19

Jeremy fand Cara auf der Bank einer Bushaltestelle keine zwanzig Meter von der Praxis entfernt. Sie hatte Charlies Blut auf der Bluse und rieb nervös an dem Fleck herum. Als sie den jungen Psychiater kommen sah, beugte sie sich vornüber und verbarg ihr Gesicht in den Händen.

»Ich habs’ vermasselt«, sagte sie. »Ich habs’ so was von vermasselt.«

Jeremy setzte sich neben sie. »Das konnte keiner ahnen.«

»Doch!« Wütend starrte sie ihn an. »Ich! Ich hätte wissen müssen, wie Charlie reagiert. Ihr wird vorgeworfen, diesen wahnsinnigen Mord begangen zu haben, sie sitzt wochenlang im Knast, und dann tauche ich auf und glaube, alles wird gut. Nichts wird gut! Es ist der Horror!«

»Ich hätte dir das niemals sagen dürfen. Brock hat mich beinahe gefeuert.«

»Oh, da fehlt mir doch das rechte Mitleid. Ich habe niemanden, der mich feuern kann. Wäre manchmal gar nicht schlecht. Cara Spornitz, du bist gefeuert. Die meisten reden ja nur drum herum. Sollen sie doch ehrlich sein. Als Schwester – gefeuert. Als Ehefrau – gefeuert. Als …« Sie senkte wieder den Kopf. »One-Night-Stand – gefeuert.«

»Das bist du nicht! Und das weißt du auch. Wir waren beide überfordert. Ich bin bei dir mit der Tür ins Haus gefallen, und die Ereignisse haben uns überrollt.«

»So kann man es auch ausdrücken.« Sie sah zur Seite. »Es tut mir leid, was ich neulich zu dir gesagt habe. Ehrlich. Das kam alles so plötzlich. Erst der Schock mit Charlie und dann der zweite mit …«

»… mir?«, lächelte er. »Ein Schock?«

»Na ja, es verirren sich nicht oft gutaussehende Akademiker zu uns aufs Land.«

Jeremy merkte, welche Wirkung diese Worte auf ihn hatten. So überraschend ihre Stimmungsschwankungen auch waren, letztlich blieb wohl doch so etwas wie Sympathie übrig. Er hätte ihr das Kompliment gerne zurückgegeben, aber das hieße, mit dem Feuer zu spielen, statt es langsam ausglühen zu lassen. Ihm klang noch die mahnende Stimme des Professors im Ohr. Auf der anderen Seite, im ersten Stock des Altbaus schienen sich die Gardinen in Brocks Arbeitszimmer zu bewegen. Wurden sie beobachtet?

Sie strich sich die Haare hinter die Ohren. Eine Geste der Verlegenheit.

»Okay. Wenn du es genau wissen willst: Es war schön mit dir. Sehr schön. Es ist immer ein gutes Zeichen, wenn ich hinterher Hunger habe.«

»Dann hast du wohl nicht oft spontanen Sex, so dünn wie du bist?«

Sie legte den Kopf in den Nacken und lachte leise.

»Wie lange bleibst du?«

»Warum willst du das wissen?«, fragte sie kokett.

»Professor Brock will nochmal mit dir reden. In Ruhe.«

»Mmmh. Das dachte ich mir. Soll ich?«

»Wenn du Charlie helfen willst?«

»Es ist doch sowieso schon alles entschieden. Er hätte mich auf der Stelle rausgeworfen, wenn er noch den Hauch eines Zweifels gehabt hätte. Charlie ist zurechnungsfähig. Stimmt’s?«

Jeremy wusste nicht, ob ein Nicken bereits eine Verletzung der Schweigepflicht wäre. Im Zweifel ja, dachte er und ließ es bleiben.

»Sie wandert mindestens fünfzehn Jahre in den Knast, und nichts kann ihr helfen. Ich bin nicht hier, weil ich dich so mag, Jeremy.«

Er presste die Lippen zusammen und sah auf den Boden. Festgetretene Kaugummis, Kippen, klebrige Flecken.

»Ich bin hier, weil ich Charlie raushauen will. Verstehst du? Meine große Schwester ist unschuldig. Ich werde nicht zulassen, dass sie für jemand anderen in den Knast geht. Übrigens mag ich dich.«

Sie boxte ihn leicht in die Seite. Jeremy reagierte nicht.

»Es ist egal, zu welchem Schluss Professor Brock kommt. Es zählt nicht, weder für sie noch für mich«, ergänzte sie.

»Ich hatte nicht das Gefühl, dass ihr euch viel zu sagen hattet.«

»Das sieht nur so aus. In Wirklichkeit sind wir so.« Sie legte beide Fäuste aneinander.

»Was meinst du mit raushauen?«

»Was wohl?« Sie hielt ihm so schnell eine Faust unter die Nase, dass er zurückzuckte. Sie lachte. »Ich mache Spaß.«

»Spaß? Cara, das ist kein Witz. Was man deiner Schwester vorwirft, ist ein Schwerverbrechen. Ich kann verstehen, dass du an ihre Unschuld glauben willst. Aber die Indizien sprechen eine deutliche Sprache.«

»Sie lügen! Indizien. Was denn für Indizien?«

»Hast du dich mit Charlies Anwalt in Verbindung gesetzt?«

»Nein. Warum sollte ich das tun?«

»Weil er dir, vorausgesetzt, deine Schwester ist damit einverstanden, Akteneinsicht gewähren kann. Du solltest auch zur Polizei gehen. Wenn du mehr erfahren willst als das, was die Zeitungen schreiben, musst du methodischer vorgehen.«

Sie gab einen nachdenklichen Laut von sich.

