13

Am nächsten Tag sprach Charlotte Rubin kein Wort. Brock versuchte alles. Freundliches Nachhaken, ausgedehntes Schweigen. Es war Jeremy unangenehm, seinen Professor so versagen zu sehen. Schließlich forderte Brock ihn auf, das Ruder zu übernehmen. Er selbst stand auf und nahm wieder in seinem Sessel am Fenster Platz.

Jeremy war nervös. Das Gespräch vom gestrigen Tag hatte er noch nicht gebeichtet. Er wusste nicht, ob Rubin ihm daraus einen Strick drehen würde. Vielleicht hatte sie aber auch darüber nachgedacht, dass ihr Ausbruch einen negativen Eindruck gemacht hatte.

»Ist alles okay?«, fragte Jeremy. »Wollen Sie eine Pause?«

Sie reagierte nicht. Ab und zu sah sie auf ihre Schuhspitzen, als ob sie sich vergewissern wollte, dass sie noch da waren und sie sich nicht langsam in Luft auflöste. Er sah auf seine Liste. Hunde. Umzug. Wahl des Opfers. In Klammern: Rilke.

»Wollen Sie mir etwas über die Hunde erzählen?«

»Welche Hunde?«, fragte sie desinteressiert.

»Sie haben erzählt, dass in Ihrer Jugend auf dem Land einer anfing zu bellen und alle anderen einfielen. Wie ein Wolfsrudel.«

»Wölfe sind sehr soziale Tiere.«

»Und Hunde?«

Sie zuckte mit den Schultern. Brock hörte aufmerksam zu.

»Hunde tun das, was ihre Besitzer ihnen befehlen. Sie gehen aufeinander los. Es gibt Hundekämpfe, aber keine Wolfskämpfe. Warum wohl?«

»Also war da wenig Beruhigendes für Sie in diesem Hundegebell.«

»Ich verstehe Ihre Frage nicht.«

»Haben Sie Hunde?«

»Nein. In der Stadt ist das nicht möglich. Tiere haben nichts in Wohnungen zu suchen. Und in den Zoo und den Tierpark dürfen sie nur mit kurzer Leine. Ich hätte gerne einen gehabt, aber das ging nicht.«

»Als Kind, auf dem Land …« Er suchte in den Protokollen nach Rubins Lebenslauf. »Sie kommen aus dem Dorf Wendisch Bruch. Wo genau liegt das?«

»Im Landkreis Teltow-Fläming. In der Nähe von Jüterbog.« Eine ungefähre Ahnung sagte Jeremy, dass es sich um den Süden Brandenburgs handeln musste.

»Aber da hatten Sie Hunde?«

»Ja. Akra und Kerl.«

»Kerl?«

Sie nickte. Jeremy wunderte sich über den Namen.

»Ihre Eltern, Margot und Henning Rubin, waren beide in der Landwirtschaft.«

»In der LPG Buschwiesen.«

»Hier steht, sie hatten einen Bauernhof.«

»Erst später. Nach der Wende. Vorher haben wir nur das Haus bewohnt und privat ein bisschen was angebaut. Wir hatten Hühner, Kartoffeln und etwas Spargel. Schwarz. Viel mehr ist auch nicht dazugekommen. Als es ums Verteilen ging, waren die wieder ganz weit vorne, die auch in der DDR das Sagen hatten. Wie immer.«

»Gestern haben Sie erwähnt, wie lange Sie schon in Berlin wohnen. Aus meinen Unterlagen geht hervor, dass Sie mit fünfzehn in Dessau eine Lehre zur Tierpflegerin begonnen haben.«

»Ja.«

»Aber nach drei Monaten haben Sie sie abgebrochen und sind nach Berlin. Warum?«

»Dessau war mir zu klein. Ich wollte lieber in eine richtige Stadt.«

»Dann haben Sie als Gärtnereigehilfin gearbeitet, in der Baumschule Wilhelm in Johannisthal.«

»Ja. Stauden. Das war mein Schwerpunkt.«

»Stauden statt Tiere?«

Sie sah wieder auf ihre Hände. »Ist schwer was zu machen ohne Abitur oder mittlere Reife.«

Sie hatte die Hauptschule nach der neunten Klasse ohne Abschluss verlassen. Merkwürdig bei einem so belesenen Menschen.

