37

Kriminalhauptkommissar Lutz Gehring schoss mit hundertzwanzig Stundenkilometern über die Stadtautobahn und war drauf und dran, auch noch das Blaulicht aufs Dach zu klemmen. Während er versuchte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren, schweiften seine Gedanken ständig ab und wirbelten alle Informationen, die im Laufe dieses so unschuldig begonnenen Tages bei ihm aufgelaufen waren, durcheinander. Außerdem bombardierten ihn Zweifel, ob das, was er tat, richtig war und nicht doch eine überstürzte Kurzschlusshandlung. Spätestens an dieser Stelle warf er einen Bremsklotz unter das Karussell in seinem Kopf. Er hatte noch nie etwas überstürzt.

Dann bemühte er sich von vorne, all das zu rekapitulieren, was ihm in seinem Büro kurze Zeit vorher so klar und eindeutig erschienen war.

Denn vor zwei Stunden hatte sich etwas herauskristallisiert, womit niemand, wahrscheinlich noch nicht einmal Sanela Beara selbst, gerechnet hatte: Er hatte begonnen, sich mit dem Gedanken anzufreunden, wirklich tätig zu werden. Und zwar so schnell wie möglich. Genauer gesagt auf der Stelle. Ohne Rückendeckung durch seinen Dienstherrn oder den Staatsanwalt. Darum kümmerte sich mittlerweile Frau Schwab. Es war Gefahr im Verzug, und Gehring, der schon eine Menge erlebt hatte in seiner Laufbahn, war sich der Bedeutung dieser Worte noch nie so bewusst geworden wie in diesem Moment halsbrecherischer Raserei Richtung Süden.

Angefangen hatte es mit Tomislav Bearas Besuch und geendet mit einem Durcheinander aus Notizzetteln, Computerausdrucken und Telefonprotokollen – die sich dank Schwabs Recherche von Verdachtsmomenten schlagartig in Indizien verwandelt hatten. Er konnte die Augen nicht länger davor verschließen, auch wenn er sich nicht sicher war, ob andere das genauso sahen. Vielleicht irrten sie sich, er und die Schwab, und sie machten sich in der Sedanstraße zum Witz des Jahrhunderts.

Stopp. Er wollte nicht weiter denken als von seinem Lenkrad bis zur nächsten Stoßstange. Das alles hatte Zeit. Zeit bis Wendisch Bruch. Noch einmal griff er zu seinem Handy und versuchte eine Bluetooth-Verbindung zu Beara, vergeblich.

»Wenn ich dich erwische …«, murmelte er und startete einen weiteren riskanten Überholvorgang.

Aber sie rief auch nicht zurück. Sie war und blieb verschwunden. Und langsam verwandelte sie sich in seiner Wahrnehmung. Von einer karriere- und detailbesessenen, im Grunde genommen ganz und gar unsympathischen Person in jemanden, um den er sich Sorgen machte. Sie wurde zu einem Menschen, der sich auf ihn verlassen hatte.

Er wusste nicht, was er machen würde, wenn er sie zwischen die Finger bekäme. Aber das hatte Zeit. Beara musste gefunden werden. So schnell wie möglich. Und dann die anderen Opfer eines so unfassbaren Verbrechens, verübt vor den Augen einer schweigenden Dorfbevölkerung und eines versagenden Beamtenapparates.

Ein Streifenwagen hatte sich unmittelbar nach Tomislav Bearas Besuch von Jüterbog aus nach Wendisch Bruch auf den Weg gemacht. Ihr Vater hatte Typ und Kennzeichen des Autos seiner Tochter bei den Kollegen hinterlassen, noch gab es keine Rückmeldung. Vielleicht hatte sie dem Dorf schon längst den Rücken gekehrt? Aber das war nicht ihre Art. Sie war ein Terrier. Klein, blitzschnell, ewig unterschätzt. Die verbissen sich am meisten.

Sie war noch da. Davon war Gehring überzeugt. Sonst hätte sie ihn schon längst mit weiteren Anrufen und Theorien bombardiert. Dass sie es nicht tat, passte nicht zu ihr. Er dankte seiner Eingebung, dass er Gerlinde Schwab hinzugezogen hatte.

Sie hatte gute – nein, hervorragende Arbeit geleistet. Die Liste der Einwohner von Wendisch Bruch, die weggezogen oder verstorben waren, war lang.

