12

Charlotte Rubin erholte sich in den nächsten Tagen sehr gut, sodass einer Fortführung der Gespräche nichts im Wege stand. Mieze hatte den Termin auf Dienstag, neun Uhr gelegt. Jeremy war schon eine Stunde früher da. Er sammelte alle Bleistifte ein und prüfte die Stifte in Türklinken, die Stabilität der Fensterscheiben und die Gardinenschnur. So ähnlich musste es sein, wenn man eine Wohnung kindersicher machte. Dann las er noch einmal seine Transkription des letzten Protokolls – nicht viel, eine halbe Seite nur, einige kurze Antworten hinsichtlich Personenstand und Lebenslauf. Danach war sie in brütendes Schweigen versunken und hatte offenbar beschlossen, der Welt mit Hilfe eines Bleistifts den Rücken zu kehren.

Jeremy merkte, dass er nervös wurde. Brock hingegen, der kurz vor halb neun eintraf, war die Ruhe selbst und trank erst einmal, wie jeden Morgen, im Stehen seinen Kaffee an Miezes Schreibtisch, auch wenn dieser, wie beim letzten Mal, verwaist war.

»Guten Morgen, Herr Professor.«

Brock hob eine Heftklammer vom Boden auf und legte sie zu den anderen auf den magnetischen Bakelitspender, der neben Miezes Schreibtischunterlage stand. »Guten Morgen, Herr Saaler. Sind Sie die Interviewstruktur noch einmal durchgegangen?«

Sie hatten sich entschieden, bei einem guten Verlauf des Gesprächs die eigentliche Tat Charlotte Rubins erst zu einem späteren Zeitpunkt in Angriff zu nehmen. Die schwierigste Aufgabe würde es sein, die Frau zum Reden zu bringen. Über Wiesenblumen, Heilige oder was auch immer.

»Ja. Ich habe ihr etwas mitgebracht. Denken Sie, das ist eine gute Idee?«

Jeremy zog einen Rosenkranz aus der Jackentasche. Brock hob die Augenbrauen und ließ ihn sich geben. Nachdenklich ließ er einige der hölzernen Perlen durch die Finger gleiten.

»Wir werden sehen, wie sie darauf reagiert. Ich bin mir nicht sicher, ob der religiöse Aspekt tatsächlich eine so große Rolle spielt.«

Er reichte Jeremy den Rosenkranz zurück. »Übrigens dürfen weder Nonnen noch Priester ohne Besuchserlaubnis zu einer Gefangenen. Das wusste der Sicherheitsbeamte wohl nicht.«

»Sie haben sich erkundigt?«

»Mich interessiert, wer freiwillig Kontakt zu Charlotte Rubin aufnimmt. Bis jetzt hat sich kein Angehöriger gemeldet. Keine Freunde, keine Kollegen. Ihr soziales Umfeld beschränkt sich tatsächlich nur auf ihren Arbeitsplatz.«

Jeremy nickte. »Ihre Eltern sind tot, es gibt nur eine Schwester, die zur Tatzeit auf irgendeinem Kongress war. Weitere Verwandte hat sie keine. Enge Freundschaften, einen Mann, einen Freund oder Verlobten gibt es auch nicht.«

»Wir sollten vielleicht versuchen, mit ihrer Schwester Kontakt aufzunehmen.«

»Warum? Ist das nicht sehr ungewöhnlich?«

»In so einem Fall nicht. Mich interessiert, ob es schon früher Suizidversuche gegeben hat.«

»Mit früher meinen Sie vor dem Mord im Tierpark?«

Der Professor nickte.

»Erweiterter Suizid?«, hakte Jeremy nach.

»Nein. Die Tat im Tierpark und Rubins Selbstmordversuch liegen zeitlich zu weit auseinander. Aber wenn wir mehr über sie erfahren wollen und sie uns nicht weiterhilft, vielleicht kann es dann ein naher Angehöriger.«

»In den Unterlagen steht, dass Rubins Schwester die Aussage verweigert hat. Sie ist bis heute nicht gekommen, um ihre einzige Angehörige zu sehen, geschweige denn, um ihr nahe zu sein.«

»Versuchen Sie, mit der Frau Kontakt aufzunehmen«, sagte der Professor.

Der melodische Glockenton der Türklingel riss sie aus der Unterhaltung.

»Sind Sie bereit, Herr Saaler?«

Jeremy nickte. Seine Handflächen waren schweißnass.

