21

Jeremys Blick fiel auf Caras Armbanduhr. Es war kurz vor zehn Uhr abends, und sie hatten es wirklich geschafft, das Thema Charlie nicht zu berühren. Es hatte nur deshalb funktioniert, weil Cara einige amüsante Geschichten aus ihrer Tierarztpraxis erzählt und er seinen gesamten Lebenslauf vor ihr ausgebreitet hatte. Die Probleme mit seinem Vater verschwieg er. Es hätte ein wunderschöner Abend sein können, und das Glücksgefühl hielt an, bis er die Rechnung bestellte. Aber dann kam der Moment, den sie die ganze Zeit befürchtet hatten.

Sie schwiegen und betrachteten das lebhafte Treiben in der Simon-Dach-Straße. Das belebte Szeneviertel in Friedrichshain war Jeremy nicht so abgedroschen vorgekommen wie der Kurfürstendamm oder die Schönhauser Allee. Auf den Bürgersteigen vor den Cafés und Restaurants war inzwischen kein Platz mehr zu bekommen. Menschenmengen schoben sich vorüber, darunter trotz der späten Stunde bestimmt mehr Kinderwagen als in Prenzlauer Berg.

»Ich bin froh, dass du mit Professor Brock redest«, erwähnte Jeremy so beiläufig wie möglich, während er das Wechselgeld verstaute und ein großzügiges Trinkgeld auf dem Tisch liegen ließ.

»Hatten wir nicht gesagt, Charlie ist kein Thema?«

Er lächelte. »Keine Sorge. Ich wollte nur sagen, dass wir dir sehr dankbar sind.«

»Hm. Dankbarkeit ist nicht gerade das, was ich von dir erwarte.«

»So?«, hakte er nach. Er spürte, wie die Lust am Spiel mit dem Feuer in ihm erwachte. »Was denn dann?«

Sie nestelte unschuldig am oberen, geschlossenen Knopf ihrer Bluse herum, und sie machte das auf eine Art, die einem genauen Beobachter verraten hätte, was ihr gerade durch den Kopf ging. Jeremy hielt sich sogar für einen sehr genauen Beobachter.

»Vielleicht noch ein Drink in einer Bar, wenn ich schon mal in der großen Stadt bin?«

»Es ist schon spät.«

Mieze hatte den Termin auf acht Uhr dreißig gelegt. Jeremy wollte dem Professor keinen noch so geringen Grund zur Kritik geben.

»Du bist über achtzehn. Ich übrigens auch.« Sie wollte sich erheben, aber Jeremy hielt sie zurück.

»Cara, wir hatten eine Abmachung.«

»Kein Wort über Charlie. Ich weiß.«

»Es geht nicht. Nicht jetzt.«

»Was?« Sie sah ihn verwundert an. »Hast du Angst, ich schleppe dich ab?«

»Ja.«

Seine Ehrlichkeit entwaffnete sie. Sie ließ sich zurück in den Stuhl sinken, und ein Pärchen, das bereits voller Hoffnung auf ihren Tisch zugesteuert war, wechselte enttäuscht den Kurs. Der Mann trug einen schlafenden Säugling auf dem Rücken.

»Ich wusste es. Es ist kein gutes Zeichen, wenn ich vorher Hunger habe. Bekomme ich wenigstens noch ein Dessert?«

Mit einem Lächeln reichte Jeremy ihr die Karte. Unter anderen Umständen hätte er nichts, aber auch gar nichts gegen eine Fortsetzung ihrer ersten Begegnung gehabt. Hätte sie, wenn er ehrlich war, sogar herbeigesehnt. Allerdings – an ihren Abschieden musste sie noch arbeiten. Ihm klangen immer noch die hässlichen Worte im Ohr, die sie ihm in Wörlitz gesagt hatte. Natürlich aus Selbstschutz, das war ihm klar. Dennoch sagte die Art, wie Menschen auf Enttäuschung oder Stress reagierten, viel über sie aus. Cara benahm sich wie ein verwöhntes Einzelkind. Dabei war sie bis zum Hals im Dreck auf einem Bauernhof und in einer familiären Umgebung groß geworden, die wenig Platz für Individualität gelassen haben dürfte.

Sie senkte die Karte ein wenig und tat so, als ob sie ihn verstohlen ansehen würde.

»Kakerlake oder Colibakterium?«

»Als Nachtisch?«, fragte er verblüfft.

Sie klappte die Karte zu und legte sie auf den Tisch.

