44. Kapitel Die Scouts übernehmen das Ruder

Als die Scouts aus der Gasse traten, fanden sie sich auf der anderen Seite der Stadt wieder. Die Gegend war so voller Tiere, dass es schwierig war, sich überhaupt fortzubewegen. Sie füllten die Straßen, die Fußwege, die Gassen – sie waren überall. Affen schwangen sich von den Zweigen, baumelten von Balkonen und ritten auf anderen Tieren. Reptilien klammerten sich an Wände. Vögel hockten auf Bäumen, Dächern und Stromkabeln.

Als die Tiere die Scouts erblickten, machten sie Platz und bildeten eine Gasse. Sie führte zu einer niedrigen Holzbühne, auf der eine Gruppe von Leuten in Trenchcoats auf breiten, gepolsterten Sesseln saß. Es war der Geheime Rat. Noah fand es bemerkenswert, dass Mr Darby als Einziger des Rates einen Mantel aus Samt trug. Der Geheime Rat wurde von den Tieren offenbar geliebt. Affen sprangen von einem Schoß auf den anderen, Schlangen glitten über ihre Schuhe, und Eidechsen kletterten ihnen den Rücken hinauf. Doch die Ratsmitglieder schienen es kaum zu bemerken.

Mr Darbys Bart tanzte, als er sich seinen Gästen zuwandte. «Kommt, kommt!», sagte er und ging los.

Die drei Kinder gingen langsam durch die Masse. Vor Begeisterung über die Ankunft fingen die Tiere an zu jubeln. Sie flatterten mit den Flügeln, trampelten mit ihren Pfoten und klapperte mit ihren Hufen. Gebrüll und Gekreisch hallten durch die Stadt der Artenvielfalt. Der Lärm war ohrenbetäubend. Mr Darby winkte nach links und nach rechts und führte die Scouts und ihre Tierfreunde zur Bühne. Dort stiegen sie hinauf und setzten sich in die Mitte des Rates auf die Ehrensessel.

Mr Darby wandte sich an die Zuschauermenge, und eine unheimliche Stille breitete sich über den Straßen aus. Er räusperte sich.

«Verehrte Mitglieder unseres Geheimen Rates und unserer Geheimen Gesellschaft! Wie ihr sicherlich wisst, haben wir heute unerwarteten Besuch in unserer Stadt – bedeutenden Besuch. Ich habe diese außerordentliche Ratsversammlung einberufen, um eure Meinung zum Megan-Problem zu hören. Doch lasst mich zunächst ein paar Worte sagen.»

Etwa eine Viertelstunde lang erklärte Mr Darby noch einmal die Geschichte um Megan, wie sie verschwunden war und die Theorien über ihren Aufenthaltsort, die Wahrscheinlichkeit, sie zu retten, und die möglichen Gefahren. Die ganze Zeit blickten die Action Scouts über die Menge von Tieren und Menschen. Am Ende seiner Rede sagte Mr Darby: «Möchte jemand eine Frage stellen oder etwas sagen?»

Ein riesiger Mann mit einem Bauch so rund wie ein Ballon drängte sich nach vorn und warf sich gegen die Bühne. «Ich möchte dem Jungen da etwas sagen.»

«Welchem Jungen?», fragte Mr Darby.

«Dem da», sagte der Mann. Er deutete mit seinem übergroßen Finger auf Noah. Der Finger sah aus wie ein zitternder Hotdog. «Der Junge, der behauptet, mit dem Mädchen verwandt zu sein!»

Mr Darby beugte sich zu Noah herunter und grinste: «Bist du derjenige, der ‹behauptet, mit dem Mädchen verwandt zu sein›?», flüsterte er.

Noah war zu erschrocken, um zu antworten.

Mr Darby trat zur Seite, damit Noah und der dicke Mann sich besser sehen konnten. Schweigen breitete sich aus.

Der Mann schob seine großen Finger in die Taschen zurück und sagte: «Junger Mann, weißt du eigentlich, wie gefährlich es für dich ist, hier zu sein?»

«Ich … ich glaube schon», antwortete Noah.

«Weißt du überhaupt, was deine Anwesenheit hier bedeutet?», fragte er. «Weißt du, was deine Schwester getan hat? Begreifst du, wie sie diese großartige Gemeinschaft auseinandergebracht hat?»

Die Stimme des Mannes klang bedrohlich.

«Ja. Ich glaube, Mr Darby hat erklärt –»

«Du glaubst also, dass deine Schwester im Dunklen Land ist? Welche Beweise hast du dafür? Wir brauchen Beweise!», verlangte er.

Noah warf einen Blick auf Blizzard, der ebenfalls auf der Bühne stand. Noah war nicht der Einzige, der das Verhalten des Mannes nicht mochte. Der Eisbär sah so aus, als wollte er sich gleich auf den Mann stürzen und ihm ein Stück aus seinem Hintern beißen.

«Ich … ich habe keine Beweise, Sir. Aber die Tiere haben Megans Zettel gefunden und –»

«Du hast keine Beweise? Du hast keine Beweise, und dann stehst du hier vor uns allen und willst, dass wir die Tore zu unserer Heimat öffnen, zu unserem Hafen, unserem Schutzraum, und die Gefahren des Dunklen Landes hereinlassen?»

«Ich … ich glaube schon. Ich meine … nein!» Noah unterbrach sich. «Ich meine … ich weiß nicht.»

«Du weißt nicht?» Der Mann schüttelte abschätzig den Kopf. «Du weißt es nicht!»

Noah saß verlegen da und presste die Hände zusammen. Er fühlte sich schrecklich klein und unbedeutend.

