38

Gabriel Brock stand auf, umrundete den Schreibtisch und verließ sein Büro. Er hielt es nicht mehr aus, untätig herumzusitzen. Nach dem Telefonat mit diesem Kriminalkommissar hatte er noch einmal zum Hörer gegriffen und Saaler angerufen. Jason Saaler. Er musste wissen, in welche Lage er, Brock, dessen einzigen Sohn gebracht hatte.

Er verabredete sich mit Saaler an der Charité, wo dieser gerade eine Arbeitsgruppe leitete – er nutzte die Wochenenden gerne, um sich mit möglichst wenig Aufwand genau den Vorsprung anzueignen, mit dem er am Montag seine Mitarbeiter verblüffen würde.

Brock schluckte, als er die aufrechte, fast feldherrenhaft stolze Gestalt Saalers aus dem Aufzug in den Wartebereich kommen sah. Er stand auf und eilte auf ihn zu, reichte ihm die Hand.

»Was gibt es denn so Dringendes, Gabriel?«

Brock sah sich um. »Ich würde das ungern hier besprechen.«

»Wir können zum Italiener gehen, ich habe noch nicht gegessen.«

Brock kannte das Restaurant in der Linienstraße. Es wurde unter der Woche hauptsächlich von Doktoranden und Ärzten aufgesucht, Studenten konnten es sich nur in Ausnahmefällen leisten.

»In Ordnung.«

Die wenigen Minuten entlang der schmalen, dichtbefahrenen Straße, die den gewaltigen Klinikkomplex durchschnitt, verbrachten sie mit Gesprächen über das Wetter und dem Ausweichen entgegenkommender Passanten. Dann hatten sie das Lokal erreicht und wählten einen Tisch am Fenster – dies war nur deshalb möglich, weil der große Mittagsansturm der Touristen bereits vorbei war und der der Besucher des Deutschen Theaters noch nicht begonnen hatte.

»Also. Raus mit der Sprache.«

Saaler schenkte Brock und sich Mineralwasser ein, das eine junge Frau lächelnd und unaufgefordert in einer Karaffe an ihren Tisch gebracht hatte. Alkohol war an Forschungstagen tabu. Zumindest bis Sonnenuntergang.

»Es geht um Jeremy.«

»Dachte ich es mir doch.« Saaler stellte die Karaffe sorgfältig ab. »Es tut mir leid. Er ist mein Sohn. Ich weiß, was ich dir damit aufgebürdet habe.«

Brock unterbrach Saaler mit einer ungeduldigen, fast unwirschen Handbewegung.

»Das ist nicht das Thema. Er ist gut. Er ist sogar großartig, wenn er es eines Tages schafft, aus deinem Schatten herauszutreten. Und das wird er, wenn …«

Brock fehlten die Worte. Wie sollte er seinen Fehler beichten? Er nahm eine Gabel und begann, Linien auf dem Tischtuch zu zeichnen. Bis ihm die Szene aus Hitchcocks Spellbound einfiel und er sie zur Seite legte.

Saaler beobachtete ihn aufmerksam.

»Er ist mit dieser Frau aufs Land gefahren. Ich habe keinen Kontakt mehr zu ihm.«

»Bitte? Was soll das heißen?«

Die Sorge Saalers, dass sein Sohn sich im Job vielleicht nicht bewähren würde, wich dem Ärger über das Unkontrollierbare.

»Es gefällt mir auch nicht«, fuhr Brock fort. »Sie ist keinesfalls nur die etwas exzentrische junge Frau, für die er sie hält. Ich glaube, sie ist darüber hinaus auch eine hervorragende Schauspielerin.«

»Natürlich. Du weißt, was ich von ihr denke.«

»Jason«, Brock schob den Korb mit frisch gebackenen Ciabatta hinüber zu Saaler, »unser wichtigstes Sinnesorgan ist das Gedächtnis.«

»Sicher«, antwortete dieser und nahm sich ein Stück Brot, aß es aber nicht, sondern brach es lediglich in der Mitte durch.

»Unser Gehirn fälscht unsere Erinnerung, jederzeit, unablässig. Es gaukelt uns Dinge vor, weil wir sie erwarten. Die Hütchenspieler. Sie sind wahre Magier der Straße. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf weit ausholende Bewegungen, die sie vollführen, weil unsere Augen diesen vorrangig folgen, und währenddessen verschwindet die Kugel ganz woanders.«

Die junge Bedienung trat an den Tisch und nahm die Bestellungen auf. Brock, der nicht den geringsten Appetit hatte, entschied sich für ein Carpaccio. Saaler bestellte ein Saltimbocca alla romana. Kaum war sie gegangen, nahm Brock den Faden wieder auf.

