22

Mieze hatte Kaffee gekocht und in einer Anwandlung seltener Großzügigkeit sogar einen Blechkasten Kekse spendiert. Jeremy holte unter ihrem strafenden Blick gleich seine Lieblingssorte heraus: lange, schmale Schokoladenwaffeln. Er ließ sich die erste auf der Zunge zergehen, während er bei einer Tasse Kaffee im Vorzimmer darauf wartete, dass Cara erschien.

Er hatte ihr nicht angeboten, sie abzuholen, und sie hatte auch nicht darum gebeten, dass er es tat. Nachdem er sie am vergangenen Abend vor einer kleinen Pension in der Fasanenstraße abgesetzt und sie sich freundschaftlich, aber nicht zärtlich verabschiedet hatten, war ihm auf dem Nachhauseweg Caras plötzlicher Anfall nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Als er seinen Vater noch wach, lesend und allein im Kaminzimmer vorfand – Henny konnte mit dieser Art Abendgestaltung nichts anfangen und hatte sich in einer der Himbeerbowlen-Abschleppbars rund ums Roseneck mit ihren Freundinnen verabredet –, war er nicht wie sonst mit einem kurzen Gruß vorübergegangen, sondern hatte sich ihm gegenüber in das englische Ledersofa geworfen.

Jason Saaler ließ Francis Bacons Essays sinken und legte den Band, als er sich sicher war, dass Jeremy ein Gespräch suchte, auf einen Stapel zu Alain Badiou, Platon, Donald Davidson und Richard Rorty. Alles Lektüre, die der Vater dem Sohn des Öfteren ans Herz legte und die dieser zugunsten von Literatur verschmähte, die bei echten Philosophie-Connaisseuren nur ein müdes Lächeln provozierte: Safranski, Sloterdijk, die modernen Salonduellanten, die das Denken an die Late-Night-Formate der öffentlich-rechtlichen Sender angepasst hatten. Zumindest war das Jason Saalers Meinung.

»Störe ich?«

Sein Vater nahm die Brille ab. Das gnädige Halbdunkel der Bibliothek, die schimmernden Buchrücken in den Regalen, das kaum berührte Whiskey-Glas auf dem Couchtisch, all das ergab Rahmen und Grundfarbe des Gemäldes, das Jeremys Vater sogar in seiner knappen Freizeit gerne von sich präsentierte. Patriarch am Abend. Wenn nur die tiefen Falten in seinem Gesicht nicht gewesen wären und die Müdigkeit in seinen Augen, die er sich nur gestattete, wenn Henny nicht in der Nähe war.

»Nein. Wie geht es voran bei Gabriel?«

»Gut.« Jeremy hatte nicht vor, seinen Vater über die diversen Bolzen in Kenntnis zu setzen, die er geschossen hatte. »Ich wollte dich fragen, ob du schon einmal von einer Baby-Phobie gehört hast und was das auslösen könnte.«

»Du meinst, Angst vor einer Schwangerschaft?«

Jason Saaler griff zu seinem Glas und trank einen kleinen Schluck. Mit einer Kopfbewegung wies er auf die gut bestückte Hausbar. Jeremy hob abwehrend die Hand.

»Nein. Babys. Besser gesagt, das Geschrei von ihnen.«

»Oh ja.« Jeremys Vater lächelte eine Spur erleichtert. Wahrscheinlich hatte er im ersten Moment vermutet, sein Sohn würde sich im Hinblick auf eine unerwünschte Schwangerschaft an ihn wenden. »Es gibt, glaube ich, niemanden, der das auf Dauer erträgt. Außer einer Mutter. Warum fragst du? Gibt es Abschnitte in deiner Lebensplanung, die du ohne mein Wissen erreicht hast?«

Jeremy verneinte mit einem kurzen Schütteln des Kopfes. »Es geht um eine Bekannte. Ich habe heute Abend zum ersten Mal erlebt, wie jemand wegen eines schreienden Kindes komplett die Nerven verliert.«

»Wie bedauerlich, dass die eigene Erinnerung erst so spät einsetzt. Sonst wüsstest du, dass deine Stimme die Lalique-Gläser deiner Urgroßmutter in der Vitrine zerspringen ließ.«

Ohne es zu wollen, musste Jeremy lächeln. Das war ihm in Gegenwart seines Vaters lange nicht mehr passiert. Wie selten doch ganz normale Regungen in diesem Haus waren. Lachen, Ärger, Ungeduld, impulsives Mitteilungsbedürfnis – hatte es das je gegeben? Oder hatte Jeremy auch daran die Erinnerung verloren?