»Trotzdem ist das sehr jung für eine Großstadt. Fünfzehn.«

Sie wandte den Kopf, um aus dem Fenster zu sehen. Dabei bemerkte sie Brock. Ihr Gesicht verschloss sich.

Der Professor hielt diesen Moment für geeignet, sich wieder in das Gespräch einzuschalten. Er stand auf und kam zu ihnen an den Tisch. Rubin schlug die Beine übereinander. Sie tat das so, dass sie sich dabei, bewusst oder unbewusst, von Brock abwendete.

»Wie kamen Sie in die Futtertierzucht?«, fragte er. »Haben Sie sich beworben?«

Sie schwieg. Nach einer Ewigkeit, in der Jeremy zu der Überzeugung kam, dass sie ihre Boykotthaltung gegen Brock aufrechterhalten würde, antwortete sie. Es klang mechanisch und gestelzt.

»In der Baumschule hätten sie mich nicht übernommen. Ich fing im Tierpark als Aushilfe in der Futterverteilung an. Später wurde ich auch in der Tierpflege eingesetzt. Allerdings war ich im Umgang mit den Besuchern nicht geübt. Man entschied, mich aus dem Publikumsbereich in den Wirtschaftshof zu versetzen.«

»Was heißt nicht geübt?«

»Ich wies die Besucher unmissverständlich darauf hin, dass sie die Tiere nicht zu füttern oder zu verarschen haben.«

Brock und Jeremy wechselten einen schnellen Blick. Der Recorder lief. Der junge Arzt machte sich Notizen.

»Machte Sie das wütend?«

Rubin nickte. »Wer Achtung vor einer Kreatur hat, füttert sie nicht mit Schokocroissants oder wirft mit Steinen nach ihr.«

»Was war für Sie unmissverständlich?«

»Tierparkverweis.«

Jeremy konnte sich vorstellen, dass ihre rüde Art nicht gerade das war, was die Tierparkleitung schätzte. Und dann kam ihm eine Idee. »Hat Werner Leyendecker sich vielleicht auch über die Tiere lustig gemacht?«

Sie sah Jeremy erstaunt an.

»Werner Leyendecker. Ihr Opfer. Der Mann, den Sie ermordet haben.«

Vierundsechzig Jahre alt. Zwei Mal geschieden, zwei Kinder. Gelernter Werkzeugmacher, nach der Wende Vertreter für Landmaschinen, dann Frührentner. Wohnhaft in Wismar. Touristischer Besuch in Berlin. Ankunft nachmittags am Hauptbahnhof, Weiterfahrt zum Alexanderplatz, eingecheckt im Park Inn Hotel um Viertel vor sechs. Ein Zimmer im elften Stock, Blick auf die achtspurige Mollstraße. Besuch der Revue »Songbirds« im Friedrichstadtpalast. Zwei Drinks an der Hotelbar. Allein. Am nächsten Tag Kauf einer Prinz-Heinrich-Mütze im KaDeWe. Stadtrundfahrt. Treffen Unter den Linden mit einer Frau, die er übers Internet kennengelernt hatte. Helga Grothe, zehn Jahre jünger, Versicherungskauffrau in Teilzeit. Sie hatte sich gemeldet, nachdem Leyendeckers Schicksal von der Presse in allen erdenklichen Schattierungen ausgemalt worden war und weil sie einer Freundin von dem Rendezvous erzählt hatte, die sie dazu drängte, bei der Polizei anzurufen.

Das Treffen war in gegenseitigem Desinteresse geendet. Sie hatte sich ein paar Jahre jünger und ein paar Kilo leichter geschummelt. Er hatte ein Foto aus der Zeit verwendet, als man noch Passbilder auf Führerscheine klebte. Sie gab an, dass Leyendecker wohl nicht auf die inneren Werte geachtet habe.

