8

Der Professor war nicht da.

Das kam vor, aber nicht an Tagen wie diesen. Einem heißen Sommertag Anfang August.

Es war kurz vor elf. Normalerweise hätte Prof. Dr. Dr. Brock sich vor einer Stunde mit einer Tasse Earl Grey in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und die Protokolle der letzten Sitzung noch einmal studiert. Er wäre beim ersten Läuten persönlich zur Tür gekommen, er hätte der Frau die Hand gegeben und die beiden Männer freundlich begrüßt. Die wenigen Schritte zur Garderobe wurde meist über das Wetter geredet, der Weg zum Wartezimmer galt der Frage nach dem Befinden. Und wenn die Frau voraus ins Büro gegangen war und der Professor die Tür mit einem letzten freundlichen Nicken in Richtung ihrer Begleiter hinter sich geschlossen hatte, konnte Jeremy zurück an seine Arbeit.

Aber der Professor war nicht da.

Jeremy Saaler entschuldigte sich und ihn wortreich, wobei er den Leuten da draußen im Treppenhaus in einer Art emotionalem Multitasking am liebsten die Tür vor der Nase zugeschlagen hätte. Er hatte eine so tiefe Abscheu vor der Frau, dass sich ihm fast der Magen hob. Aber er tat das, was man von einem Diplompsychologen in der Facharztausbildung erwartete, wenn der Chef aufgehalten wurde. Er bat sie herein, übernahm die Wetterfloskeln und erkundigte sich höflich, wie es ihr ginge. Sie tat so, als ob sie seine Frage nicht gehört hätte. Die beiden Beamten vom Vorführdienst folgten. Sie trugen graue Anzüge, in denen sie sich nicht wohlfühlten, weil sie mit der Uniform auch einen Teil ihrer Autorität abgelegt hatten. Sie sahen sich kurz an, der eine zuckte mit den Schultern, der andere nickte. Das Eichenparkett knarrte unter ihren Gummiprofilsohlen, gedämpft durch Läufer und persische Teppiche. Der Warteraum war eingerichtet wie ein Salon der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Holzvertäfelte Wände, ausladende Sessel, schwere Samtvorhänge, die immer noch einen Hauch Tabakduft verströmten, auch wenn hier seit Jahren nicht mehr geraucht werden durfte.

Die Frau ging an der Sitzgruppe vorbei zum Fenster. Dort setzte sie sich auf einen Stuhl und sah hinaus auf die dicht belaubten Kronen der Bäume. Die Männer – Jeremy glaubte sich zu erinnern, dass der Größere der beiden einen schwer zu merkenden Namen polnischen Ursprungs trug, irgendetwas wie Miesdrosny oder so ähnlich (den Namen des anderen hatte er sofort wieder vergessen) – setzten sich auf eine etwas linkische Weise, die verriet, dass Zwangspausen in ihrem Tagesablauf nicht vorkamen. Sie waren hier, um die Frau abzuliefern, Zeitung zu lesen und sie anschließend wieder zurück in die JVA Lichtenberg zu bringen – ein eng getakteter Ausgang. Verspätungen durften den Namen Busfahrerstreik tragen. Oder Stau auf der Stadtautobahn. Bauarbeiten an der S-Bahn-Strecke. Aber keinesfalls: Prof. Dr. Dr. Gabriel Brock ist weg, und niemand weiß, wo er steckt. Noch nicht einmal Mieze, die treue Arzthelferin, die eigentlich Frau Katz hieß und die ausschließlich von Brock so genannt werden durfte, wenn er sie um Überstunden bat. Sie hatte wie schon das erste Mal, als die Frau kam, den Vormittag freigenommen. Sie wollte dem »Tierpark-Monster« nicht begegnen. Jeremy beneidete Mieze. An solchen Tagen hätte er gerne mit ihr getauscht.

Der ohne Namen sah verstohlen auf seine Armbanduhr.

»Tee? Kaffee? Professor Brock wird gleich hier sein.«

Hoffentlich. Jeremy versuchte seit einer halben Stunde, seinen Doktorvater auf dem Handy zu erreichen. Erfolglos. Sogar die Geheimnummer, die für äußerste Notfälle, hatte er gewählt. Mailbox. Er hatte zwei Nachrichten hinterlassen, obwohl er wusste, dass der Professor nie einen Termin versäumte. Nicht, seit dieser sich mit Besitz und Handhabung eines Smartphones mehr schlecht als recht arrangiert hatte. Wenn er sich verspätete, meldete er sich. In Jeremy regte sich eine leise Sorge. Was sollte er tun, wenn der Professor nicht auftauchte? Die drei wieder zurückschicken?