»Charlie hat ein Geständnis abgelegt. Es tut mir leid. Wirklich. Außerdem hat sie sich auch uns gegenüber nicht gerade kooperativ verhalten.«

»Was heißt das?«

»Sie redet nicht darüber, was sie getan hat.«

»Weil sie es nicht war!«

»Sie hat einen Selbstmordversuch unternommen.«

Cara seufzte. »Das kennen wir doch schon. Es nervt mich!«

Er sah sie verwundert an. Ihre Sprünge von Trauer zu Euphorie waren ihm schon aufgefallen. Die Kaltschnäuzigkeit aber, mit der sie dieses Drama behandelte, irritierte ihn. In Dessau hatte er ihr Verhalten noch mit Hilflosigkeit entschuldigt. Er hatte einfach nicht wahrhaben wollen, dass es eine Seite an Caras Charakter gab, mit der er nicht klarkam.

»Sie tut sich nichts an. Wahrscheinlich hatte sie einen schlechten Tag und wollte einfach nur schnell nach Hause.«

»Sie kam auf die Intensivstation. Sie hat viel Blut verloren. Aber sie hatte auch eine Schutzpatronin.«

Verwundert sah Cara ihn an.

»Die heilige Katharina. Jemand hat ihr eine kleine Kette mit einem Anhänger gebracht.« – Cara riss die Augen auf. »Wer?«

»Ein Seelsorger.«

»Bist du sicher?«

»Ich war nicht dabei. Was irritiert dich so daran?«

Cara sah zur Seite, als ob sie nach dem Bus Ausschau halten würde. Dabei presste sie die Lippen aufeinander.

»Was ist los?«

Sie stand auf. »Nichts. Eine Kindheitserinnerung. Ein Zufall. Wir haben beide so einen Anhänger zur Kommunion bekommen. Das war, noch bevor wir nach Wendisch Bruch gezogen sind. Die Dinger werden ja verteilt wie Bonbons zu Karneval. – Ist er das?«

Ein Bus kam und hielt. Der Fahrer öffnete die Tür, Jeremy schüttelte den Kopf. Der Bus fuhr weiter. Die Gardinen in Brocks Arbeitszimmer bewegten sich nicht mehr. Jeremy stand nun ebenfalls auf.

»Ich muss wieder hoch. Bleibst du noch?«

»Hier?« Sie sah sich mit einem amüsierten Lächeln um. »Wenn du mir am Abend ein paar Zeitungen zum Zudecken bringst?«

»Ich meine, in Berlin.«

»Ich muss erst mal nachdenken. Kann ich zu dir?«

»Das geht nicht«, sagte er schnell. »Ich habe Professor Brock versprochen, keinen privaten Kontakt mehr zu dir zu haben.«

»Äh – wie bitte?«

»Ich muss unsere Beziehung auf der beruflichen Ebene halten.«

»Unsere Beziehung?«

Cara drehte ihm jedes Wort im Mund herum, und er war dieser Situation nicht gewachsen.

»Und du tust natürlich, was dein Professor dir sagt. Ich verstehe.«

Er wunderte sich, dass sie keine Handtasche dabeihatte, aber vielleicht gewöhnten Tierärztinnen sich diesen Luxus irgendwann ab.

»Ich besorge dir ein Hotel.«

»Ich will kein Hotel! Ich kenne hier keinen Menschen. Nur dich.«

Sie versuchte, ihren Autoschlüssel aus der Vordertasche ihrer knallengen Jeans zu befreien. Endlich hatte sie ihn in der Hand.

»Und wenn ich jetzt nur mit dir reden will? Und vielleicht noch ein bisschen was anderes?« Sie kam näher. Der Blick aus ihren dunkelblauen Augen war wie ein Netz, in dem Jeremy sich verfing. »Er muss es doch nicht erfahren.«

»Das geht nicht.« Gerade noch rechtzeitig war Jeremy eingefallen, dass seine berufliche Zukunft auf dem Spiel stand. »Ich mache dir einen Vorschlag. Ich bringe dich in ein Hotel, und heute Abend lade ich dich zum Essen ein. Und wir reden über alles.«

»Alles?«, fragte sie leise.

Er nahm sie in den Arm. Es war ihm egal, was Brock dachte. Wenn der Professor ihm nicht zutraute, mit dieser Situation klarzukommen, konnte er auch nichts daran ändern. Sie hob ihren Kopf und wollte ihn küssen, aber Jeremy wich der Berührung ihres Mundes aus. Seine Lippen streiften ihre Schläfe. Er spürte ihren Körper, gespannt wie ein Bogen, bereit zur Flucht.

»He«, flüsterte er. »Beruhige dich. Es ist für keinen von uns leicht. Du bist nicht allein.«

»Ja, Herr Doktor. Darf ich fragen, wie weit Ihre Fürsorge geht?«

Er küsste sanft ihre Schläfe. »Bis hierhin und nicht weiter.«

»Verdammt!« Sie riss sich los. »Also gut. Wir sehen uns heute Abend. Und dann reden wir. Über alles?«

»Über alles. Nur nicht über Charlie.«

Das Dorf der Mörder
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