9

Zwei Tage später sah Jeremy sie wieder.

Um den Hals trug sie einen steifen Verband. Sie war außergewöhnlich blass, aber sie hatte auch viel Blut verloren. Ihr Allgemeinzustand erlaubte einen kurzen Besuch in der Klinik. Brock hatte ihn darum gebeten. Der Professor, in Gedanken schon auf dem Weg zu einem Forensikerkongress in Chongqing, China, ließ lediglich kurze Genesungswünsche ausrichten und ermahnte Jeremy, das Gespräch keinesfalls auf die Tat zu lenken.

Und so stand der angehende Psychologe vor dem Bett, in der Hand einen Wildblumenstrauß, und wusste nach einigen Höflichkeitsfloskeln nicht mehr, was er sagen sollte. Charlotte Rubin lag teilnahmslos im Bett, streng bewacht von zwei Vollzugsbeamten vor der Tür, und schaute unverwandt aus dem Fenster. Vielleicht dachte sie daran, dass sie das in Zukunft nur noch durch Gitter tun würde.

»Herr Professor Brock lässt Ihnen ausrichten, dass wir sofort weitermachen können, sobald es Ihnen wieder besser geht.«

Er drehte den Strauß ungeschickt in seiner Hand. Vielleicht sollte er nach einer Vase fragen.

»Das sind aber schöne Blumen«, sagte sie. Es war der längste Satz, den er bisher aus ihrem Mund gehört hatte. Er war so überrascht, dass er um ein Haar gelächelt hätte. Wiesenblumen. Sie hatten ihn an den Garten seiner Großeltern erinnert. Bauernfrauen boten sie in großen Kübeln in den Fußgängerzonen an. Er konnte nicht vorbeigehen, ohne einen Strauß zu kaufen. Hinterher wusste er nie, wohin damit. Meistens schenkte er ihn Mieze. Rubins Kompliment überraschte und berührte ihn. Es machte sie menschlich. Zwei Paralleluniversen hatten also doch eine minimale Schnittmenge.

»Mich erinnern sie immer an meine Kindheit«, sagte er.

»Mich auch.«

Jeremys Herz machte vor Schreck einen Satz. Brock hatte stundenlang versucht, ihr etwas über ihre Jugend aus der Nase zu ziehen. Und ihm gelang es mit einem Strauß Blumen. Er hätte sein Diktiergerät mitnehmen sollen.

»Die Sommer in Brandenburg?«, fragte er.

»Ja. Ist schon komisch. Den nassen Herbst und die langen Winter vergisst man. Und dass die Sommerferien oft verregnet waren, auch. Aber dann kommt so was und erinnert einen daran. Danke. Das ist nett.«

Er dachte, dass sie wohl nicht oft Blumen in ihrem Leben bekommen hatte. »Wie geht es Ihnen?«

Sie zuckte unsicher mit den Schultern. Wenn man einfach mal beiseiteschob, was sie getan hatte – und merkwürdigerweise gelang das Jeremy in dem Moment, in dem er sie in diesem Bett liegen gesehen hatte –, war sie gar nicht mehr so schrecklich, wie er sie bisher wahrgenommen hatte.

»Sie müssen sich keine Vorwürfe machen«, sagte sie. »Es kommt, wie es kommt.«

Er machte sich keine Vorwürfe. Oder doch? Er hätte sie nicht allein lassen dürfen. Aber wer denkt schon bei Bleistiften daran, dass man sie sich in den Hals rammen kann?

»Die Staatsanwaltschaft besteht auf dem Gutachten.« Er merkte, wie streng seine Stimme klang. Er versuchte es etwas freundlicher. »Ihr Prozess soll ja schon in knapp zwei Monaten beginnen. Da wäre es gut, wenn wir bald weitermachen könnten. Die Ärzte sagen, dass Sie Ende der Woche ins Haftkrankenhaus Plötzensee entlassen werden können. Professor Brock ist dann von einer Dienstreise zurück. Wenn wir die Zwei-Tages-Termine teilen und über die Woche legen, würde es gehen. Dann könnten wir noch in der Zeit abliefern.«

Als ob sie das interessieren würde. Sie sah wieder aus dem Fenster. Jeremy, dem eine Mischung aus schlechtem Gewissen und der komplizierten Logistik von Brocks Terminkalender zu schaffen machte, unterdrückte einen Seufzer. Warum fragte er diese Frau überhaupt? Sie konnten über ihren Tagesablauf verfügen.