Miesdrosny bat um einen Tee, der andere, klein, kugelig, kurzatmig, mit einer Stimme so dünn wie der Pullunder unter dem kneifenden Jackett, wollte Kaffee. Die Frau, wie bei der letzten Sitzung, nichts. Was sah sie? Vögel, die davonfliegen konnten? Menschen, die dorthin liefen, wohin sie wollten? Sie war kräftig, fast grobschlächtig und hatte ein früh gealtertes, von harter Arbeit gezeichnetes Gesicht. Sie war 34 Jahre alt, sah aber aus wie Mitte vierzig. Wie beim letzten Mal trug sie einen zerknitterten dunkelblauen Hosenanzug billiger Machart. Vermutlich das, was die Staatskasse bereit war auszugeben, wenn für ein paar Stunden die Häftlingskleidung gegen Zivil ausgetauscht werden musste. Oder sie besaß nichts anderes.

Jeremy hatte noch vor ihrer ersten Begegnung gewusst, wer sie war. Alle Zeitungen hatten über den Fall berichtet. Die einen distanziert, die Boulevardblätter mit bemerkenswerter Detailkenntnis und Überschriften wie Steinschleudern: Die Bestie. Das Tier. Der Dämon. Die Teufelin.

Oder: eine schwer kranke Frau. Mit starren, linkischen Bewegungen und verunsichert von der Aussicht, zwei Stunden lang als Mensch wahrgenommen zu werden. Sie war hier, weil der Staatsanwalt wissen wollte, ob ihre Tat die einer Zurechnungsfähigen oder einer Verrückten war. Professor Brock war einer der kompetentesten Gutachter, sein Urteil würde die Entscheidung maßgeblich beeinflussen. Insgesamt drei Tage hatte er für die Sitzungen veranschlagt. Dies war der zweite. Jeremy, seit einem halben Jahr an Brocks Institut für forensische Psychiatrie, durfte die Gesprächsprotokolle abtippen. Es war nicht viel Arbeit, denn sie redete nicht viel.

Er ging in die Teeküche und bereitete die Getränke vor. Er mochte Brock. Und diese Praxis. Er liebte die dunklen, behaglichen Räume, den Duft nach Leder und Pfeife, nach Staub auf Buchrücken und dem Terpentin im Möbelwachs, mit dem die Regale und Schreibtische poliert wurden. Manchmal glaubte er, im falschen Jahrhundert geboren zu sein. Brock war eine Kapazität auf dem Gebiet von Rückfallprognosen und der Schizophrenieforschung. Er war der Beste. Und für Jeremys Vater war nur das Beste gut genug. Jeremy hatte das Psychologiestudium mit gerade dem erforderlichen Eifer hinter sich gebracht, der ein Diplom nicht gänzlich ausgeschlossen hatte, und sich über seine Facharztausbildung nicht allzu viele Gedanken gemacht. Wenn er an seine Zukunft dachte, sah er auch eine holzgetäfelte Praxis. Allenfalls noch Menschen, denen er aus tiefen, existenziellen Krisen heraushelfen konnte. Aber er hatte nie das Böse gesehen. Bis sie gekommen war und es mitgebracht hatte.

Er wusste, dass man als angehender Psychologe nicht so denken durfte. Sie war krank. Hoffentlich. Denn das würde bedeuten, dass sie nie wieder in die Freiheit entlassen würde. Dass man versuchen würde, sie zu therapieren, damit sie vielleicht eines Tages verstehen würde, was sie getan hatte.

Während er wartete, dass das Wasser im Boiler heiß wurde, sah er durch die offenen Türen hinüber zu der Gestalt am Fenster. Sie wirkte kraftlos, hatte in der Haft wohl auch an Gewicht verloren. Sie hatte einen Neunzig-Kilo-Mann mit Drogen vollgepumpt, zu einer wild gewordenen Herde südamerikanischer Urwaldschweine geschleift und ihn dort seinem grausamen Schicksal überlassen. In einer Ruhe und Selbstverständlichkeit, mit der andere ihre Wellensittiche fütterten. Sie hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, Spuren zu beseitigen. Allenfalls die Knochen hatte sie noch eingesammelt und nachlässig entsorgt. So wie Menschen, die nach dem Grillen ihren Dreck nicht richtig auflesen. Das und der Überfall auf eine Polizistin war ihr dann zum Verhängnis geworden.