Und dann machte Charlotte Rubin es ihm so einfach. Jeremy konnte sein Glück kaum fassen. Sie war immer noch scheu, wortkarg und zurückhaltend. Aber sie gab bereitwillig Auskunft zu allen seinen Fragen.

»Wie lange leben Sie schon in Berlin?«

»Zwanzig Jahre?« Sie sah ihn an, als ob sie von ihm eine Bestätigung erwarten würde. »Nein, weniger. Neunzehn. Ich bin auf dem Land groß geworden. Ich wollte immer was mit Tieren machen.«

»Wieso sind Sie dann ausgerechnet nach Berlin?«

Keine einfache Frage. Sie knetete die Hände, sah zu Boden. Suchte nach etwas, mit dem ein Entschluss, ein Lebensweg erklärt werden konnte.

»Stadtluft?«

Wieder ließ sie die Antwort wie eine Frage klingen. Jeremy lächelte und nickte. Er achtete darauf, dass der Recorder lief und einen messbaren Ausschlag hatte. Auf dem Papier machte er sich Notizen. Warum nach B.?, schrieb er.

»Das war sicher eine große Umgewöhnung, nicht wahr?«

»Ja.«

Fehler. Nie Fragen stellen, die sich mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten ließen.

»Was hat Ihnen am meisten zu schaffen gemacht?«

»Die Stille.«

»Dass es nicht mehr so ruhig war? Sie meinen den Lärm in der Großstadt?«

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. »Die Stille im Hochhaus. Deshalb war ich froh, als vor ein paar Jahren die Wohnung im Tierpark frei wurde. Da war es anders. Mitten im Grünen, bei den Tieren. Man hörte wieder was. – Natürlich, das tut man auch in einem Hochhaus. Man hört den Fahrstuhl. Den Verkehr unten auf der Straße. Manchmal Betrunkene, manchmal Musik. Aber sonst nichts. Das hat mir gefehlt.«

»Was genau?«

»Die Kühe. Die Vögel. Der Wind über den Feldern. Die Gewitter. Der Bach. Die Hunde. Nein. Die Hunde nicht.«

»Warum nicht?«

Ihre Hände wurden fahriger, strichen über den billigen Stoff ihres Hosenanzuges. Es musste derselbe sein, den sie beim letzten Mal getragen hatte. Jeremy ertappte sich dabei, dass er auf ihren Kragen schaute. Kein Blut. Kein Fleck. Also doch neue Kleidung. Schwer festzustellen bei diesen Polyesterteilen, die immer irgendwie zerknittert aussahen.

Brock nickte ihm zu. Er saß am anderen Ende des Zimmers in einem Sessel und tat so, als ob er mit geschlossenen Augen seinen eigenen Gedanken nachhängen würde. Dabei entging ihm kein Wort, keine Geste.

»Was war mit den Hunden?«

»Wenn einer anfing zu bellen, machten alle andern auch mit. Das klang nachts wie ein Wolfsrudel.«

Sie trank einen Schluck Wasser. Jeremy beugte sich vor und legte den Stift ab. Er hoffte, sie würde es bemerken und als eine Geste werten, die das Gespräch vertraulicher machte.

»Sie mögen Tiere?«

»Ich weiß es nicht. Mögen?«

»Was sind denn Ihre Lieblingstiere im Zoo?«

»Im Tierpark? Die Kamele. Und die Gibbon-Affen. Witzige kleine Kobolde sind das.«

»Und Pekaris?«

Sie schwieg. Jeremy konnte das Ticken von Brocks kleiner Uhr auf dem Schreibtisch hören. Er beschloss, Rubin noch etwas Zeit zu geben.

»Als Sie nach Berlin kamen, haben Sie da schnell Anschluss gefunden?«

»An was?«

»An Menschen. Freunde, Bekannte oder auch Kollegen.«

»Ich hab’s versucht. Aber es fällt mir nicht leicht. Sie merken ja, reden ist nicht meine Stärke.«

Sie unterhielt sich offen über ihre Arbeit und zeigte mir alle Bereiche der Futtertierzucht. So stand es irgendwo in den Akten. Wenn Charlotte Rubin in ihrem Element war, konnte sie durchaus aus sich herausgehen.

»Sie meistern das ganz gut.« Aufmunterndes Nicken.

»Vielleicht verlernt man es auch. Es kommen nicht viele in mein Revier.«

Mein Revier, schrieb Jeremy auf.