»Es wäre gut, wenn Sie ein wenig mitarbeiten würden.«

Sie tat so, als ob sie ihn nicht gehört hätte. Wie abgestumpft war dieser Mensch, wenn ihm sein eigenes Schicksal schon so egal war? Er legte die Blumen auf dem Nachttisch ab und wollte gehen, als etwas mit einem leisen, kaum hörbaren metallischen Geräusch zu Boden fiel. Er bückte sich. Es war eine kleine silberne Kette mit einem Anhänger.

Jeremy glaubte sich zu erinnern, dass Untersuchungshäftlingen der Besitz dieser Dinge gestattet wurde. Der Anhänger war eine kleine Medaille, auf der eine Frauenfigur mit einem Rad abgebildet war. Bevor er sich wieder aufrichten konnte, war Charlotte Rubin schon hochgeschnellt. Sie riss ihm die Kette aus der Hand.

»Entschuldigen Sie. Ich wollte sie Ihnen nicht wegnehmen.«

Rubin drückte das Kleinod an die Brust. Zum ersten Mal sah sie ihn an. Es war der Blick eines zutiefst verstörten Menschen, der nicht auch noch das Letzte verlieren wollte.

»Das ist eine hübsche Kette«, sagte er. »Wer ist die Frau auf der Münze?«

Vorsichtig öffnete sie die Hand und betrachtete ihren Schatz. »Die heilige Katharina.«

»Ah ja.«

Jeremy kannte sich nicht aus in der katholischen Kirche. Er war protestantisch erzogen worden, und zu Religion hatte er ein nachlässiges Verhältnis.

»Eine Schutzheilige? Ich kenne nur Christophorus. Und den auch nur, weil kaum ein Taxifahrer ohne ihn fährt. Also nicht, dass Sie denken, ich bin viel mit dem Taxi unterwegs. Aber ab und zu schon.«

Er sollte gehen. Er hatte seine Schuldigkeit getan. Aber mit dem Verband und der Kanüle im Arm wirkte sie trotz ihrer kräftigen Statur verletzlich.

»Wen beschützt sie denn?«, fragte er mit höflichem Interesse.

Rubin zog die Schublade des Nachttisches auf und ließ die Kette hineingleiten. Dann wälzte sie sich auf die andere Seite und drehte ihm den Rücken zu.

»Sie ist eine der vierzehn Nothelfer und beschützt Frauen, Mädchen und Nonnen.«

»Sie sind katholisch?«

Keine Antwort.

»Möchten Sie vielleicht mit einem Geistlichen sprechen?«

Über die Schulter warf sie ihm einen müden Blick zu. »Sehe ich so aus?«

»Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, wie Sie aussehen sollten. Ich habe nicht viel Erfahrung. Ich bin noch in der Ausbildung.«

In ihren hellblauen Augen schimmerte so etwas wie höfliches Interesse.

»Überfordere ich Sie?«

Ja. Eindeutig. Es beunruhigte ihn, dass sie sein Dilemma so klar erkannte. Eigentlich sollte es umgekehrt sein. Er müsste sie beurteilen.

»Ich bin erst seit einem halben Jahr bei Professor Brock.« Er setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und rechnete damit, sofort wieder hochgejagt zu werden. »Mit Ihrem Gutachten habe ich nichts zu tun. Das ist allein Sache meines Chefs. Aber ich kann viel lernen.«

»Was denn?«

»Wie man einen Menschen wahrnimmt, zum Beispiel. Wie sie sich verhalten. Welche Antworten sie geben. Welche nicht.«

Vorsicht, dachte er. Ganz dünnes Eis. Weiträumig umfahren. Nichts preisgeben. Sie redet mit mir. Das darf sie nicht. Brock müsste hier sein. Der wüsste, was es zu bedeuten hat. Warum sie auf einmal den Mund aufmacht. Wahrscheinlich will sie mich aushorchen. Gleichzeitig spürte er eine wilde Freude in sich. Sie spricht! Das Monster zeigt menschliche Seiten. Das ist mehr, als Brock bisher erreicht hat. Er hatte die Sitzung gleich mit Fragen nach der Tat begonnen.

»Und was haben Sie bisher über mich gelernt?«

Jeremy lächelte. Er hoffte, dass es sympathisch und vertrauenerweckend aussah.