»Ich soll ihm einen Streuselkuchen vorbeibringen, wenn ich mal in der Stadt bin«, hatte sie die gewaltige Ausbeute erklärt. Da war Gehring noch stolz auf sich, Schwabs verschüttete Talente wenigstens zum Teil freigelegt zu haben. Was folgte, hatte ihn in genau die Situation gestürzt, in der er sich nun befand: wachsende Unruhe und äußerste Sorge.

»Da wären erst mal die, die im Lauf der Jahre weggezogen sind.« Schwab reichte ihm ein Blatt Papier über den Schreibtisch, auf dem über zwanzig Positionen mit den Namen von Einzelpersonen oder ganzen Familien verzeichnet waren. Er überschlug die Zahl und kam auf über fünfzig Leute. Ein Exodus. Der schleichende Tod eines brandenburgischen Dorfes, und das innerhalb weniger Jahre.

»Begründung: kein Job. Ich habe noch nicht jeden Einzelnen nachprüfen können, aber bei den meisten stimmt es wohl. Viele sind nach Berlin gegangen. Einige auch nach Westdeutschland, in die Schweiz und nach Österreich. Dort werden vor allem Stellen im Gast- und Hotelgewerbe besetzt, also keine Fachkräfte. Man kann ziemlich schnell und unauffällig von vorne anfangen. Manche habe ich erreicht. Sie erklärten übereinstimmend, dass es wirtschaftliche Gründe waren, warum sie Wendisch Bruch verlassen haben. Aber zwei von ihnen sagten noch etwas. In verschiedenen Worten, aber dem gleichen Sinn: Die Chemie hätte sich verändert.«

»Die Chemie?« Gehring sah kurz von dem Blatt hoch. Weder Erich Wahl noch Harald Schmidt standen darauf.

»Eine Art unheilvolle Atmosphäre. Der eine sagte, es wäre so gewesen, als ob ein Foto seine Farben verloren hätte. Wie alte Aufnahmen aus den siebziger Jahren, die alle nur noch verwaschene Rot- und Grüntöne haben. Je mehr Leute wegzogen, desto düsterer wurde es.«

»Das ist mir klar.« Er legte das Blatt auf seinem Schreibtisch ab. »Aufgegebene Häuser im Stadtbild sind wie ein Geschwür, das sich nicht mehr schließt. Keiner will mehr hinziehen, die Häuser verlieren ihren Wert, eins steckt das andere an, schließlich stehen sie leer und verfallen. Ein Teufelskreis.«

»Der aber in diesem Fall vielleicht noch eine andere Ursache hat, wie Sie bereits vermutet haben. Oder?« Sie schob ihm das nächste Blatt zu. Fünf Namen. Vennloh, Schmidt, Weber, Weber, Sachs.

»Diese Personen sind unbekannt verzogen, es gibt keinen Hinweis auf ihren Aufenthalt. Sie haben sich nirgendwo neu angemeldet, sondern sind einfach von der Bildfläche verschwunden. Weg. Einfach weg.«

Stirnrunzelnd warf Gehring einen Blick auf die Namen. Fünf Menschen mit ungewissem Schicksal. Der Tag fing gut an. Und er sollte in diesem Stil weitergehen.

»Da unten, sehen Sie? Dort, wo ich die beiden Kreuze gemacht habe. Weber und Vennloh. Herr Kannegießer meinte, bei diesen zweien gab es einen Vermerk, dass sie ins Ausland gegangen wären oder die Absicht gehabt hätten.«

»Warum sind sie dann nicht auf Liste eins?« Er griff nach dem ersten Blatt, das er bereits zur Seite gelegt hatte. Ein langer, schwerer Blick aus Schwabs kleinen Augen veranlasste ihn, es wieder sinken zu lassen.

»Okay. Was meinte Ihr Herr …«

»Kannegießer?«

»Wer ist das eigentlich?« Ihm war kein Kollege dieses Namens bekannt. Hoffentlich hatte Schwab den Mund gehalten und nicht irgendeinen Polizeidienstanwärter auf die Sache angesetzt.

