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Brock hatte Mieze schon vor einer halben Stunde ins Büro bestellt und traf gerade noch rechtzeitig ein, bevor sie ging. Sie wohnte um die Ecke, dennoch hatte er ein schlechtes Gefühl, sie am Wochenende ins Büro zu bestellen und sie dann auch noch warten zu lassen. Aber sie achtete gar nicht auf seine Entschuldigung.

»Was ist denn los, Herr Professor?«

Sie stellte ihre Handtasche wieder auf dem kleinen Tisch vor der Garderobe ab und streifte sich das Seidentuch vom Hals.

»Das Protokoll, das Sie mir vom Diktaphon abgetippt haben. Wo ist das?«

»Im Computer.«

»Ich brauche es noch einmal. In voller Länge. Könnten Sie so nett sein und es mir ausdrucken?«

»Aber selbstverständlich. Eine Minute, es dauert etwas, bis er hochgefahren ist.«

Brock ging in sein Büro. Wenig später kam Mieze mit den Ausdrucken und einem kräftigen Darjeeling.

»Haben Sie noch einen Moment Zeit?«, fragte er, nachdem sie die Tasse abgestellt und er sich bedankt hatte.

»Ja.«

»Wenn Sie so nett sein könnten, Platz zu nehmen und mich nicht zu stören?«

Mieze kannte das. Sie nahm sich eine Illustrierte aus dem Wartezimmer nebenan, ließ sich in dem Sessel neben dem Fenster nieder und begann zu lesen.

Nach einer Viertelstunde gab Brock einen Laut des Erstaunens von sich. Mieze blickte kurz hoch, erkannte dann aber, dass er noch nicht so weit war, und vertiefte sich wieder in die Titelgeschichte.

»Schwestern«, sagte Brock nach einer Weile.

Mieze ließ das Blatt sinken.

»Ich habe keine Schwestern mehr.«

Sie schwieg. Jeder Kommentar konnte Brock ablenken. Der Professor stand auf, umrundete den Schreibtisch und lehnte sich an dessen Vorderkante.

»Was heißt das?«

Mieze schlug das Heft zu. »Ich habe keine Schwestern mehr?«

Brock nickte.

»Dass ich mal welche hatte?«

»Cara und Charlie.« Er beugte sich zurück und angelte nach der Akte im Ablagekorb. Er schlug sie auf und deutete mit dem Zeigefinger auf eine Seite. »Zwei Mädchen. Wenn die eine sich von der anderen lossagt, was würde sie dann gegebenenfalls konstatieren?«

»Ich habe keine Schwester mehr?«

»Genau. Singular. Nicht Plural.«

»Wer hat das gesagt?«

»Charlotte Rubin zu Cara Spornitz. Schwestern. Mehrzahl. Was heißt das?«

»Vielleicht hatten sie noch mehr Geschwister.«

»In den Akten steht nichts davon. Cara und Charlie waren die einzigen Kinder von Margot Rubin.«

»Hat man denn einen Registerauszug beim Standesamt angefordert?«

Brock blätterte weiter. »Ich gehe davon aus. Sie meinen, Margot Rubin könnte Kinder zur Adoption freigegeben haben?«

»Oder Charlie und Cara wurden adoptiert?«

»Nein«, brummte Brock. »Dann gäbe es hier noch so etwas wie eine Abstammungsurkunde. Sie waren die einzigen Kinder. Definitiv.«

»Ja, dann weiß ich auch nicht weiter. Geschwister verschwinden ja nicht so einfach. Oder?«

Brock klappte die Akte zu und sah Mieze lange an.

»Eigentlich nicht.«

»Herr Professor, meinen Sie nicht, die Polizei sollte sich darum kümmern? Wenn die beiden Frauen noch mehr Angehörige hatten – Brüder, Schwestern, die jetzt nicht mehr da sind … nach denen fragen Sie doch, oder?«

»Abtreibung?«

»Nein. Dann weiß man doch das Geschlecht nicht. Aber vielleicht wurden sie ausgesetzt? So was hat es doch schon immer gegeben. Überforderte Eltern oder Mütter, die ihre Schwangerschaft verdrängen. Das könnte ich mir durchaus vorstellen. Nur – die meisten Mütter verheimlichen das doch vor ihren Kindern.«

»Ja. Natürlich. Die meisten tun das.«

Brock ließ Mieze endlich gehen und versuchte noch einmal, Kriminalhauptkommissar Gehring zu erreichen. Er sei außer Haus, wurde ihm gesagt, aber er könne gerne eine Nachricht hinterlassen.