Sie war ruhig, beinahe unbeteiligt geblieben, als die Polizei sie wenig später anhand der Indizien überführt hatte. Über die Tat schwieg sie. Erklärte nichts, rechtfertigte nichts, fügte ihrem Ein-Satz-Geständnis keine Silbe mehr hinzu, war noch nicht einmal imstande zu sagen, ob sie ihr Opfer gekannt oder es einer Art innerem Zufallsgenerator überlassen hatte, diesen armen Mann auszuwählen.

Jeremy wusste Charlotte Rubins Geburtsdatum, er wusste um ihre Schulbesuche, Umzüge, die Eckdaten ihres Lebens. Lehre als Tierpflegerin in Dessau, ledig, kinderlos. Sie kam aus einem kleinen Dorf irgendwo im Fläming, hatte keinen Führerschein, war nie straffällig geworden, lebte in einer bescheidenen Arbeitswohnung, galt als freundlich, zurückhaltend und ruhig. Brock sagte, er sei noch am Anfang. Er müsse sich heranarbeiten an die Seele dieses Menschen, der plötzlich ohne jeden erkennbaren Grund getötet hatte. Das war seine Berufung, und genau das sollte eines Tages Jeremys Beruf werden.

Der Boiler summte. Er hängte einen Teebeutel in die eine Tasse und streute einen Löffel Pulverkaffee in die andere, goss Wasser darüber und balancierte alles auf einem Tablett hinüber ins Wartezimmer. Die beiden Herren räusperten sich, beugten sich vor, nahmen Zucker und Milch, rührten mit den Löffeln. Der ohne Namen hatte ein Sudoku-Heft dabei.

»Wo ist Professor Brock denn?«, fragte sie.

Er erschrak, als die Frau sich zu ihm wandte, und er hoffte, die Reaktion gut genug verborgen zu haben. Sie hatte hellblaue, sanfte Augen. Immer wenn er sie ansah, fragte er sich, ob sie so auch ihr Opfer angesehen hatte. Den Mann, der wissend und schwitzend vor Angst die letzten Minuten seines Lebens in völliger Klarheit durchlitten hatte. Das Knirschen der eigenen Knochen. Das Schnalzen der Sehnen. Das Reißen von Fleisch. Der stinkende Atem der Schweine im Gesicht, der Biss in Hals, Nacken, Schultern. Arme weggeschleift, eine Hand im Wasserkanal treibend, Blut auf Sand, Blut überall …

Er konnte die Bilder nicht vergessen. Die dürren Worte des Gerichtsmediziners, der die Zähne und Füße der Schweine untersucht und den Inhalt der Mägen analysiert hatte. Der die Reste der Leiche wie ein Puzzle auf seinem Stahltisch arrangiert und fotografiert hatte. Das Protokoll der Tat und ihre Rekonstruktion legten Zeugnis ab vom Tun einer Kranken, und statt Mitgefühl empfand Jeremy Abscheu.

Er suchte nach den Spuren des Wahnsinns im Leben dieser Frau, in ihren Augen, ihrem Gesicht, und alles, was er fand, war an Belanglosigkeit grenzende Normalität.

»Ähm …« Jeremy räusperte sich. »Auf dem Weg. Möchten Sie vielleicht schon mal im Arbeitszimmer Platz nehmen?«

»Ja«, sagte sie.

Kleine, leise Stimme. Hochgezogene Schultern. Er versuchte ein Lächeln und trat zur Seite, um sie vorüberzulassen. Als sie ihn versehentlich mit dem Ärmel streifte, schauderte er.