»Ich bin für die meisten wohl ein wenig sonderbar.«

»Warum?«

Erstaunt sah sie ihn an. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass sie die Augen aufgeschlagen hatte, und der Blick traf Jeremy, als hätte sie ihn bei etwas Sträflichem ertappt.

»Sie wissen doch, wo ich arbeite?«

»In der Futtertierzucht.«

»Ich züchte, um zu töten.«

»Damit andere Tiere leben können.«

»Ja. Genau. Aber die Leute mögen das nicht. Vielleicht, weil sie nicht verstehen, was ich mit den süßen Kaninchen und den kleinen Baby-Meerschweinchen mache. Ich töte sie.« Ihr Blick fiel auf Jeremys Stift. »Ja, schreiben Sie das ruhig auf. Wäre ich immer noch Bäuerin oder würde ich in einer Metzgerei arbeiten, die Leute hätten weniger Schwierigkeiten mit meiner Arbeit. Aber irgendeiner muss sie tun.«

»Belastet Sie das nicht?«

»Ich sorge dafür, dass es die Tiere nicht belastet. Ihr Leben soll bis zum Moment ihres Todes gut und sorglos sein. Ich wähle nicht. Ich bin auch nicht Herr über Leben und Tod. Ich produziere Futter, damit die Tiere vorne in den Gehegen etwas zu fressen haben. Ich fühle mich nicht belastet, weil ich Teil eines Kreislaufes bin. Im Gegenteil. Ohne mich sähe der Tierpark traurig aus. Keine Raubtiere. Keine Greifvögel. Keine Schlangen. Keine Krokodile. Warum gehen Sie in den Zoo?«

Jeremy lächelte. »Wegen der Panther. Wegen Rilke. ›Sein Blick ist im Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.‹«

»›Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt … ein großer Wille …‹«

Sie brach ab. Tat so, als könnte sie sich nicht mehr an die Worte erinnern. Unter ihrem linken Auge zuckte ein Nerv – ein Tic. Sie fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Vielleicht wollte sie das Zucken damit vertreiben, vielleicht aber auch die Art, mit der sie sich angesehen hatten. Der Retter und die Überlebende. Für einen Moment hatte Jeremy geglaubt, in die Augen einer Ertrinkenden zu sehen. Motorische Kontraktion, schrieb er. Extrapyramidale Hyperkinese. Tritt meist im Kindesalter auf. So ein Blödsinn. Er hatte dieses Zucken selbst manchmal. Ohne jeden erkennbaren Zusammenhang mit irgendeiner Aktivität. Kindheit, notierte er. Schwester. Brock räusperte sich.

»Woher kennen Sie Rilke?«, fragte er.

»Ich habe als Kind viel gelesen.« Sie erklärte das Jeremy, nicht Brock. »Was anderes gab es nicht auf dem Land. Ich fand, der Panther passte zu mir. Ich habe das Gedicht auswendig gelernt. Der Panther bin ich.«

Brock nickte. Nichts in seinem Blick verriet, was er dachte. Skepsis, Akzeptanz, Zweifel, Erstaunen – er behielt alles für sich.

»Acht Kilo Fleisch jeden zweiten Tag.« Rubin hatte sich wieder unter Kontrolle. »Pro Raubtier. Das kratzen wir schließlich nicht von den Straßen. Sind Sie Vegetarier?«

»Nein«, antwortete Jeremy wahrheitsgemäß.

»Also.«

»Ich habe Sie nicht angegriffen. Ich wollte wissen, ob es Sie belastet, als sonderbar zu gelten.«

»Sie haben sich heute Morgen rasiert. Ich vermute mal, das ist Ihnen lästig. Aber belastet Sie das?«

Brock sah aufmerksam zu ihnen herüber. Die Unterhaltung faszinierte ihn. Die Frau taute auf, benutzte mit einem Mal eine ganz andere Wortwahl. Sie drückte sich klar und ohne Sentimentalitäten oder Schönredereien aus. Sie rezitierte Rilke. Sie war ein wacher Geist, den etwas begraben hatte und dem sie nur in seltenen Momenten gestattete aufzublitzen. Ein wenig eitel war sie also doch. Das machte sie menschlich. Fast sympathisch. Wieder ein ganz leichtes Nicken von Brock. Weiter so, hieß das. Jeremy zog den Rosenkranz aus seiner Tasche und legte ihn auf den Tisch.