»Findelkinder«, sagte Brock.

Der Beamte am anderen Ende der Leitung wusste damit nicht allzu viel anzufangen.

»Mehr nicht?«

»Herr Gehring müsste herausfinden, ob Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre rund um Wendisch Bruch Kinder ausgesetzt worden sind. Neugeborene. Darüber gibt es doch bestimmt noch Register.«

»Ja, bestimmt. Können Sie mir nähere Angaben zum Sachverhalt machen?«

Verwirrt strich sich Brock durch die Haare. »Nein, leider nicht. Nur die: Ich habe keine Schwestern mehr, schreiben Sie das bitte noch auf.«

»Das tut mir sehr leid, Herr Brock. Möchten Sie eine Vermisstenanzeige aufgeben?«

»Nein. Schreiben Sie einfach auf, Charlotte Rubin hat gesagt: Ich habe keine Schwestern mehr. Das reicht.«

Er legte auf. Reichte das wirklich? Würde Gehring verstehen? Und was bedeutete das letzten Endes? Wenn er Charlies Worte ernst nahm – und er nahm sie bitterernst –, dann waren in dieser Familie mehr Kinder geboren als registriert worden.

Es klopfte. Wütend über die Störung bellte er: »Was ist?«

Mieze, die Handtasche am Arm, das Seidentuch wieder korrekt verknotet, erschien noch einmal in der Tür.

»Verzeihung, Herr Professor. Mir lässt da etwas keine Ruhe.« Zögernd trat sie ein. »Diese Geschwister … Sie denken automatisch an die Mutter, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete Brock zerstreut.

»Was ist mit dem Vater? Es gibt Kinder, die in keinem Geburtenregister mit ihren richtigen Namen auftauchen. Dann nämlich, wenn sie jemandem untergeschoben worden sind. Kuckuckskinder. Uneheliche Kinder.«

»Möglich, möglich. Danke, Mieze. Ich werde das dem Kriminalkommissar sagen.«

»Oder Kinder, die jemand in die Ehe mit hineingebracht hat. Stiefkinder. Neue Kinder in neuen Familien. Dieses ganze Patchwork …«

Brock merkte, dass Miezes Gedankengänge ihn mehr verwirrten, als dass sie ihm weiterhalfen. Sie merkte das auch, nickte ihrem Chef kurz zu und schlüpfte hinaus. Brock, in einem kurzen Anfall von Verzweiflung, weil er das Gefühl hatte, die Lösung direkt vor seinen Augen zu haben und sie nicht zu sehen, vertiefte sich noch einmal ins Protokoll. Er sehnte sich nach einem Gegenüber wie Saaler, der ihn mit seinem kühlen Sarkasmus gezwungen hätte, jeden Gedanken zu präzisieren. Geschliffene, ausgereifte Gedanken. Er nahm einen seiner Bleistifte, die Mieze neu gekauft hatte, musste daran denken, dass vor kurzem noch Charlotte Rubin in diesem Büro fast verblutet wäre, und legte ihn wieder ab.

Lass ihn. Er tut nur seine Pflicht. Das muss er doch tun, oder? Lass ihn weitermachen. – Ich soll einfach dabeistehen und zusehen. – Es lag doch nie in unserer Hand. Sie haben doch immer mit uns gemacht, was sie wollten.

Brock erinnerte sich an die Szene: Der Vorführbeamte hatte versucht, die beiden Schwestern voneinander zu trennen. Charlies Pflaster hatte sich gelöst, sie blutete, die Luft war wie elektrisch geladen gewesen.

Und wir sahen nur den Streit, dachte er. Wir sahen den Beamten und dachten natürlich, dass die beiden über ihn geredet haben. In Wirklichkeit meinten sie jemand ganz anderen.

Lass ihn. Lass ihn weitermachen.

Von wem, um Himmels willen, hatte Charlie gesprochen? Brock merkte, dass ihm die Fäden aus den Fingern glitten. Er fühlte sich schuldig, weil er keinen Schritt weiterkam. Er versuchte, Jeremy zu erreichen. Das Freizeichen klang monoton in seinen Ohren, wiederholte sich, schließlich sprang die Mailbox an.

»Saaler, rufen Sie mich zurück. Dringend. Und vor allen Dingen: Verlassen Sie auf der Stelle Wendisch Bruch.«

Das Dorf der Mörder
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