»War ich so schlimm?«

»Die Ausgeburt des Teufels. Ich traute mich monatelang nicht, vor zehn Uhr abends nach Hause zu kommen. Das war meiner Karriere zwar ungemein förderlich, aber wenn ich geglaubt hatte, deinen Wutanfällen aus dem Weg gehen zu können, hatte ich mich getäuscht.«

»Das wusste ich gar nicht.«

»Deine Mutter hat den Großteil abgefangen. Ich habe viel an sie delegiert. Aber das war ja nicht dein Thema. Nein, eine Babygeschrei-Phobie? Wie äußert sich die?«

»Unwohlsein, Nervosität, Zittern, Panik.«

»Immer mehr Menschen werden von Lärm in den Wahnsinn getrieben. Gab es nicht mal einen Fall, in dem ein Mann den Gärtner des Nachbarn erschossen hat, weil er zu unchristlichen Zeiten den Rasen mähte?«

»Schon möglich.« Jeremy merkte, dass er die Unterhaltung mit seinem Vater genoss. »Aber es ist doch eine recht selektive Wahrnehmung. Den ganzen Abend über war es schon sehr laut. Gelächter, Stimmen, Autohupen, Musik – alles kein Problem. Bis dieses Baby anfing zu schreien.«

»Wer ist denn die junge Dame?«

Die Schwester einer so gut wie verurteilten sadistischen Mörderin?

»Eine Bekannte.«

»Etwas Ernstes? Etwas, das vielleicht in Richtung Kinderwunsch geht?«

»Also, bei ihr bestimmt nicht.«

Jason legte einen Arm auf der Sofalehne ab. Er dachte nach. »Hat sie Geschwister?«, fragte er schließlich.

»Eine Schwester. Ich frage mich aber nach diesem Erlebnis heute Abend, ob ich die Bekanntschaft vertiefen soll.«

»Nimm es nicht so ernst«, antwortete Jason zu Jeremys Erstaunen, der erwartet hatte, dass alles, was abseits der tatsächlichen oder eingebildeten gesellschaftlichen Norm lag, abzulehnen wäre. »Vielleicht hat sie ihre Tage. Oder Migräne. Hat sie Kinder?«

»Nein«, antwortete Jeremy überrascht. Auf diese Idee war er nicht gekommen.

»Bist du sicher? Sie ist ja, noch, eine Bekannte. In diesem zarten Stadium offenbart man vielleicht noch nicht die gesamte familiäre Situation.«

»Wenn sie Kinder hätte, würde sie doch nicht so merkwürdig reagieren.«

Sein Vater schenkte ihm einen langen Blick. »Vielleicht hat sie sie nicht mehr.«

Jeremy brauchte ein paar Sekunden, um zu erfassen, was sein Vater meinte.

»Nein.« Er stand auf. »Nein, das glaube ich nicht. Du denkst an Adoption oder Babyklappe? Das kann ich mir bei ihr wirklich nicht vorstellen.«

»Jeremy, muss ich dich wirklich immer wieder daran erinnern, dass man Menschen ihre Vergangenheit in der Regel nicht ansieht?«

»Ausgeschlossen.«

»Vielleicht hatte sie einen Schwangerschaftsabbruch und erträgt den Anblick kleiner Kinder deshalb nicht. Wurde sie denn auch aggressiv?«

»Natürlich. Sie hat die Mutter angeschrien.«

»Irgendwie sympathisch.«

»Ich hatte Angst, sie bekommt einen Anfall. Sie zitterte am ganzen Körper, und wenn ich nicht dazwischengegangen wäre, wäre sie auf die Frau vielleicht sogar losgegangen. Und auf den dämlich grinsenden Vater in seinen Trekkingsandalen gleich dazu.«

»Nichts gegen Trekking, mein Lieber. Trotzdem. So wie du den Vorfall schilderst, hat sie offenbar wirklich ein massives Problem mit schreienden Kindern. Das ist in unserer Welt, die auf maximale Befriedigung der individuellen Wünsche ausgerichtet ist, mittlerweile als normal anzusehen. Mach dir keine Sorgen. Sie muss eine außergewöhnliche junge Frau sein, abseits der gängigen Normen. Du hast noch nie mit mir über deine Freundinnen gesprochen.«

Jeremy schluckte seine Wut hinunter. »Sie ist nicht meine Freundin. Eine Bekannte. Mehr nicht.«

»Bring sie trotzdem einfach mal mit.«

»Damit du sie analysieren kannst?«

»Damit wir wenigstens ab und zu so tun, als wären wir eine Familie.«

»Herr Saaler? Alles in Ordnung?«

Mieze reichte ihm einen Unterteller, damit er die geraubten Schokowaffeln darauf ablegen konnte. Die Hälfte des Überzugs war bereits in seiner Hand geschmolzen. Er eilte kurz in den Waschraum, um das Malheur zu beseitigen, da hörte er schon den Türgong.