»Luckenwalde. Meldestelle. Der Streuselkuchen.« Frau Schwab errötete erneut, und Gehring ahnte, dass der Anstieg ihres Blutdrucks vielleicht Folge eines netten Telefonflirts war. »Also, nicht der Streuselkuchen natürlich, sondern Herr Kannegießer vom Einwohnermeldeamt, der kriegt ihn …«

Sie verhedderte sich, errötete noch mehr und beugte sich über ihre Notizen. »Die Webers und Vennloh. Gisela und Walter Weber wollten an die Costa Blanca. Gerd Vennloh hat sich an der Verlosung einer Green Card für die USA beteiligt und auch eine gewonnen. Oklahoma. Er ist aber nie dort angekommen.«

Sie schwieg. Kunstpausen mochte Gehring gar nicht. Wenn jemand etwas zu sagen hatte, sollte er das tun. Bei fünf spurlos verschwundenen Menschen, alle aus einem einzigen Dorf, sollte man so schnell wie möglich zur Sache kommen.

»Was heißt das?«, fragte er und machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Vennloh hat Deutschland niemals verlassen. Mehr konnte ich nicht herausfinden, da müssten die Kollegen von Interpol tätig werden. Er hat sich zwar auf dem Einwohnermeldeamt abgemeldet, sich aber niemals löschen lassen.«

»Das kann man in Oklahoma durchaus mal vergessen, oder?«

»Er ist aber nie in die USA eingereist. Sein Name taucht in den Akten der Einwanderungsbehörde nicht auf. Er hat sich am 22. März 1995 in Luckenwalde abgemeldet und ist seitdem wie vom Erdboden verschluckt.«

»Weiter?« Sie hatten noch nicht einmal die Hälfte durch.

»Okay. Ganz unten. Gisela und Walter Weber. Sie wollten an die Costa Blanca. Sie sind nie dort angekommen. Es hat sie auch keiner vermisst. Allerdings …« Sie sah hinunter auf ihren Notizblock, schüttelte den Kopf über ihre eigene Schusseligkeit und schlug hektisch mehrere Seiten zurück. »… sind ein Mann und eine Frau im ungefähren Alter der Webers ein paar Wochen später als unbekannte Tote aufgefunden worden.«

»Wo?«

»Einmal in einem leeren Güterwaggon, der in der Nähe von Hanau abgestellt worden war. Der Mann konnte nicht mehr identifiziert werden. Auch die Frau nicht, die man Wochen später in einem Waldgrundstück Nähe des Autobahnzubringers Konstanz gefunden hat. Da es keine Vermisstenmeldungen gab und man sie auch nicht miteinander in Verbindung brachte, konnten die Fälle bis heute nicht aufgeklärt werden.«

»Aber das muss in so einem Dorf doch aufgefallen sein?«

»Nicht, wenn man den Hausstand aufgelöst und sich auf Nimmerwiedersehen verabschiedet hat. Wir sollten versuchen, anhand von noch vorhandenen DNA-Spuren in ihrem Haus einen Abgleich zu machen. Ich vermute, das wären dann die ersten beiden nachweisbaren Morde.«

Gehring merkte, wie sich seine Schultern verspannten.

»Bleiben Sachs und Schmidt.«

»Ich habe beim BKA nachgefragt. Nachdem sie sich abgemeldet haben, sind keine unbekannten Toten ihres Alters im Register aufgetaucht.«

»Das lässt doch hoffen.«

»Ja«, antwortete sie. Es klang nach dem genauen Gegenteil.

»Worst case: Beide sind tot, ihre Leichen noch nicht gefunden.« Er sah das dritte Blatt in Schwabs Hand, und ihm schwante Unheil. »Das kann doch nicht sein!«

Entnervt warf er die Blätter auf den Schreibtisch. »Ein halbes Dutzend Leute verschwinden spurlos? Und das soll keinem aufgefallen sein? Ich dachte, in Dörfern wäre die Welt noch in Ordnung. Jeder kennt jeden. Wie können aus einem Hundert-Seelen-Kaff so viele Leute verschwinden, ohne dass sich ein Mensch darum kümmert? Keine einzige Vermisstenanzeige. Keine Nachfragen von Behörden. Wie zum Teufel kann das passieren?«

Schwab zuckte mit den Schultern. »Es ist im Lauf von mehreren Jahren geschehen. Die meisten waren alleinstehend. Männer mittleren bis gehobenen Alters, geschieden, getrennt lebend.«

Sie spielte mit ihrem Ehering, unbewusst.

»Was sagt denn Ihr Mann?«

»Wie meinen Sie?«

»Dass Sie am Wochenende noch arbeiten.«

Sie sah auf ihren Ring, dann hoch zu ihm. Einen Moment lang herrschte Stille. »Ich bin geschieden. Schon lange. Ich bekomme den Ring nicht mehr ab. Es wäre überfällig, wir sind schon seit acht Jahren getrennt. Und trotzdem …«

Sie errötete wieder. Gehring wollte nicht, dass sie sich genierte.