»Um dreizehn Uhr müssen wir zurück«, sagte Miesdrosny oder so ähnlich. »Also wenn er nicht bald kommt …«

»Er kommt«, antwortete Jeremy. »Er weiß, dass Sie da sind.«

Die Frau, die Jeremy einfach nicht Charlotte Rubin nennen konnte, setzte sich in den Lederstuhl vor dem Schreibtisch. Mattes Licht, gedämpft von hellen Leinenvorhängen, fiel auf den dunklen Eichenboden. Jeden Morgen wischte die Putzfrau auch das letzte Stäubchen weg. Sie ordnete die Bleistifte der Länge nach – Faber Castell 2H –, spitzte sie, rückte das Telefon mittig, prüfte die Lage der Schreibgarnitur. Brock hasste Unordnung. Ein leerer Schreibtisch war für ihn Ausdruck höchster Professionalität. Jeremy dachte an das Chaos in seinem Arbeitszimmer, an seine Arbeit zum Thema »Risikobeurteilungen unter Anwendung von Prognoseinstrumenten« und an die Öffnungszeiten der Unibibliothek, als Miezes Telefon zwei Zimmer weiter klingelte.

»Das wird er sein. Wenn Sie mich entschuldigen?«

Froh, ihrer Nähe entrinnen zu können, eilte er durch den Flur ins Sekretariat und hob den Hörer ab.

»Praxis für Psychotherapie Professor Doktor Doktor Gabriel Brock, Jeremy Saaler am …«

»Lassen Sie mal.«

Jeremy fiel vor Erleichterung fast der Hörer aus der Hand. »Herr Professor! Wo sind Sie? Sie haben einen Termin mit …«

»Ich hatte einen Unfall.« Die Stimme des Professors klang, trotz der ständigen Heiserkeit, klar und ruhig. »Nichts Ernstes. Radfahrer. Aber Sie können sich denken, welche Diskussionen das nach sich zieht. Missachtet die Vorfahrt und will mir die Schuld in die Schuhe schieben. Typisches Kleinkindverhalten mit verminderter Schuldreflexion.«

Brock lachte leise. Er konnte alles – vom Preiskampf der Supermärkte bis zum Dackeldarwinismus – in drei Worten erklären. »Dabei, und das war weitaus unangenehmer, ist mir das Telefon unter den Vordersitz gerutscht. Ich nehme an, Sie sind derjenige, der permanent angerufen hat.«

»Es … ja … tut mir leid.«

»Aber warum denn? Ich bin schon auf dem Weg. Zehn Minuten. Jeremy, tun Sie mir einen Gefallen. Lassen Sie Frau Rubin nicht aus den Augen. Wo ist sie?«

Jeremy trat einen Schritt zur Seite und sah in den Flur. Die Tür zum Wartezimmer stand offen. Der ohne Namen rätselte in seinem Heft, Miesdrosny hatte von irgendwoher eines dieser Monster-Bestien-Teufelinnen-Blätter gezaubert und schlug ebenso lustlos wie geräuschvoll die Seiten um.

»In Ihrem Büro.«

»Allein?«

»Ja?« Unsicher ließ Jeremy die Antwort wie eine Frage klingen.

Der Ton des Professors veränderte sich, wurde klar, präzise und drängend. »Lassen Sie sie nicht aus den Augen. Sie darf keinen Moment ohne Aufsicht sein.«

Fluchtgefahr. Mein Gott. Jeremy schluckte. Die Praxis lag im ersten Stock, und die Fenster waren nicht vergittert.

»Keine Sekunde. Die beiden Beamten sind doch bei ihr?«

»Ähm …«

»Ich bin gleich da. Gleich. Gehen Sie zu ihr und warten Sie.«

Der Professor legte auf. Jeremy hastete über den Flur ins Wartezimmer. Durch die offene Tür konnte er sehen, dass der Lederstuhl in Brocks Büro leer war. Die beiden Männer sahen erstaunt hoch, als er an ihnen vorbeieilte.

Sie war fort. Das durfte doch nicht wahr sein.

»Hallo?« Jeremy drehte sich um. Miesdrosny oder so ähnlich sprang auf, der ohne Namen entschied sich, erst einmal den Kugelschreiber in die offene Seite seines Rätselheftes zu legen.

»Wo ist sie?« Er lief zum Fenster – es war geschlossen.

»Ist sie weg?« Miesdrosny kam herein und sah sich um. Er ging auch zum Fenster, hob die Vorhänge, trat hinter den Schreibtisch, bückte sich, inspizierte die Tischplatte von unten und hielt plötzlich inne. Der ohne Namen im Nebenzimmer legte sein Heft weg und stand langsam auf. Miesdrosny kam wieder hoch.