»Als Nachtisch nehme ich warmen Schokoladenkuchen mit Vanilleeis. Ich wollte nur wissen, was dir durch den Kopf ging, als du mich so seltsam angesehen hast.«

»Nichts«, log er. »Das heißt, ich denke schon an morgen und wie Brock vorgehen wird. Tut mir leid. Der Fall beschäftigt mich mehr, als er sollte.«

»Hast du eigentlich Geschwister?«

»Nein. Allerdings ist die Freundin meines Vaters in meinem Alter. So wie sie mich nervt, könnte sie durchaus als eine Art Schwester durchgehen.«

Ein gestresster Kellner, der in seinem zweiten Leben wohl Student war und langsam den Überblick verlor, kämpfte sich gerade zu ihnen durch. Cara bestellte ihr Dessert, und Jeremy orderte noch zwei Espressi dazu. Die Häuser schienen die Hitze des Tages zu speichern und nun wie gewaltige Kachelöfen in die Straßenschluchten abzugeben.

Das Paar suchte immer noch einen Platz, der Säugling erwachte.

»Mit welchen Fragen muss ich denn morgen rechnen?«

»Ich vermute, dass es Professor Brock vor allem um eure Kindheit in diesem Dorf geht. Charlotte Rubin hat nicht viel darüber erzählt.«

»Ich weiß nicht, ob ich da weiterhelfen kann. Als sie ausgezogen ist, war ich elf. Ich habe kaum Erinnerungen an die Zeit davor. Viel Dreck, viel Regen. Mir war oft kalt. Es wurde schlecht geheizt im Winter.«

Jeremy legte seine Hand auf ihre und freute sich, dass Cara sie nicht wegzog.

»Nicht jetzt. Morgen.«

Das Baby fing an zu meckern. Der Vater versuchte, es durch federnde Bewegungen zu beruhigen, was nicht so ganz klappte. Cara drückte seine Hand.

»Okay. Du sollst wissen, dass wir, Charlie und ich, uns wirklich lieben.«

»Obwohl ihr euch die letzten Jahre nicht gesehen habt?«

»Sie lebt ihr Leben, ich meins.«

Das Baby fing an zu schreien. Cara sah sich unwillig um, aber sie war die Einzige, die die Unmutsäußerungen des Kindes als Zumutung empfand. Die Musik und der Geräuschpegel vieler sich angeregt unterhaltender Menschen waren zu laut.

»Aber ihr wohnt nur gut hundert Kilometer auseinander. Wieso habt ihr euch aus den Augen verloren?«

»Das passiert, Jeremy, das passiert.« Der Druck ihrer Hand wurde stärker, je lauter das Kind schrie. »Wann hast du denn deine Mutter zum letzten Mal gesehen?«

»Weihnachten.«

»War das Pflicht oder dein Wunsch?«

»Ersteres, wenn ich ehrlich sein soll.«

»Siehst du? Charlie und ich …«

Sie brach ab und sah nervös zu dem Vater, der inmitten der Leute seinen Sprössling abschnallte und dabei um ein Haar das Essen eines Vierertisches abgeräumt hätte. Die Leute lachten und halfen ihm, das mittlerweile brüllende Kind an die Mutter weiterzureichen, die sich diesen Abend wohl auch anders vorgestellt hatte.

Die beiden Espressi wurden vor ihnen abgeworfen. Der Inhalt war halb verschüttet. Cara ließ seine Hand los und griff nach dem Zuckerstreuer.

»Was wollte ich sagen? Ach so. Charlie und ich haben es nicht so mit Familie.«

Sie rührte ihren Kaffee um, ihre Bewegungen waren hektisch geworden, sodass sie beinahe die Tasse umgerissen und den Rest auch noch verschüttet hätte.

Die Mutter nahm ihr Baby auf den Arm und wollte es trösten, doch es war ein hoffnungsloses Unterfangen. Das Kind schrie sich in Rage. Cara versteifte sich. Sie führte die Tasse mit einer gezierten Bewegung zum Mund und wollte trinken, als das Kind sich mit einem wütenden Aufschrei und unter Aufbietung all seiner Kräfte aus dem Arm der Mutter winden wollte. Cara knallte die Tasse auf den Tisch.

»Hören Sie auf!«, schrie sie die verdutzte Mutter an. »Bringen Sie Ihr Kind weg!«

Alle Köpfe drehten sich zu ihnen um. Die Gespräche in ihrer Umgebung erstarben schlagartig. Das Kind erreichte in seiner Rage nun eine Tonlage, die wirklich jedes Trommelfell im Umkreis von hundert Metern erreichte.

Cara sprang auf und hielt sich die Ohren zu. »Es ist unerträglich! Schaffen Sie dieses Gör weg! Hören Sie nicht, oder sind Sie schon taub?«

Erste, böse Kommentare wurden laut. Sie richteten sich nicht gegen die Mutter, sondern, wie in diesem Viertel zu erwarten, gegen Cara. Jeremy überschlug in Windeseile die zweite Rechnung und warf einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Tisch.