»Das tut mir leid. Wirklich. Ich dachte …«

Sie zupfte an einem ihrer übereinander getragenen, weiten Röcke herum, dann räusperte sie sich. »Wendisch Bruch ist kein Dorf im herkömmlichen Sinne.«

Gehring, dankbar für den schnellen Themenwechsel, sah auf die Berlin-Karte an der Wand, die natürlich nicht bis in den Fläming reichte.

»Wo liegt es eigentlich?«

»Darf ich?«

Frau Schwab erhob sich ächzend und schwankte, schwer wie ein Matrose bei Wellengang, um den Tisch. Mehr aus Reflex als aus Höflichkeit stand Gehring auf und machte ihr Platz. Innerhalb kürzester Zeit präsentierte sie ihm auf dem Monitor seines Computers die Landkarte des südlichen Brandenburgs, Bezirk Teltow-Fläming.

»Das ist ja am …«, setzte er an.

»Genau.« Frau Schwab kehrte mit Mühe wieder zu ihrem eigenen Stuhl zurück. »Nur eine knappe Stunde von Berlin, auf halbem Weg nach Dessau.«

»Dessau.«

Auch darüber stand etwas in der Akte. Er würde später nachschlagen.

»Was also ist das Besondere an diesem Ort?«

»Zu DDR-Zeiten war das ganze Land in LPG-Hand. Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften. Freie Bauern gab es nicht mehr, ihr Land war weg, ihr Besitzanspruch stand nur noch auf dem Papier. Wendisch Bruch gehörte zur LPG ›Banner der Völkerfreundschaft‹. 1969 gegründet, dann mit der LPG Buschwiesen und noch einer und noch einer zusammengeschlossen. Die LPG Banner der Völkerfreundschaft war eine der größten der DDR. Und wo viele Indianer sind, muss es auch eine Menge Häuptlinge geben. Die Vorsitzenden. Fast alle von denen wohnten in Wendisch Bruch.«

»Sagt Ihr Streuselkuchen?«

»Sagt Herr Kannegießer. Er kommt aus dem Fläming und ist dort aufgewachsen. Wir haben wirklich lange miteinander geredet.«

»Das glaube ich gerne. Was erzählt er denn noch so über das Dorf der LPG-Vorsitzenden?«

»Dass es eben keine gewachsene Gemeinschaft mehr war, sondern eher eine zusammengewürfelte, die nach der Wende auseinanderbrach. Die Rückübertragungen taten ihr Übriges, viele wollten woanders nochmal von vorne anfangen. Geblieben sind eigentlich nur die, die keine Alternative hatten. Unter uns: ein Dorf von Losern. Es erinnert mich an verfallende Plattenbau-Siedlungen. Häuser, in denen nur noch die kleben bleiben, die den Absprung nicht schaffen. Da ist Schluss mit Zusammenhalt. Da achtet keiner auf den anderen, er verachtet ihn höchstens, weil er genauso wenig auf die Reihe bekommt wie man selbst.«

»Vermutungen«, grollte Gehring. Wer weiß, was dieser Streuselkuchen in Luckenwalde Frau Schwab sonst noch ins Ohr gekrümelt hatte.

»Aber eine Vermisstenmeldung haben wir doch.« Mit einem triumphierenden Lächeln beugte sie sich vor und tippte auf ein Sternchen neben dem Namen Sachs.

»Klaus Sachs«, fuhr sie fort. »Sein Vater lebte in Chemnitz, aber der Kontakt war wohl nicht so eng, sodass ihm das Verschwinden seines Sohnes erst Monate später aufgefallen ist. Der Vater selbst ist schon vor einiger Zeit verstorben. Die Beamten in Jüterbog haben das damals aufgenommen und bearbeitet. Sachs hatte Schulden, sein Haus ist unter den Hypotheken fast zusammengebrochen. Erst nach mehreren Beschwerden des Vaters wurde eine Fahndung ausgelöst, allerdings ohne Dringlichkeit. Man vermutete einfach, er habe sich wegen der Schulden abgesetzt.«

Gehring setzte an, um etwas in der Art wie »Jüterbog – Polizist – Kopf kürzer machen« zu notieren, ließ es dann aber bleiben. Frau Schwab schien da auf ihre ganz eigene Art weitaus mehr zu erreichen. Vielleicht konnte er sie am Montag nochmal auf die Dienststelle ansetzen, wenn es um die Todesumstände des Bäckers und des Metzgers ging. Er seufzte.