Beide griffen in einer beinahe synchronen Bewegung in ihre Jacken und zogen die Waffen aus den Holstern. Miesdrosny sah auf die Bürotür, die so weit geöffnet war, dass sich hinter ihr, an der Wand stehend, ein Mensch verbergen konnte. Der ohne Namen kam erstaunlich schnell, leise und behände in den Raum. Noch nicht einmal das Parkett knarrte. Miesdrosny hob die Waffe und zielte auf das dunkle Holz, der ohne Namen griff nach der Klinke und zog die Tür langsam, ganz langsam zu sich heran. Jeremy konnte von seinem Platz am Fenster noch nicht sehen, was sich hinter ihr befand. Miesdrosnys Augen weiteten sich. Er atmete scharf ein. Ließ die Waffe sinken und schrie: »Scheiße!«

Der andere schnellte vor, knallte die Tür hinter sich zu und fuhr herum. Er zielte auf die Frau, die in der Hocke an die Wand gelehnt saß. In ihrem Hals steckte ein Bleistift, Blut schoss in pulsierenden Strömen aus der klaffenden Wunde. Sie sah mit glasigen Augen ins Leere. Die weiße Bluse unter ihrer Jacke glänzte rot. Ihre Handflächen waren blutverschmiert, sie musste sich den Stift mit unglaublicher Wucht in die Halsschlagader gerammt haben.

»Scheiße! Scheiße! Scheiße!«

Miesdrosny schien der zu sein, der wenigstens ansatzweise wusste, was zu tun war. Er beugte sich zu der Frau hinunter und zog ihr mit einem Ruck den Stift aus dem Hals. Seine groben Hände pressten sich auf die Wunde. Der Druck war zu groß, die Frau rutschte weg und fiel auf den Boden.

»Einen Krankenwagen!«

Der Namenlose suchte sein Funkgerät, bis ihm einfiel, dass dies ein Einsatz unter besonderen Bedingungen war – ohne Funkgerät. Er fand sein Handy, wählte und gab in kurzen Sätzen die Situation durch.

»Ein Handtuch! Haben Sie ein Handtuch? Wir müssen einen Druckverband machen. Schnell! Die kippt uns ja weg hier!«

Jeremy löste sich aus seiner Erstarrung. Er rannte in die Teeküche, räumte in fliegender Hast das Bord auf der Suche nach Handtüchern leer und fand sie schließlich unter der Spüle. Mit einem Stapel eilte er zurück. Die ganze Zeit über hämmerte ihm sein Herzschlag in den Ohren. Etwas in ihm signalisierte das Wort Schock. Aber er achtete nicht darauf.

»Machen Sie einen Druckverband!«

»Einen was?«

Der Beamte schoss einen Blick auf Jeremy ab, der einfache Wirbeltiere auf der Stelle getötet hätte.

»Druck. Ver. Band.«

»Ich kann das nicht.«

»Dann nehmen Sie die Finger Ihrer rechten Hand und drücken Sie sie mit der Linken auf die Wunde.«

»Was?«

»Ich denke, Sie sind Arzt?«, brüllte der Beamte.

Jetzt werde hier nicht panisch, dachte Jeremy trotzig. »Ich bin Psychologe. Anatomie gehört nicht zu unserer Ausbildung.«

»Aber schaden täte es nicht.« Der Polizist nahm Jeremys Hand und legte sie auf den Hals der Frau, die leise röchelte. Blut sickerte aus ihren Mundwinkeln. Vielleicht hatte sie die Luftröhre gleich mit erwischt. Ein metallischer Geruch stieg in Jeremys Nase. Er spürte glitschige Nässe. Ihm wurde übel.

»Fester!«

Jeremy gab mehr Druck. Er war erstaunt, wie hart die Muskeln unter der Wunde waren. Die Frau stöhnte. Sie verlor immer noch Blut. Miesdrosny rollte eines der Handtücher zu einer Wurst.

»Drauflegen. Pressen.«

Dann versuchten sie, die restlichen Handtücher um ihren Hals zu wickeln. Es war schwer, denn die Frau rutschte ihnen immer wieder aus den Armen. Ihr Blut befleckte Jeremys Gesicht, sein Hemd, einfach alles.

»Nochmal!«, brüllte Miesdrosny. »Kopf hoch! Los!«

Jeremy griff der Frau in den glitschigen Nacken. Ihre Augen waren halb geschlossen. Wenn sie bei Bewusstsein war, schien sie die hektischen Bemühungen der Männer völlig zu ignorieren.