Jeremy hatte ein Foto des Toten gesehen – glücklicherweise noch zu dessen Lebzeiten aufgenommen. Er fand, dass Leyendecker ganz enorme innere Werte aufweisen müsste, um die eigenen Defizite auszugleichen. Eins zweiundsiebzig groß, 88 Kilo. Kräftiges, wahrscheinlich rundgetrunkenes Gesicht mit herrischem Blick. Vorgerecktes Kinn mit Kerbe, weiche, leicht hängende Wangen, mit Pomade über die Stirn geklebtes Resthaar. Ein Mann auf dem Weg zum Opa, ohne liebenswürdige Züge. Vermisst hatten ihn nicht seine Kinder oder seine geschiedenen Frauen, vermisst hatte ihn das Hotel.

In seinem Zimmer fand man die abgerissene Karte eines Kinos am Alexanderplatz. Seine Kreditkartenrechnung wies den Besuch in einer Table Dance Bar aus. Er hatte ein Doppelzimmer gebucht, wohl in der Hoffnung, es auch zu benutzen, sich dann aber gegen den Besuch einer Prostituierten entschieden. Er hatte auch nach keiner gefragt, erinnerte sich der Nachtportier. Leyendecker war am Vorabend seines Todes kurz vor Mitternacht ins Hotel zurückgekommen. Leicht angetrunken, aber nicht so, dass es anderen Gästen unangenehm aufgefallen wäre. Er war an einem Ständer stehen geblieben, in dem Prospekte verschiedener Berliner Sehenswürdigkeiten steckten. Im Papierkorb fand die Spurensicherung später bunt bedruckte Werbung von Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett, einer völlig überteuerten Dinnershow mit Kabaretteinlagen, den Berliner Unterwelten und dem Kennedy Museum am Pariser Platz.

Keine dieser Lokalitäten hatte er aufgesucht. Er war in den Tierpark gegangen. Das musste kurz nach dem Frühstück gewesen sein, aber wann genau, daran konnte sich die Hotelangestellte, die die Zimmernummern im Restaurant prüfte, nicht mehr erinnern. Das letzte Lebenszeichen von Werner Leyendecker kam von seinem Handy, das mitsamt seiner Kleidung spurlos verschwunden war. Der Telefonanbieter bestätigte, dass Leyendecker sich gegen fünfzehn Uhr zweiundzwanzig ein letztes Mal im Tierpark eingeloggt hatte. Er hatte die Fahrplanauskunft der Bahn angerufen.

Jeremy vermutete, dass Leyendecker früher zurückfahren wollte. Der Ausflug nach Berlin hatte die Erwartungen nicht erfüllt. Leyendecker wusste offenbar nichts mehr mit seiner Zeit anzufangen. Sein Todeszeitpunkt lag erst weit nach Mitternacht des folgenden Tages, zwischen zwei und drei Uhr morgens. Das Verbrechen war wie folgt rekonstruiert worden: Rubin hatte Leyendecker aufgelauert, nachdem er die Cafeteria aufgesucht hatte (Quittung über ein kleines Bier, eine Bockwurst, fünfzehn Uhr vierzehn), war ihm bis zu den Raubtieren gefolgt und hatte ihn hinter dem Alfred-Brehm-Haus niedergeschlagen. Ihn abgelegt im Gebüsch zwischen Pinguinen und Präriehunden. Vermutlich war er zu diesem Zeitpunkt auch schon sediert, also ruhiggestellt worden. Abtransportiert wurde er mit einem dieser Elektrowagen, die Futter und Heu zu den einzelnen Gehegen lieferten, und an dem neben den Fingerabdrücken sämtlicher Tierpfleger auch die von Rubin sichergestellt worden waren. Die Zeit bis kurz vor seinem Tod verbrachte er, gefesselt und gelähmt, in der Tierklinik, einem flachen Klinkerbau aus den fünfziger Jahren hinten im Wirtschaftshof.