»Ähnliches geschieht bei Paramnesien. Ich wollte unbedingt noch einmal mit dieser jungen Frau sprechen. Ich wusste nicht, warum mich das so beschäftigte, bis ich mich an diesen Zauberer im Tennisclub erinnerte.«

»Den Zauberer? Brock, wirklich. Meine Zeit ist zu kostbar, um mir das anzuhören.«

»Warte. Nur einen Moment. Dieser Zauberer benutzte die Ablenkung, um eine Illusion zu erzeugen. Er zeigt uns, was wir sehen wollen und sollen, und überlistet unser Gehirn, während wir abgelenkt sind. Genau das haben die beiden Schwestern, Cara und Charlie, auch gemacht.«

»Zaubertricks?«

»Nein. Bei ihnen war es eher eine Theatervorstellung. Die Inszenierung eines zornigen Streites zwischen zwei Schwestern. Ich habe eine Tonaufnahme davon, und ich habe sie mir wieder und wieder angehört. Wir sind ein Opfer des McGurk-Effekts geworden und haben uns aufs Glatteis führen lassen …«

»Willst du mir damit sagen, dass diese beiden Frauen in deiner Praxis ein Täuschungsmanöver durchgeführt haben?«

»Ja. Auch wenn sie sich dessen vielleicht nicht bewusst waren. Es ist nachgewiesen, und das weißt du ebenso gut wie ich, dass unser Gehirn die optischen Signale vorrangig vor den akustischen wahrnimmt. Gefühle, starke Gefühle erhöhen diesen Effekt noch. Wir waren emotional beteiligt. Jeremy versuchte, die beiden voneinander zu trennen, ihr Zorn, ihre Verzweiflung hat uns alle berührt. Das war es, was sich in unseren Köpfen festgesetzt hat: ein schreckliches Zerwürfnis zwischen zwei Schwestern, das schließlich in einem Selbstmord endete. Wir erinnerten uns nur noch an den Streit. Bittere Vorwürfe, aufgepeitschte Emotionen. Also hörten wir auch einen Streit. Unser Gehirn hat das, was gesagt wurde, einfach dem angepasst, was wir gesehen und erwartet haben.«

»Und was wurde nun gesagt?«

»Nachdem ich mir die Bänder mehrmals angehört hatte und immer noch nicht das Gesagte vom Gefühlten isolieren konnte, habe ich Frau Katz gebeten, sie mir abzutippen. Schwarz auf weiß, ohne diese starken Emotionen wie Wut, Rage, Schmerz. Es war immer noch sehr berührend, das zu lesen. Und genau diese Stellen habe ich gestrichen. Die Vorwürfe, die Beschimpfungen, die Verzweiflung, alles wurde entfernt. Ich habe so lange destilliert, bis der Bodensatz erkennbar war. Die Essenz dessen, was diese beiden Geschwister miteinander verbindet.«

»Und was ist es?«

»Mord.«

Saaler schüttelte den Kopf.

»Mord«, wiederholte Brock. Er zog ein Papier aus der Aktenmappe, die er immer bei sich trug. »Vielleicht wissen beide nicht, wovon sie reden. Doch ihr Unterbewusstsein lässt sich nicht überlisten. Ich lese es dir vor wie ein Theaterstück. Einverstanden?«

Saaler nickte. Sein Kinn hatte er vorgeschoben wie ein Nussknacker.

»Also Jason, hör zu. Charlie: Halt dich raus. Helden haben hier nichts verloren. Ich habe mich selten so normal gefühlt wie jetzt. Cara: Ich werde alles tun, um dir zu helfen. Alles, verstehst du? Charlie: Du kommst dagegen nicht an. Ich dachte, wir wären stärker, aber wir wurden besiegt. Ich habe keine Schwestern mehr.«

Brock machte eine kurze Pause. Als er sah, dass Saaler ihm aufmerksam zugehört hatte, fuhr er fort: »Sie verlassen gerade die Inhalts- und gehen auf die Beziehungsebene. Sie öffnen für einen Moment ein Fenster, das nur für sie beide sichtbar ist. Charlie auf der einen, Cara auf der anderen Seite. Cara: Ich soll einfach dabeistehen und zusehen? Charlie: ›Ich bin einmal so tief in Blut gestiegen, dass, wollt’ ich nun im Waten stille stehn, Rückkehr so schwierig wär’, als durch zu gehn.‹«

»Macbeth, dritter Aufzug, vierte Szene, ich kenne meinen Shakespeare. Offenbar belesen, diese Charlie. Das ist die Frau, die ihr Opfer den Schweinen vorgeworfen hat? Interessant.«

»Ich habe mich geirrt. Ich habe mich in allem geirrt, was ich gesagt habe. Ich glaube, Charlotte Rubin hat mehrere Menschen getötet. Aber sie hat es nicht allein getan, jemand hat ihr geholfen.«

»Ihre durchgedrehte Schwester?«

Brock starrte auf den Zettel. Ihm war, als wäre er ein Archäologe und befände sich auf einem Ausgrabungsfeld. Eine ganze Schicht hatte er freigelegt und Erstaunliches gefunden: Charlies Geständnis. Und Caras Rolle als Mitwisserin, wenn nicht sogar Mittäterin. Doch unter dieser Schicht lag noch eine weitere. Das war ihm klargeworden, als er seine Zusammenfassung vorgelesen hatte. Unruhe erfasste ihn.

»Die Schwestern …« Er verstummte, als er Saalers Gesicht sah.

Der war wie versteinert. Die funkelnden Augen waren dunkler geworden, schmaler.

»Brock. Beantworte mir nur eine Frage: Wo ist mein Sohn?«

Das Dorf der Mörder
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