»Gehen Sie doch selbst!«, keifte die Mutter zurück und drückte den hochroten, hysterisch schreienden Säugling an die Brust, der sich einfach nicht beruhigen ließ. »Wegen Leuten wie Ihnen traut man sich ja nicht mehr zu stillen!«

»Es soll aufhören! Aufhören!«, schrie Cara.

Jeremy sprang auf und packte sie am Arm. Begleitet von wüsten Verwünschungen keilten sie sich durch die engen Tischreihen hinaus auf den Bürgersteig. Als er sich umsah, ob sie auch nichts vergessen hatten, saß die Frau bereits auf Caras Stuhl und hatte sich das T-Shirt hochgehoben. In einer Gier, wie sie nur Kleinkindern zu eigen ist, suchte der Schreihals die dunkelbraune, riesige Brustwarze und dockte an.

Stille.

Cara ließ die Hände sinken. Sie hatte Tränen in den Augen. Jeremy zog sie davon, bis sie zwei Nebenstraßen weiter an seinem Wagen ankamen. Erst als sie sich am Dach festhielt und keine Anstalten machte einzusteigen, merkte er, dass sie zitterte.

»He.« Er trat zu ihr und wollte sie, rein freundschaftlich, in den Arm nehmen. Aber sie stieß ihn weg.

»Lass mich.«

»Hast du immer solche Ausraster bei Babygeschrei?«

Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und nickte. »Deshalb habe ich auch immer Ohrstöpsel dabei. In der Bahn ist es besonders schlimm. Und im Flugzeug, wenn sie Probleme mit den Ohren haben. Aber beim Essengehen stören die Dinger.«

Sie drehte sich mit einem zaghaften Lächeln um. Sie zitterte immer noch.

»Ich kann es einfach nicht ertragen. Manche Leute bekommen Zustände, wenn Kreide auf einer Tafel quietscht. So ist das bei mir, wenn Babys schreien. Ich reagiere allergisch.«

Jeremy wusste nicht, wie er auf dieses merkwürdige Bekenntnis reagieren sollte. An Kinder hatte er im Zusammenhang mit einer Frau nie ernsthaft gedacht. Und wenn, dann war immer klar gewesen, dass diese Option zu einer gemeinsamen Zukunft gehörte. Noch nie war ihm jemand begegnet, der sie so vehement ausschloss. Und schon gar nicht aus so einem Grund.

»Eine Baby-Allergie?«

Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Das ist wohl ein ganz neues Krankheitsbild, nicht wahr? Vielleicht sollte ich darüber mit deinem Professor reden. Ich mag Kinder. Wirklich. Ich habe noch nicht mal was dagegen, wenn sie schreien, rennen und herumbrüllen und leere Flaschen herumkicken. Und Babys sind süß und herzig, wenn sie glucksen und schlafen. Aber wenn sie schreien, dann will ich mir nur noch die Ohren zuhalten und davonlaufen. Bist du jetzt enttäuscht?«

Jeremy öffnete ihr die Beifahrertür. »Nein. Ich fand es übrigens auch sehr lästig. Niemand hat ja mehr die Courage, gegen Zumutungen einzuschreiten. Du hättest sie vielleicht nicht so anschreien sollen.«

»Sie war doch schon taub. Hast du das nicht gemerkt?«

Mit einem Kichern schlüpfte sie an ihm vorbei auf ihren Platz. Jeremy ließ die Tür hinter ihr zufallen. Da war sie wieder, Caras gute Laune. Eben noch am Boden zerstört, in der nächsten Sekunde von einer überwältigenden Fröhlichkeit. Als ob die Welt eine Zirkusmanege wäre und das Leben ein Orchester, das im Sekundentakt von Moll zu Dur wechselte. Cara war ein Clown. Obwohl sie ihn durch die Scheibe hindurch angrinste, sah er, dass ihr Herz immer noch weinte.

Mitten in der Nacht wurde Sanela vom knatternden Geräusch eines startenden Autos geweckt, das sie an ihren Jetta erinnerte. Ihr Mund war trocken, und sie schaffte es gerade, von ihrem Bett zum Waschbecken zu taumeln und ein paar Schlucke direkt aus der Leitung zu trinken. Das Auto entfernte sich. Sanela tastete sich zur Tür und wollte sie öffnen, aber sie war abgeschlossen. Sie fiel aufs Bett, und noch bevor sie sich eingehend darüber wundern konnte, wie sie es geschafft hatte, sich selbst einzuschließen, war sie schon wieder eingeschlafen.

Das Dorf der Mörder
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