Der Mann wandte sich an den Geheimen Rat. «Dieser junge Mann möchte, dass wir die Tore öffnen – und unsere Häuser, unsere Straßen und Schulen den Gefahren des Dunklen Landes preisgeben. Warum? Nur weil er glaubt, dass seine Schwester vielleicht dadrin ist!»

Noah wusste nicht, was er sagen sollte. Die Tränen traten ihm in die Augen.

Ella sprang auf und rief: «Passen Sie bloß auf, Sie dicker Kerl! So reden Sie nicht mit meinem Freund!» Ihr Pferdeschwanz wippte wütend hin und her.

«Junges Fräulein!», sagte der Mann. «Als du –»

«Ich bin noch nicht fertig!», unterbrach ihn Ella. «Wissen Sie eigentlich, wer wir sind? Wir sind die Action Scouts. Und niemand spricht so mit uns!»

«Die Action Scouts», wiederholte der Mann spöttisch. «Nun, dann ist natürlich alles anders. Immerhin haben wir es hier mit den Action Scouts zu tun. Das habe ich wohl ganz vergessen!» Er zuckte die Schultern und verdrehte die Augen. Nervöses Kichern zog durch den Rat.

«Lassen Sie d–»

Noah berührte Ella am Arm, und ihre Blicke trafen sich einen Moment. Von Ellas Mut angeregt, trat Noah auf den Mann zu.

«Wenn Megan nicht im Dunklen Land ist, wo ist sie dann? Die Tiere im Haus der Kriechtiere haben gesehen, wie sie in die Kammer des Lichts ging und dann verschwand. Mr Darby hat uns das erzählt. Und wenn Sie sie nirgendwo im geheimen Zoo finden können, wo soll sie sonst sein?»

Der Mann zog die Augenbrauen hoch und setzte ein spöttisches Grinsen auf. Aber er wusste, dass Noah recht hatte.

«Sie ist im Dunklen Land, und das wissen Sie auch! Sie haben bloß Angst davor, was das bedeuten könnte.»

Der Mann öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Noah redete einfach weiter.

«Meine Schwester ist verschwunden!», rief er. «Verstehen Sie eigentlich, was das mit meinem Zuhause gemacht hat? Mit meiner Umgebung? Wissen Sie, wie viele Menschen, die ich zum Teil gar nicht kannte, wegen ihres Verschwindens völlig fertig sind? Ich will niemanden in Gefahr bringen. Bestimmt nicht! Ich bitte nur die Geheime Gesellschaft, mir bei der Suche nach meiner Schwester zu helfen. Damit ich sie nach Hause bringen kann.» Noah hielt inne. Er suchte nach Worten, um die Menge zu bewegen, doch ihm fielen keine ein. Was herauskam, war die schlichte Wahrheit. «Ich … ich vermisse sie.»

Der Rat schwieg. Die Menge wurde still. Sogar die Affen hörten auf zu kreischen.

Mr Darby berührte Noah an der Schulter und sagte: «Danke, Noah.» Dann wandte er sich wieder an die Menge. «Ich glaube, das ist ein guter Zeitpunkt, um abzustimmen. Alle, die dafür sind, das Dunkle Land zu öffnen, machen sich jetzt bemerkbar.»

Die Stadt erbebte von Geräuschen und Bewegungen. Die Schimpansen kreischten und sprangen durch die Bäume. Vögel schrien und flogen in die Luft. Elefanten tröteten und stampften mit den Füßen auf. Alligatoren zischten und schlugen mit den Schwänzen gegen Laternenmasten. In der Nähe der Bühne reckte eine Giraffe ihren langen Hals in die Luft; sie trug drei Präriehunde auf dem Kopf, deren hohes Bellen man deutlich hören konnte. Ella und Richie liefen zu Noah hinüber und umarmten ihn.

Als der Lärm verklungen war, wandte sich Mr Darby an die Leute auf der Bühne und fragte: «Und wer aus dem Geheimen Rat ist dafür, das Dunkle Land zu betreten?»

Alle auf der Bühne hoben die Hand.

«Nun, Action Scouts», sagte Mr Darby, «damit ist es entschieden.»

Die Scouts jubelten und klatschten sich freudig ab.

«Gebt mir eine Stunde, um die Logistik der Operation Mauerfall vorzubereiten», sagte Mr Darby, während er die Bühne verließ.

«Operation Mauerfall?», rief ein Mitglied des Rates. «Das haben wir doch nie besprochen.»

«Das mussten wir auch nicht besprechen», rief Mr Darby zurück. «Manche Entscheidungen müssen einfach getroffen werden.» Er blickte die Scouts eindringlich an und sagte: «Übrigens gibt es da etwas, das ihr wissen solltet – das ihr verstehen solltet.»

«Ja?», fragte Ella.

«Wenn Megan im Dunklen Land ist, gibt es noch lange keine Garantie dafür, dass wir sie auch wieder rausbringen können. Das ist euch doch klar, oder?»

Die Scouts nickten.

«Und ihr solltet außerdem wissen», warnte er, «dass wir es selbst vielleicht nicht mehr hinausschaffen. Das müsst ihr wirklich verstehen. Wenn die Yetis überlebt haben, besteht durchaus die Wahrscheinlichkeit, dass viele von uns nicht mehr wieder rauskommen.»

Die Scouts drängten sich aneinander, und zum ersten Mal sahen sie ängstlich aus. Sie nickten gleichzeitig.

«Gut.» Mr Darby wirbelte herum. «Dann lasst uns keine weitere Zeit verschwenden. Ich trommle meine Abrissmannschaft zusammen.»

«Ihre Mannschaft?», fragten die Scouts.

«Ihr werdet schon sehen», sagte Mr Darby. «Ihr werdet schon sehen.»