»Was haben Sie da noch?«

Fast zögernd reichte sie ihm den letzten Zettel. Karl Schenk, Schreiner. Jörg Berger, Bäcker. Georg Kordes, Elektriker. Er wappnete sich, weitere schlechte Nachrichten zu erfahren.

»Diese drei sind definitiv tot. Alles Unfälle, alle in den Jahren dreiundneunzig bis sechsundneunzig. Über die Todesursachen müsste ich aber nochmal mit dem Kollegen in Jüterbog sprechen. Er will sich dahinterklemmen.«

»Danke.« Gehring nickte knapp. »Gute Arbeit. Bleiben Sie dran, vielleicht taucht ja einer der Vermissten noch in alten Registern auf.«

Schwab erhob sich ächzend. »Was glauben Sie? Hat Charlotte Rubin ein halbes Dorf auf dem Gewissen?«

Gehring starrte auf die drei Blätter. Über fünfzig Leute, die weggezogen sind. Fünf Vermisste – rechnete man die im Ausland verschwundenen Personen mit, mindestens drei Tote. Alles innerhalb von wenigen Jahren. Rubin hätte ihr mörderisches Handwerk in zartem Alter beginnen müssen. Zwei weitere Tote – Leyendecker und sein Kollege. Zählte er noch den verschwundenen Erich Wahl dazu, dann waren das insgesamt elf ungeklärte Schicksale. Zu viel für so ein kleines Dorf. Was er befürchtet hatte, war eingetreten. Das war kein Fall mehr für die Berliner Mordkommission. Das musste umgehend ans BKA.

Sein Telefon klingelte.

»Ja?«

»Brock ist mein Name.« Eine angenehme, wohlartikulierte Stimme. »Ich war der psychologische Gutachter von Charlotte Rubin. Entschuldigen Sie, wenn ich störe. Ich weiß, es ist Wochenende. Aber man sagte mir, Sie seien dennoch im Hause, und ich muss jemanden sprechen, der mit den Ermittlungen in diesem Fall zu tun hat.«

»Ja?«, sagte Gehring vorsichtig. Seine Aufnahmefähigkeit war für den Moment erschöpft. Er erinnerte sich flüchtig an das Gespräch mit Brocks wissenschaftlichem Mitarbeiter, einem integer wirkenden jungen Mann.

»Ich muss mit Ihnen reden. Jeremy Saaler, mit dem Sie gesprochen hatten …«

»Ich entsinne mich.«

»Ich habe keine Verbindung mehr zu ihm. Ich mache mir Sorgen. Große Sorgen.«

Frau Schwab hatte sich mittlerweile erhoben und stand abwartend an der Tür. Gehring machte ihr ein Zeichen, dass sie warten sollte.

»Warum?«

»Ich bin noch einmal meine Unterlagen durchgegangen. Und die Aufzeichnungen unseres Diktaphons. Ich habe den Verdacht, dass Frau Spornitz, die Schwester, Mitwisserin der Taten ihrer Schwester ist. Vielleicht sogar noch mehr.«

»Welcher Taten?« Gehring brach der Schweiß aus. Es war stickig und heiß im Büro, aber mit einem Mal bekam er das Gefühl, alle Welt wüsste bereits, dass der Mord im Tierpark nichts anderes gewesen war als das Finale einer grausamen Serie von Tötungsdelikten. Alle Welt, nur nicht die Polizei. Halt. Bis auf eine Ausnahme: eine vom Erdboden verschluckte Streifenpolizistin.

»Ich merke, Sie haben nicht viel Zeit, dennoch bitte ich Sie, mir einen Moment Gehör zu schenken. Ich muss meine Meinung über Frau Rubin revidieren. Ich bin selbst erstaunt, wie mir ein solch kapitaler Fehler unterlaufen konnte, aber ich halte sie nicht nur für zurechnungsfähig, sondern auch für fähig, mehr als einen Mord begangen zu haben. Ich interpretierte ihr Schuldeingeständnis zunächst als den übermächtigen Wunsch, jemanden zu schützen.«

»Wen?«

Die Stille am anderen Ende der Leitung sollte Gehring Gelegenheit geben, von alleine die Antwort zu finden.