Mitten in der Nacht brachte Charlotte Rubin den schweren Mann zum Pekari-Gehege. Nachdem die Tiere ihr unfassbares Werk vollbracht hatten, musste sie gegen vier Uhr morgens, eine gute Stunde vor Sonnenaufgang, noch einmal zurückgekehrt sein, um die Reste Leyendeckers einzusammeln. Ganz war ihr das nicht gelungen. Vielleicht wegen der Dunkelheit, vielleicht auch, weil die Tiere zu gefährlich waren. Die Leichenteile entsorgte sie in der Knochentonne. Sie hatte sie vorher entleert und anschließend die übelriechenden, halb verwesten und nicht mehr weiter verwendbaren Futterreste über Leyendeckers Rumpf und Oberschenkel ausgekippt. Beides hatte sie auch noch voneinander getrennt, vermutlich, um die Leichenreste überhaupt in die Tonne zu bekommen. Leyendeckers DNA fand man so gut wie überall in der Klinik – am meisten an der Knochensäge.

Mittlerweile konnte Jeremy den Tathergang lesen, ohne dass ihm schlecht dabei wurde. Aber es gelang ihm nicht, sich den ganzen Ablauf vorzustellen. Er wollte nicht daran denken, wie diese Frau im Morgengrauen mit einer zerfetzten Leiche über die Tierparkwege gefahren war. Seine Vorstellungskraft setzte erst in dem Moment wieder ein, in dem Charlotte Rubin das kleine Haus hinter der Klinik auf dem Tierparkgelände betreten haben musste, keine hundert Meter entfernt von den sterblichen Überresten ihres Opfers, dort geduscht (DNA von Leyendecker im Bad, Blutspuren an einem gewaschenen Overall) und sich hingelegt hatte, um gegen acht Uhr morgens ihren Dienst wieder anzutreten.

Werner Leyendecker wurde erst gegen Mittag vom Park Inn Hotel als vermisst gemeldet, weil er nicht ausgecheckt und seine Rechnung nicht bezahlt hatte. Ein Mitarbeiter des Hauses war in sein Zimmer gegangen und hatte festgestellt, dass Leyendecker zwar verschwunden war, nicht aber sein Gepäck. Das Bett war unberührt gewesen.

Jeremy sah von den Aufzeichnungen hoch. Rubin tat weiter so, als ob sie alle chinesisch reden würden und der Dolmetscher sich auf unbestimmte Zeit entschuldigt hätte.

»Was fühlten Sie, als Sie Werner Leyendecker zum ersten Mal sahen?«

Keine Antwort. Er merkte, wie Brock hinter seinen Stuhl trat. Der Mann in seinem Rücken erschien ihm wie eine sichere Wand, an die er sich lehnen konnte.

»Kommen wir noch einmal zu der Frage, ob Sie sich zufällig begegnet sind oder ob Herr Leyendecker von Ihnen ganz bewusst ausgewählt wurde.«

Keine Reaktion.

Jeremy nahm das Foto Leyendeckers aus der Akte. Es war nur eine Kopie, eine grobkörnige Vergrößerung, aber es war auch die Erinnerung an einen Menschen, dessen Leben Rubin auf unvorstellbar grausame Weise ausgelöscht hatte.

Griff zum Wasserglas. Trinken. Absetzen. Blick auf die Hände.

»Erinnern Sie sich noch an ihn?«

Vielleicht half Brock ja auch dieses Schweigen, die Wahrheit über sie herauszufinden. Für den Professor war nicht nur wichtig, wie etwas gesagt oder verschwiegen wurde. Auch die Körpersprache und die Reaktion auf bestimmte Fragen gaben Auskunft über einen Menschen. Jeremy unterdrückte ein Seufzen. Kooperativ sah jedenfalls anders aus.

»Ist es wegen gestern?«, fragte er. Der Vormittag verstrich. Sie hatten nur diese drei Tage. Mit viel gutem Willen konnte man vielleicht noch einen vierten herausschlagen. Brock arbeitete schon daran.

»Haben wir etwas falsch gemacht?«

Stille. Er hörte das elektrisch aufgeladene Reiben ihres Hosenstoffes, als sie die Beine in die andere Richtung kreuzte.