»Sie sind verunsichert. Das kann ich verstehen. Sie sind in einer Situation, für die Sie keine einschlägigen Erfahrungswerte haben. Jede Geste, jeder Satz kann etwas über Sie verraten, und Sie wissen nicht, ob das zu Ihrem Vorteil oder Nachteil wäre. Ihre Kurzschlusshandlung …« Er musste schlucken, weil vor seinem geistigen Auge die Szene in Brocks Arbeitszimmer auftauchte. Ihr Hals, das Blut, das aus ihrer Halsschlagader gepumpt wurde, die Panik. Etwas stimmte nicht an dieser Erinnerung. Er verlor den Faden und sah sie wieder auf dem Boden liegen, seine Hände um ihren Hals, als ob er sie erwürgen wollte. Das war das Schlimmste: dieser feste Griff, der genauso gut Leben retten wie auslöschen konnte. Und da fiel ihm ein, dass etwas nicht zusammenpasste.

»Woher haben Sie die Kette?«

Rubins Interesse erlosch so schlagartig, wie es gekommen war. Sie schaute aus dem Fenster.

»Sie haben keine getragen.«

Das durfte sie auch nicht. Jetzt fiel es ihm wieder ein: In der Untersuchungshaft war es lediglich erlaubt, Privatkleidung zu tragen. Alles andere wurde in der sogenannten Habe aufbewahrt. Er war sich ziemlich sicher, dass für die vierzehn Nothelfer die gleichen Besuchsregelungen galten wie für jeden anderen auch.

Aber Rubin wollte nicht mehr.

»War jemand bei Ihnen? Das ist wichtig. Wir müssen das wissen. Frau Rubin?«

Sie reagierte auch nicht, als er sich verabschiedete und das Zimmer verließ. Der wachhabende Vollzugsbeamte saß auf einem Stuhl im Gang und las eine Boulevardzeitung. Die Überschrift verhieß nichts Gutes für die Bauern, die schon jetzt über eine anhaltende Dürreperiode klagten. Er sah hoch, als Jeremy vor ihm stehen blieb.

»Alles okay da drinnen?«

Er war Ende fünfzig und wirkte so gemütlich wie ein altes Sofa. Ein Cop, der alten Frauen über die Straße half und Radfahrer wohlwollend ermahnte, nicht bei Rot über die Ampel zu fahren. Jeremy fragte sich, wie dieser Mann bei einem Fluchtversuch reagieren würde. Bestimmt nicht mit einer Verfolgungsjagd über die Krankenhausflure.

»Ja, danke. Sagen Sie, hatte Frau Rubin Besuch?«

Der Mann legte sein zerknautschtes Gesicht in Falten. »Nur die Visite und die Pfleger. Gestern war ein Seelsorger da. Ist ja ein katholisches Krankenhaus.«

Natürlich. Jeremy erinnerte sich an das Kreuz im Eingangsbereich. Das erklärte auch die Kette. Erlaubt war das nicht. Aber wen würde es stören? Vielleicht war es Charlotte Rubin peinlich gewesen, den Besuch eines Priesters zuzugeben. Er sah sich um.

»Ihr Kollege?«, fragte er. »Sollten Sie nicht zu zweit sein? Das ist immerhin die bekannteste Gefangene der Stadt.«

»Auf dem Örtchen«, antwortete der Polizist merklich zurückhaltender. »Machen Sie sich mal keine Sorgen. Wir passen auf. An uns kommt keiner vorbei.«

Außer Seelsorgern, dachte Jeremy. Er wollte noch fragen, ob der Priester durchsucht worden war, ließ es dann aber bleiben. Nicht sein Job. Er bedankte sich und verließ das Krankenhaus.

Auf dem Weg zu seinem Wagen überschlug er kurz den Zeitunterschied zu China – dort müsste es früher Abend sein – und wählte Brocks Nummer. Wie erwartet, meldete sich lediglich die Mailbox. Er wartete, bis die Ansage vorüber war.

»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte er, schloss die Tür zu seinem Toyota auf und entdeckte ein neues Knöllchen hinter dem Scheibenwischer. Schon wieder. Die ganze Straße voller Schlaglöcher, ein völlig marodes öffentliches Nahverkehrssystem, aber Strafzettel abkassieren. Das konnten sie. Was geschah eigentlich mit den Unsummen, die sie von den Autofahrern schröpften? »Ich komme gerade von Charlotte Rubin. Und stellen Sie sich vor …« Wieder schoss dieses Gefühl von Freude in seine Brust. »… sie redet mit mir.«

Das Dorf der Mörder
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