»Der Mann, den Sie getötet haben …« Er wusste nicht, ob es zu früh war, dieses Thema anzuschneiden. Aber er hatte das Gefühl, jetzt nicht mehr lange um den heißen Brei herumreden zu wollen. »Kannten Sie ihn?«

Ein Schatten glitt über ihre Augen. Einen Moment lang befürchtete er, sie würde sich wieder zurückziehen in ihr Schneckenhaus.

»Nein«, sagte sie schließlich. Sie sah auf die hölzernen Perlen. Nichts in ihrer Miene verriet, was sie dachte.

»Warum haben Sie ihn getötet?«

Schweigen. Die Luft schien zu erstarren, die Zeit einzufrieren. Diese Frage hatte sie selbst in stundenlangen Verhören nicht beantwortet. Schließlich riss sie den Blick von dem Rosenkranz los.

»Irgendeiner musste es tun.«

Charlotte Rubin bestand auf einer Pause. Brock öffnete die Tür zum Wartezimmer, die Vorführbeamten traten ein und passten auf die Besucherin auf, während Jeremy und der Professor in die kleine Teeküche gingen.

»Das machen Sie großartig«, sagte Brock leise.

Jeremy hatte das Gefühl, vor Stolz zu platzen. Es lief besser als erwartet. Besser als bei Brock! Wer hätte das gedacht.

»Was halten Sie von ihr?«, fragte Jeremy. Es war natürlich noch viel zu früh für eine Beurteilung. Und in Wirklichkeit wollte er damit auch nur seinen kleinen Triumph noch ein wenig mehr auskosten.

Brock lächelte. »Im Moment scheint sie mir ein einsames Wesen zu sein, das kaum Anschluss hat und auf dem Land vor Langeweile fast gestorben ist. Ein Panther ist sie jedenfalls nicht, auch wenn sie sich das vielleicht einredet.«

»Und der Mord?«

Brock zuckte mit den Schultern. »Ich denke, je besser ihr Vertrauensverhältnis wird, desto eher wird sie uns diese Frage beantworten. Sie ist kein Henker. Sie hat ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl. Mir ist noch nicht klar, wie sich das auf die Wahl des Opfers auswirkt. Entweder hat sie den Mann wirklich nach einer Art Zufallsgenerator ausgesucht.«

Brock ließ Wasser in den Boiler laufen und drückte den Knopf.

»Oder?«

»Oder er hat in ihren Augen seinen Tod selbst verschuldet und ihn verdient. Unsere Aufgabe ist es herauszufinden, ob diese beiden Möglichkeiten das Produkt logischer Überlegungen und daraus erfolgten Handelns waren. Anders ausgedrückt: Heimtücke.«

Jeremy warf einen Blick ins Wartezimmer. Der ohne Namen war bei Rubin, Miesdrosny stand gelangweilt am Fenster und kaute auf einem Zahnstocher herum.

»Bis jetzt kommt sie mir nicht sehr tückisch vor.«

Brock holte einen Beutel Earl Grey aus dem Wandschrank. Wenn Mieze nicht da war, erwachten erstaunliche Fähigkeiten in ihm. Dann wusste er sogar, wie man sich einen Tee zubereitete.

»Das kann täuschen«, sagte er.

Bis zum Nachmittag war es nicht möglich, mehr über die Tat aus Charlotte Rubin herauszulocken. Sie sprach über ihre Arbeit, die wenigen Hobbys, die sie hatte – Tierzeichnungen, Tierfilme, eine Patenschaft fürs Tierheim –, und als Brock sich verabschiedete, weil er am Abend einen Vortrag in Hamburg hielt, wussten sie zwar alles über Charlotte Rubins ereignisloses Leben, aber nichts über die Beweggründe für den Mord.

»Machen Sie sich mal keine Sorgen«, sagte Brock, als er in seinen Mantel schlüpfte. »Morgen übernehme ich.«

Jeremys Gesichtszüge mussten, obwohl er sich beherrschte, kurz vor dem Entgleisen stehen, denn der Professor klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.

»Sie haben die Tür geöffnet, Herr Saaler. Das ist mehr, als wir noch vor ein paar Tagen zu hoffen gewagt haben. Wichtig sind drei Punkte, über die ich mehr erfahren muss.«

Er nahm seinen Reisemantel von der Garderobe, den er bei diesem Wetter nicht brauchen würde, der ihm aber gemeinsam mit der Aktentasche das Gefühl geben musste, nicht ganz ohne Gepäck zu reisen.

»Welche drei Punkte?«, fragte Jeremy und begleitete ihn zur Tür.