»Festhalten!«, brüllte Miesdrosny in sein Ohr. »Schließen Sie die Wunde!«

Jeremys Finger suchten die Quelle des roten Stroms. Seine Hände umklammerten ihren Hals, als ob er sie erwürgen wollte. Nicht schlappmachen, dachte er flehentlich. Halt durch. Er begriff zum ersten Mal, was es hieß, wenn jemand unter den eigenen Händen wegstarb.

Sie schlug die Augen auf, ihr Blick traf seinen, und für einige Augenblicke schien es, als ob Jeremy eine direkte Verbindung zu ihr hätte. Du bleibst hier, dachte er, du machst dich nicht einfach davon. Du wirst das jetzt durchstehen. Und alles, was danach noch kommen wird.

Endlich gelang es Miesdrosny, den Verband anzulegen.

Schnelle Schritte näherten sich vom Flur. Eine Aktentasche wurde fallen gelassen.

»Was …«

Brock stand in der Tür. Eine Sekunde schien er wie erstarrt, dann kam er zu ihnen und beugte sich zu der Frau hinab. Seine Hände tasteten nach ihrem Puls und fanden ihn. Er klopfte ihr auf die Wange und hob eines der flatternden Lider.

Jeremy und Miesdrosny machten Platz und erhoben sich. Beide keuchten vor Anstrengung. Sie waren von oben bis unten mit Blut besudelt. Der Namenlose tauchte wieder aus der Versenkung auf, starrte einen Moment erschrocken auf seinen Kollegen und merkte dann, dass die Frau noch lebte, weil der Professor leise mit ihr sprach.

»In drei Minuten.« Er sah zu Brock. »Krankenwagen. Hier.«

Brock blickte zu Jeremy hoch, ohne die Miene zu verziehen. Der bückte sich, nahm den Bleistift und legte ihn auf ein übrig gebliebenes Handtuch.

»Es ging so schnell.«

»Ich hatte gesagt …« Brock brach ab. Er beherrschte sich. Vorsichtig ließ er den Kopf der Frau auf den Boden sinken. Auf dem Teppich breitete sich eine dunkle, nasse Lache aus.

Es gab etwas, das Jeremy an Professor Brock schätzte. Das nichts mit seinem Wissen, seinem Können oder seiner Kompetenz zu tun hatte. Es war der Instinkt, sich vor die Herde zu stellen. Und zu der gehörte im Moment auch Jeremy.

Er wusste nicht, für wie lange. Er hatte vom ersten Moment an geahnt, dass die Umstände, die ihn zu Brock geführt hatten, alles andere als optimal waren. Jeremys Qualifikation war eben nicht die Quersumme aus Wissen, Können und Kompetenz. Sie war das klägliche Produkt von Klüngel, Vetternwirtschaft und den auf Golfplätzen gegebenen Versprechen, den Nachwuchs des anderen zu fördern. Seine Noten waren Durchschnitt. Sein Engagement hielt sich in Grenzen. Seine Gefühle für Menschen wie die Frau waren unprofessionell. Und trotzdem machte Brock ihn nicht vor den anderen einen Kopf kürzer. Seine Achtung für den Professor stieg im selben Maß wie die Verachtung für seinen eigenen Vater, der ihm die Chance genommen hatte, etwas anderes zu sein als eine lästige Verpflichtung.

Brock stand auf. Er nahm das Handtuch, der Bleistift fiel zu Boden. »Ich hatte angerufen, dass ich mich verspäte. Es tut mir leid. Ich hoffe, sie kommt durch.«

Die Frau hatte aufgehört zu röcheln. Draußen jaulte ein Martinshorn. Die ganze Situation war so unwirklich. Eben noch hatte er Kaffee und Tee serviert, und im nächsten Moment jagte sich die Frau einen Bleistift in den Hals und wäre um ein Haar gestorben. Das Jaulen wurde lauter, und die folgenden Minuten erlebte Jeremy wie unter einer Glasglocke. Als die Sanitäter den leblosen Körper auf eine Trage geschnallt und aus der Praxis gerollt hatten, folgten ihr die beiden Beamten, und Jeremy ging in den Waschraum. Er sah in den Spiegel, und es wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass er drauf und dran war, den falschen Beruf zu wählen.

Das Dorf der Mörder
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