht scheut, sein Glück überall zu zeigen – das hieß, ich will dich auch. Mit jedem Tag, den ich dich kenne, mehr.

Das Dorf der Mörder
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