»Die Hunde. Der Umzug. Und die Wahl des Opfers.«

Jeremy nickte. Er hätte den Umzug gegen Rilke getauscht.

»Und der Rosenkranz?«, fragte er den Professor. Rubin hatte ihn keines Blickes mehr gewürdigt.

Brock lächelte. »Nun, sie redet. Nicht wahr? Damit hat uns das gute Stück doch schon einmal einen großen Dienst erwiesen.«

Der Professor verließ die Praxis. Charlotte Rubin kam in Begleitung ihrer beiden Aufpasser.

»Bis morgen«, sagte sie.

Jeremy kam eine Idee. Die Sitzung war beendet. Da konnte man durchaus auch mal etwas Privates fragen.

»Hat Ihre Schwester sich eigentlich gemeldet?«

Sie schloss den obersten Knopf ihrer Hemdbluse. Das war schwer, weil ein dickes Heftpflaster über ihrer Wunde klebte. Unten auf der Straße musste sie ersticken, so warm war es draußen.

»Ich weiß nicht, wen Sie meinen.«

»Ihre Schwester.«

»Tut mir leid.« Ihre dunkelblauen Augen schienen zu Gletschereis zu gefrieren. Jeremy spürte, wie ihm eine Gänsehaut den Rücken hinunterlief. Charlotte Rubin hatte manchmal eine Art, die furchteinflößend wirkte. In solchen Momenten traute er ihr alles zu. »Ich weiß immer noch nicht, von wem Sie eigentlich reden.«

Jeremy merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Es lag nicht an der Wärme, die sich in den dicken Mauern hielt. Er hatte sich wieder einmal auf schwankenden Boden begeben.

»Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre.« Er gab seiner Stimme einen bewusst distanzierten Klang. »In Ihrer Akte wurde erwähnt, dass sie sich zum Zeitpunkt Ihrer Festnahme in München befand. Immerhin sind seitdem einige Wochen vergangen, und so weit weg ist das nicht.«

»Ach, Cara.« Sie sagte das in einem Ton, in dem man einen festgetretenen Kaugummi auf der Straße bemerkt. »Nein, sie war nicht da.«

»Wissen Sie, wo wir sie erreichen können?«

»Sie wollen doch nicht etwa mit ihr reden? Wollen Sie das?« Sie trat einen Schritt näher. Der ohne Namen stand am Fenster und sah hinunter auf die Straße, weil sie auf den Wagen warten mussten. Miesdrosny verschwand gerade mit einer Geste der Entschuldigung auf dem Klo.

»Professor Brock dachte, es wäre vielleicht eine gute Idee …«

»Das ist es nicht«, zischte sie. Der ohne Namen drehte sich um und kam näher. Leider ohne Eile, wie Jeremy bemerkte. Auf Miezes Schreibtischunterlage lag der Terminkalender von Brock. Ein dickes, in Leder gebundenes Buch – im Zeitalter von Computer und Smartphone ein liebenswerter Anachronismus. Jeremy nahm ihn in die Hand und öffnete ihn. Es sah nebensächlich und beiläufig aus. In Wirklichkeit war das Buch ein Schutzschild.

»Cara und ich haben nichts miteinander zu tun. Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen und auch nicht das Bedürfnis danach gehabt. Sie weiß nichts über mich und ich nichts über sie. Ich will mit ihr nichts zu tun haben.«

»Vielleicht kann sie Ihnen helfen.«

»Helfen? Mir?« Sie stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Hören Sie auf, Märchen zu erzählen. Ich weiß doch, warum ich hier bin. Es geht um lebenslänglich Knast mit anschließender Sicherheitsverwahrung oder Psychiatrie. Wer soll mir denn da noch helfen?«

Ihre Körperhaltung änderte sich, wurde aggressiver. Der ohne Namen legte ihr seine Hand auf den Arm und tastete instinktiv nach seiner Waffe. Jeremy stellte sich hinter Miezes Schreibtisch. Sein Blick fiel auf den Köcher mit den Stiften und der Papierschere. Bitte, nicht noch ein Zwischenfall, betete er.