»Ihre Schwester?« Ihm fiel der Name nicht ein.

»Ich könnte mir vorstellen, dass beide gemeinsam in den Mord an Werner Leyendecker verwickelt waren.«

»Herr Professor, ich bin sehr in Eile. Cara Spornitz hatte für diesen Zeitraum ein Alibi, wenn ich mich recht entsinne.«

Er sah, wie Frau Schwab die Stirn runzelte und ihre Aufzeichnungen noch einmal durchging.

»Gerade sind wir dabei zu untersuchen, ob es außer Herrn Leyendecker weitere unaufgeklärte Vermissten- oder Todesfälle im Umfeld der beiden Schwestern gegeben hat. Könnten Sie mir Ihre neue Analyse vielleicht kurz schriftlich zusammenfassen?«

Schweigen. Hatte er den Gutachter jetzt vor den Kopf gestoßen?

»Es ist noch etwas.«

»Was denn?«

»Mein Mitarbeiter ist mit Frau Spornitz in Wendisch Bruch.«

Gehring war, als hätte ihn ein Blitz getroffen und alle Nervenenden in vibrierende Erregung versetzt.

»Bitte? Was zum Teufel macht er da?«

»Ich vermute, dass Frau Spornitz gewisse Erinnerungen einfach ausblendet. Herr Saaler will genau diese Erinnerungen wieder ans Licht holen. Deshalb ist er mit ihr dorthin gefahren.«

»Rufen Sie ihn sofort an!«

»Ich erreiche ihn nicht. Er ist verschwunden und meldet sich auch nicht. Das sieht ihm nicht ähnlich. Ich mache mir wirklich große Sorgen.«

Zu Recht, hätte Gehring am liebsten gesagt. Zu Recht. Warum habt ihr mich nicht informiert? Stattdessen wird herumgedoktort und gemutmaßt und im Nebel gestochert. Psychologen. Das Einzige, was er Brock wirklich abkaufte, war dessen Sorge um seinen jungen Mitarbeiter.

»Ich bin auf dem Weg nach Wendisch Bruch. Ich werde mich dort umsehen.«

»Vielen Dank«, sagte der Professor. »Bitte informieren Sie mich. Ich bin jederzeit für Sie erreichbar.«

Gehring legte auf. Er sammelte Frau Schwabs Zettel ein, ging zu ihr und drückte sie ihr in die Hand.

»Kennen Sie Herrn Rütter?«

»Den Staatsanwalt? Nur dem Namen nach.«

»Gehen Sie damit zu ihm. Nur zu ihm. Jetzt. Lassen Sie sich nicht abweisen. Die Bereitschaft wird Ihnen seine Nummer geben. Berufen Sie sich auf mich. Grüßen Sie ihn von mir, und machen Sie ihm unmissverständlich klar, dass dies – so verrückt alles klingen mag – vielleicht die größte Mordserie ist, die wir jemals in diesem Land hatten. Ich bitte um einen Großeinsatz und um Amtshilfe aus Potsdam. SEK und Scharfschützen. In diesem Dorf sind noch acht Menschen am Leben, dazu eine Polizistin, ein Psychologe und – eine unberechenbare Psychopathin.«

Frau Schwab holte tief Luft. Wenn sie jetzt etwas von Wochenende erzählte …

»Und wenn er mir nicht glaubt?«

Gehring ging zurück zu seinem Schreibtisch und holte seine Dienstwaffe aus der Schublade. Er hörte, wie Frau Schwab einen leisen Laut des Erschreckens ausstieß.

»Herr Gehring! Was machen Sie da? Was ist, wenn er mir nicht glaubt und das alles für hirnrissige Vermutungen hält?«

Gehring steckte die Waffe in sein Holster und griff nach seiner Anzugjacke, die über der Stuhllehne hing.

»Dann bin ich heute Abend wieder zurück.«

Er war schon fast an der Tür, da sagte sie noch etwas. »Das Alibi.«

»Was?«

»Frau Spornitz hatte ihre Teilnahme an dem Kongress abgesagt.«

Gehring erreichte die Stadtgrenze. Der Ausflugsverkehr führte schon zu ersten Staus. Er entschloss sich, das Blaulicht einzusetzen. Periculum in mora. Gegenwärtige, erhebliche Gefahr für Leib und Leben.

Das Dorf der Mörder
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