»Ich kann mich nur noch einmal entschuldigen. Ich wollte Sie wegen Ihrer Schwester nicht aufregen.«

Jeremy spürte geradezu, wie sich hinter seinem Rücken, dort, wo Brock stand, ein riesiges Fragezeichen im Raum materialisierte.

Rubin sah ihn an. Wieder war es so, als ob er einen leichten Schlag vor die Brust bekommen hätte. Ihre Reaktionen waren so unvorhersehbar. Im einen Moment wirkte sie, als ob sie gleich einschlafen würde auf ihrem Stuhl. Und im nächsten erwachte ihr Interesse. Noch war kein Muster zu erkennen. Nichts, was ihre Reaktionen verständlich oder durchschaubar machte. Sie brauchten Zeit, viel mehr Zeit. Einen Durchbruch, eine Hilfestellung, etwas, das dieses Bollwerk von Willen durchbrechen konnte.

»Wir haben es Ihnen ganz am Anfang doch schon erklärt. Alles, was wir hier besprechen, dient ausschließlich der Erstellung des Gutachtens. Sie werden von uns weder vernommen, noch kann irgendetwas, das Sie in diesen vier Wänden sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Wir wollen nur herausfinden, wie Sie ticken. Und manchmal hilft da eben auch der Blick von außen.«

»Kann ich bitte zurück?«

»Wir sind noch nicht fertig.«

»Oh doch. Es gibt nichts mehr, was ich zu sagen hätte. Da steht doch sowieso schon alles drin.« Sie deutete auf die Akte der Staatsanwaltschaft. »Schreiben Sie doch über mich, was Sie wollen. Ich will in meine Zelle. Jetzt.«

Sie stand auf. Verwirrt erhob Jeremy sich ebenfalls.

»Es ist doch nur in Ihrem Interesse.«

»Nichts in meinem Leben war das bisher. Also hören Sie auf, hier den Samariter zu spielen. – Und Sie auch!«

Brock schürzte die Lippen, was ein bedauerndes Lächeln abgeben sollte. Er ging zur Tür, um sie zu öffnen. Hoffentlich erstellt er nicht gerade sein eigenes Gutachten über mich, dachte Jeremy. Das ist ja eine Katastrophe, wie das hier abläuft. Ich bin ein Versager.

»Was mache ich falsch?«

»Das fragen Sie mich? Mich?« Rubin hob die Stimme. Wieder kam es Jeremy vor, als ob gerade eine zweite Person in ihr das Ruder übernehmen würde. »Kann ich jetzt endlich gehen, oder werde ich hier gegen meinen Willen festgehalten?«

Die Vorführbeamten tauchten auf.

»Danke«, sagte sie sarkastisch. »Dann mal wieder zurück in die beschützenden Werkstätten.«

Rubin ging mit ihnen nach draußen.

Jeremy drückte den Stopp-Knopf des Recorders und begann, die Aufzeichnungen wieder in den Ordner zurückzulegen. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Er hätte dem Professor gleich, noch vor dieser Sitzung, sagen sollen …

»Was war gestern?«

Brock kam zurück und schloss die Tür hinter sich. Er war die Ruhe selbst. Nicht die Spur von Verärgerung oder Enttäuschung über den unbefriedigenden Ausgang der Befragung.

»Ich habe Frau Rubin auf ihre Schwester angesprochen. Kurz nachdem Sie außer Haus waren«, sagte Jeremy. »Es tut mir leid. Es hat sich so ergeben, und ich wollte … ich wusste nicht, dass sie sich so darüber aufregen würde.«

»Hat sie das?«

»Und wie. Sie wollte uns verbieten, mit ihrer Schwester Kontakt aufzunehmen, und ist beinahe ausgerastet.«

Nachdenklich verschränkte Brock die Hände auf dem Rücken.