»Ich will nicht, dass Sie mit ihr reden! Ich verbiete es Ihnen! Über mich wird mit gar niemandem geredet.«

»Bei Ihrem Prozess werden Sie das nicht vermeiden können.«

»Mein Prozess.« Sie bemerkte die Papierschere. Jeremy nahm den Köcher und stellte ihn hinter sich auf das Aktenregal. Rubin stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Wenn es dazu überhaupt kommt.«

»Sie werden es nicht verhindern können. Der Richter, der Staatsanwalt, die Presse, das ganze Land wird über Sie reden. Warum denn nicht eine einzige Person, die es vielleicht gut mit Ihnen meint?«

»Cara?«

Sie kam noch näher und schüttelte dabei die Hand des Vorführbeamten ab. Jeremy hörte die Klospülung und hoffte, dass Miesdrosny endlich wiederkam. Was würden die beiden Beamten tun, wenn Rubin ihm an die Gurgel ging? Die Waffe benutzen?

»Cara meint es nicht gut mit mir. Sie verachtet mich. Sie ist jetzt eine Studierte im weißen Kittel. So wie Sie.«

Jeremy trug keinen Kittel, aber er wusste, was sie meinte.

»Frau Rubin.« Der ohne Namen versuchte, mit lauter Stimme zu ihr durchzudringen. »Beruhigen Sie sich. Die Zeit ist um. Wir müssen gehen.«

Sie achtete gar nicht darauf, sondern hob blitzschnell den Zeigefinger. Jeremy zuckte zusammen.

»Ich habe keine Schwester! Okay? Und ich brauche auch keine. Machen Sie Ihren verdammten Job, wenn Sie ihn tun müssen, aber fangen Sie nicht an, sich irgendwelche Hintertüren zu suchen. Niemand weiß etwas über mich. Niemand kennt die Wahrheit. Keiner. Erst recht nicht Cara.«

»Okay, okay.« Er zeigte ihr entschuldigend seine Handflächen. Schau her, sollte das heißen. Ich bin unbewaffnet und will dir auch nicht drohen. Dabei ließ er die Schere nicht aus den Augen. Wer sich Bleistifte in die Halsschlagader rammte und Leichen zerstückelte, war wahrscheinlich auch wenig schüchtern, wenn es um Diplompsychologen ging. Mehr als ein Mal lebenslänglich gab es in Deutschland nicht. Verdammt, er hatte Angst.

»Wir werden das berücksichtigen.«

»Wenn ich erfahre, dass irgendwas, was über diese Zwangssitzungen hinausgeht, an die Öffentlichkeit kommt, wenn Sie Leute hinter meinem Rücken kontaktieren, weil Sie sonst nicht wissen, was Sie schreiben sollen, mach ich Sie fertig!«

Sie holte aus. Ob absichtlich oder nicht, ihre Hand riss den Heftklammermagnet um. Er fiel vom Tisch und rollte über den Boden, wobei er seinen Inhalt verteilte. Jeremy bückte sich und begann, die Klammern einzusammeln. Rubin trat einen Schritt zurück und beobachtete argwöhnisch, was er tat.

Die Polizisten verloren die Geduld. »Kommen Sie bitte, Frau Rubin.«

Sie drehte sich um.

»Aber gerne«, sagte sie höhnisch. »Bitte sehr. Darauf wartet ihr doch nur. Dass ich euch einen Grund gebe, damit ihr es mir mal so ordentlich zeigen könnt. Was?«

Sie präsentierte den beiden ihre gekreuzten Handgelenke. Miesdrosny wurde nun richtig fuchsig.

»Wir können auch anders. Dann wird es aber nicht gemütlich, das kann ich Ihnen versprechen.«

Ihre Schultern sackten herunter. Sie fiel geradezu in sich zusammen. Die Polizisten nahmen sie in die Mitte und wollten zum Ausgang. Rubin drehte sich noch einmal zu Jeremy um.

»Es tut mir leid. Ich bin sonst nicht so. Aber ich habe keine Schwester. Wirklich nicht. Zumindest keine, die Ihnen helfen könnte.«

Jeremy nickte. Erst als der Tross zur Tür hinaus war und er ihre Schritte die knarzende Holztreppe hinunter hörte, entspannten sich seine schmerzenden Schultermuskeln.

War das schon ein Zwischenfall oder noch eine ganz normale, etwas aggressive Unterhaltung gewesen? Er war versucht, Brock anzurufen. Dann ließ er es bleiben, weil er den Vorfall nicht hochspielen wollte. Morgen. Morgen hätte er bestimmt noch Gelegenheit dazu. Er stellte den Köcher mit den Stiften und der Schere wieder zurück. Nichts fehlte. Er fühlte sich, als ob er gerade noch einmal davongekommen wäre.

Das Dorf der Mörder
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