Cara war pünktlich. Er hoffte, dass die abstrusen Überlegungen, die sein Vater ihm präsentiert hatte, nicht ständig in seinem Kopf Karussell spielten. Adoption. Babyklappe. Abtreibung. Alles in ihm sträubte sich, sich mit diesen Themen zu beschäftigen. Als er Cara begrüßte, bemühte er sich, seine düsteren Gedanken zu verbergen.

Es war ihr gelungen, wieder in Blütenweiß zu erscheinen. Ob sie ihre Klamotten noch in der Nacht per Hand gewaschen und anschließend gebügelt hatte oder ob sie im Kofferraum ihres Autos immer eine klinisch reine Garnitur Blusen und Hosen mit sich führte, er wusste es nicht. Sie sah strahlend, rein und so unschuldig aus, dass sogar Mieze, die ihre Sympathien ausgesprochen ungerecht und nie vorhersehbar verteilte, ihr Lächeln erwiderte.

»Bin ich zu früh? Oder zu spät?« Cara, ein wenig atemlos und die Haare nur minimal zerzaust, sah auf ihre Armbanduhr.

»Sie sind genau richtig. Der Professor erwartet Sie schon«, antwortete Mieze. Sie schob Jeremy den Keksteller hinüber, damit er ihn mit in Brocks Arbeitszimmer nahm.

»Ich begleite dich.«

Mieze schaffte es nicht mehr rechtzeitig, verwundert die dichten Augenbrauen zu heben – dass Jeremy Besucher duzte, war neu –, denn das Telefon klingelte. Sie meldete sich mit der üblichen Floskel, und Jeremy wollte gerade mit Cara in den Flur gehen, als sie die Hand hob und die beiden mit dieser Geste bat, noch zu warten.

»Ja, er ist da. Einen Moment bitte, ich stelle durch.«

Sie tippte Brocks Nummer in die Tastatur und legte auf.

»Frau Spornitz, ich muss Sie bitten, noch einen Moment in unserem Wartezimmer Platz zu nehmen.«

Cara sah fragend zu Jeremy, der auch nicht mehr wusste, und nickte. Er begleitete sie die paar Schritte über den Flur, hielt ihr die Tür auf und drückte ihr den Teller mit seinen Schokoladenwaffeln in die Hand, den sie in Anbetracht ihrer weißen Bluse so weit wie möglich von sich weghielt.

»Ich bin gleich wieder da. Mach dir keine Sorgen. Es tut nicht weh.«

Er lächelte sie beruhigend an. Später erinnerte er sich an seine letzten Worte, und sie schienen ihm im Nachhinein wie ein Menetekel all dessen, was so klar und vorhersehbar begonnen hatte und in einer Katastrophe endete.

Er kehrte zu Mieze zurück, die mit besorgtem Gesichtsausdruck begann, die restlichen Kekse auf einem Teller in geografischen Mustern zu ordnen.

»Die Staatsanwaltschaft«, sagte sie leise. »In Sachen Rubin.«

Das Telefonat konnte nicht länger als drei Minuten gedauert haben, aber Jeremy kam es vor wie eine Ewigkeit. Endlich hörte er, wie der Professor die Tür seines Arbeitszimmers öffnete und ein paar Begrüßungsworte mit Cara wechselte.

»Herr Saaler?«

Brock trat in den Flur. Jeremy konnte der ernsten Miene des Professors ansehen, dass etwas vorgefallen war. Und in den wenigen Augenblicken, die er brauchte, um zu ihm in sein Büro zu gelangen und sorgfältig die Tür hinter sich zu schließen, damit Cara das Folgende nicht mitbekam, wusste Jeremy, was passiert war.

»Charlotte Rubin ist tot«, sagte Professor Brock leise. »Sie hat sich heute Nacht in der Untersuchungshaft das Leben genommen.«

Das Dorf der Mörder
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