»Herr Saaler, Sie müssen solche Dinge mit mir absprechen«, sagte er schließlich. »Ich erkenne Ihr Bemühen, Ihren Fleiß und Ihre ehrliche Aufrichtigkeit. Aber vor allem erkenne ich, dass Sie keine Distanz halten. Am Anfang hegten Sie geradezu Abscheu vor Frau Rubin.«

Jeremy wollte widersprechen, aber Brock schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Sie müssen lernen, Ihre Gefühle unter Kontrolle zu haben. Die negativen genauso wie die positiven. Ich muss ein Gutachten erstellen. Fragen nach verwandtschaftlichen Beziehungen sind dabei von einer solchen Relevanz, dass ich sie Ihnen niemals unbeaufsichtigt übertragen hätte.«

Jeremy schluckte und sah zu Boden. Er fühlte sich gemaßregelt wie ein Kind.

»Nachdem Sie Frau Rubin das Leben gerettet haben, hat sich Ihre Gefühlswelt verschoben. Aus der Mörderin, der Frau, die Unfassbares getan hat, wurde ein Mensch. Charlotte Rubins Leben maßen Sie mit einem Mal einen anderen Wert zu. Sie beherrschen sich weder in der einen noch in der anderen Richtung. Das müssen Sie lernen.«

»Ja«, sagte Jeremy leise.

»Ich verlange nicht von Ihnen, Menschen weniger wertzuschätzen oder übertrieben vorsichtig mit ihnen umzugehen. Aber ich muss Sie bitten – und halten Sie sich an diese Vorschrift –, Fragen von derartiger Bedeutung nicht ohne Absprache mit einer Patientin zu erörtern. Sie sind noch nicht so weit.«

Den letzten Satz ließ Brock im Raum stehen. Jeremy hätte gerne gefragt, ob er es jemals sein würde. Aber er wusste, dass er damit noch kindischer dastehen würde, als er es jetzt schon tat.

»Ziehen Sie mich ab?«

Brock schnaubte und nahm die Akte vom Schreibtisch. Er blätterte sie durch, überflog hier ein Papier, zog dort ein Blatt heraus. Schließlich hatte er gefunden, was er gesucht hatte: die Personenstandsabfrage.

»Natürlich nicht. Aber arbeiten Sie in Zukunft für und nicht gegen mich. – Cara Spornitz, dreißig Jahre alt. Veterinärmedizinerin. Sieh mal an. Die Liebe zum Tier scheint beide zu vereinen, und trotzdem hat sie ihre Schwester seit über zehn Jahren nicht gesehen. Das gibt Frau Spornitz zu Protokoll.«

Jeremy beeilte sich, dem Professor über die Schulter zu sehen.

»Frau Rubin behauptet das Gleiche. Außerdem lehnt sie es strikt ab, dass wir mit ihrer Schwester sprechen.«

»Frau Rubin ist aus meiner Sicht nicht in der Lage, die Konsequenzen ihres Handelns einzuschätzen.«

»Es hat sich trotzdem so angehört, als ob die beiden Hund und Katz wären«, sagte Jeremy.

Der Professor lächelte. »Wir haben es in diesem Fall offenbar viel mit der Tierwelt zu tun.« Er setzte seine Lesebrille auf und startete den Browser seines Laptops. »Haben Sie sie schon gegoogelt?«

Jeremy schüttelte den Kopf. Der Professor tippte die wenigen Informationen in seinen Computer.

»Es gibt in ganz Deutschland nur eine Cara Spornitz. Sie ist Tierärztin und hat eine Praxis in Dessau. Erstaunlich. Zwei Schwestern mit ganz ähnlichen beruflichen Präferenzen.«

Jeremy sah das anders. »Die eine züchtet Tiere, um sie zu verfüttern. Und die andere hat studiert und scheint eher daran interessiert, ihre Patienten am Leben zu erhalten. Das eine ist doch das genaue Gegenteil des anderen.«

Der Professor strich sich mit der Hand über das Kinn. »Dann sehe ich mehr Parallelen als Sie. Nehmen Sie Kontakt zu ihr auf. Finden Sie sie, egal wo. Es ist wichtig.«

Jeremy nickte. »Eine Frage.«

»Ja?«

»Wenn die beiden so gar keinen Kontakt zueinander haben, inwieweit kann Cara Spornitz Ihnen weiterhelfen?«

»Es geht hier doch nicht um mich«, sagte Brock erstaunt. »Es geht um das Leben von Charlotte Rubin.«

Das Dorf der Mörder
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