6. Kapitel Ein Geheimnis wird geteilt

Am nächsten Tag in der Schule konnte sich Noah kaum konzentrieren. Beim Mittagessen setzte er sich an das Ende eines langen Tisches in der Cafeteria und wartete auf seine Freunde. Er beugte sich über sein Tablett und stocherte in seinem Essen herum, als erwartete er, darin etwas zu finden. Um ihn herum benahmen sich die anderen Kinder wie immer: Sie lachten, schrien und beschossen sich mit Maiskörnern, indem sie ihre Plastiklöffel als Katapulte benutzten.

Ein Mädchen ließ sich auf die Bank ihm gegenüber fallen. Sie landete so hart, dass Becky Prebee, die am anderen Ende der Bank saß, die Kartoffel von der Gabel fiel. Das Mädchen hieß Ella Jones und war Noahs Freundin und Mitglied der Action Scouts.

Noah sah von seinem Essen hoch und starrte sie mit leerem Blick an.

«Was ist los?», fragte sie, während sie so kräftig in einen Apfel biss, dass es nur so spritzte. Als Noah nicht antwortete, fügte sie hinzu: «Hast du deine Zunge verschluckt?» Aber weil sie einen vollen Mund hatte, klang ihre Frage wie «Haschtuscheinefungeferflukt?».

«Gute Manieren hast du», meinte Noah kühl. «Vielleicht solltest du lieber unter dem Tisch essen?»

Ella kicherte. «Ha! Wuff-wuff!» Und dann fügte sie etwas hinzu, das Noah wieder nicht verstehen konnte. Es klang so ähnlich wie «Ich habe eine Kröte im Schuh».

«Hey, Leute!»

Hinter sich hörte Noah die Stimme des dritten Action Scouts, Richie Reynolds. Er trug sein Lieblingshemd, khakigrün mit glänzenden Silberschnallen. In seinen Taschen steckten Bleistifte, Kugelschreiber, zwei Marker, ein kleines Lineal und eine Stablampe. Ella nannte es Richies Nerd-Werkzeug.

Richie schwang ein Bein über die Bank und setzte sich hin. Einen Moment lang wurde das Licht von dem metallischen Material seiner Schuhe reflektiert und schickte bunte Lichtflecken über Noahs Arm. Richies Schuhe waren so schrill und bunt und glitzernd, dass man sie kaum übersehen konnte. Noah konnte sie selbst in einem völlig überfüllten Schulflur wiedererkennen. Richie trug sie ständig – zur Schule, zum Baseballtraining, sogar zur Kirche. Als sein magerer Hintern auf der Bank landete, rutschte ihm die große Brille von der Nase.

Richie schob sie sich wieder in Position, betrachtete sein Essen, rieb sich die Hände und sagte mit angewidertem Gesicht: «Mmmmh … ich kann es ja kaum erwarten.» Er schob das Essen mit einer Plastikgabel hin und her. «Das – das ist … Was ist das hier? Hühnchen?»

«Ich traue mich nicht zu raten», sagte Ella, die sich eine Banane schälte. «Noah hat heute irgendwas», fügte sie hinzu.

«Ich habe gar nichts», sagte Noah, doch selbst in seinen Ohren klang seine Stimme kalt und flach.

«Hört sich aber so an», antwortete Richie.

«Hab nicht gut geschlafen.»

«Warum denn nicht?»

Noah starrte auf den Berg Essen auf seinem Tablett und ignorierte die Frage.

«Noah ist mit seiner Arche auf Grund gelaufen», witzelte Richie und versuchte weiterhin herauszufinden, was für ein Fleisch da auf seinem Teller lag. «Vielleicht haben die Tiere ihn ja wach gehalten.»

Noah verschluckte sich an einem Bissen und spuckte ihn auf den Tisch.

«Huch!», rief Ella. Mit besorgtem Blick berührte sie Noahs Arm.

«Sorry, Noah, das war doch nur ein Witz», sagte Richie.

«Ist schon okay. Es ist nur, weil …»

«Weil was?», fragte Ella.

«Ach nichts.»

«Komm schon. Wie lange sind wir nun schon befreundet?», meinte sie.

Noah verstand es selbst nicht, aber es fiel ihm schwer, seinen Freunden von seinen Erlebnissen im Zoo zu erzählen. Dabei vertraute er niemandem auf der Welt so sehr wie seinen Freunden.

Er nahm all seinen Mut zusammen und platzte heraus: «Es geht um Megan!»

Sofort wurden Ellas und Richies Gesichter ernst. Wenn es um Megan ging, war nicht die Zeit für Späße.

«Was denn?», fragte Ella.

«Ich –» Noah unterbrach sich und starrte ins Nichts.

«Noah», sagte Ella, «du kannst uns alles sagen.»

Das stimmte. Diese beiden waren die besten Freunde, die man sich nur wünschen konnte. Noah sah Ella in die Augen und sagte: «Die Tiere im Zoo … ich glaube … nein, ich weiß, dass sie irgendwas mit Megans Verschwinden zu tun haben.»

Ellas Kinn klappte herunter. Richie ließ ein Stück Fleisch fallen. Einen Moment lang saßen die drei einfach nur da und starrten sich schweigend an. Dann blickte sich Noah über die Schulter, um sicherzugehen, dass sie von niemandem belauscht wurden.

«Ich muss euch was zeigen», sagte er. «Seht euch das an.»

Er schob die Hand in die Tasche und zog Megans Aufzeichnungen hervor.