3. Kapitel Eine unglaubliche Geschichte

Als die Schulglocke ertönte, rannte Noah sofort zur Klassentür hinaus. Er kümmerte sich nicht darum, dass Mrs Bluss rief: «Kinder, geht langsam!» Noah hatte keine Zeit, langsam zu gehen. In drei Stunden würden seine Eltern zu Hause sein, also musste er sich beeilen.

Seit Megans Verschwinden arbeiteten Noahs Eltern immer lange, da sie eine Suchkampagne aus dem Büro eines Freundes in Clarksville leiteten. Nach allem, was sie wegen Megan durchgemacht hatten, war es ihnen gar nicht lieb gewesen, dass Noah allein von der Schule nach Hause ging und auch dort einige Zeit allein verbrachte. Am Ende hatten sie es erlaubt, solange Noah versprach, immer mit Freunden nach Hause zu gehen. Meistens blieb Noah nach der Schule noch bei Richie, bis seine Eltern ihn am frühen Abend abholten.

Doch heute musste Noah diese Regel brechen. Im Gang warf er seine Bücher in sein Schließfach, blickte prüfend durch die Menge, um dann unbemerkt von Ella und Richie zum Ausgang zu gelangen. Draußen lief er so schnell über den Schulhof, dass der Kies hinter seinen Schuhen hochstob.

Nach dem seltsamen Besuch des Vogels in der letzten Nacht hatte Noah nicht mehr schlafen können. Er verstand immer noch nicht recht, was geschehen war. Hatte es wirklich eine Bedeutung, oder war einfach nur ein Vogel in sein Zimmer geflogen und hatte ein Stück altes Papier verloren? Was auch immer es war, es konnte nicht schaden, Mr Tall Tail einen Besuch abzustatten.

Er ging über den Parkplatz, bog in die Jenkins Street ein und ging an der Mauer des Zoos entlang. Nachdem er um die Ecke in den Walkers Boulevard eingebogen war, erreichte er den Eingang des Zoos, hielt dem überraschten Wärter seine Dauerkarte hin und preschte durch das Drehkreuz.

Heute war es so kalt, dass sich fast niemand im Zoo befand. Noah hastete über die Wege und an den Gehegen entlang. Er war so oft im Zoo gewesen, dass er, ohne nachzudenken, den schnellsten Weg zum Affenhaus fand. Als er das kleine, mit Efeu überwachsene Haus erreichte, eilte er durch den Eingang, um eine Ecke herum und stieß beinahe mit einer kleinen Gruppe von Besuchern zusammen.

Dieses Gehege besaß keines der üblichen Gitter oder Betonwände. Ein riesiges, kuppelförmiges Netz hielt die Affen im Innern, wo sie träge und gelangweilt auf Bäumen faulenzten. Ihre Schwänze waren so lang, dass Noah sich wunderte, wie die Tiere es schafften, sich damit nicht in den Zweigen zu verheddern.

Mr Tall Tail besaß den längsten Schwanz von allen. Er lag auf einem hohen Ast, und sein Schwanz hing wie eine fellbesetzte Schlange herab.

Jetzt, wo er vor dem Gehege stand, fühlte Noah sich ein bisschen dumm. Was hatte er eigentlich erwartet?

Die Besucher gingen nach einiger Zeit, und das Haus wurde still. Die Affen sahen hin und wieder zu Noah herüber, doch sie zeigten wenig Interesse an ihm.

«Pssssttt!», sagte Noah. «Mr Tall Tail!»

Der Affe ignorierte ihn. Er hatte mehr Interesse an einem großen Blatt, das in der Decke des Netzes hing.

«Mr Tall Tail! Kannst du mich hören?»

Der Affe pflückte ein näher liegendes Blatt, stopfte es sich in den Mund und kaute gelangweilt.

«Ähm … okay», murmelte Noah und kratzte sich am Kopf. «Warum rede ich eigentlich mit einem Affen?»

Die Eingangstür schwang auf, und ein Wärter kam herein. Er hatte feuerrote Haare und wulstige Lippen, und sein Gesicht und seine Arme waren mit Sommersprossen übersät.

«Hallo», sagte Noah und fühlte sich dumm dabei. Immerhin hatte der Mann ihn beinahe dabei erwischt, wie er mit einem Affen redete.

Der Wärter antwortete nicht, und eine beklemmende Stille füllte den Raum. Er ging an Noah vorbei und betrachtete ihn dabei misstrauisch. Noah starrte zu den Affen hinüber und tat so, als amüsiere er sich königlich. Die Schritte des Wärters wurden leiser, während er das Gehege umrundete. Schließlich hörte Noah die Ausgangstür zufallen. Er war wieder allein mit den Affen.

«Unheimlich», murmelte Noah.

Wieder sah er zu Mr Tall Tail hinüber. «Du hast wohl nichts, was du mir zeigen willst, oder?»

Mr Tall Tail starrte in die Luft und kaute weiter an seinem Blatt.

Noah fühlte sich wie ein Idiot. Er beschloss, das Gehege zu verlassen, und wandte sich zum Ausgang. In diesem Moment legte sich etwas auf seine Schulter, und mit einer reflexartigen Bewegung wirbelte Noah herum. Ein langes, schwarzes, pelziges Etwas flitzte über seinen Arm und flog durch die Luft. Es war – Mr Tall Tails Schwanz!

Als Noah gehen wollte, war der Langur vorn zum Netz gesprungen, hatte seinen Schwanz hindurchgeschoben und Noahs Schulter damit berührt. Und damit nicht genug: Er hielt ein Stück Papier damit fest. Noah wusste, dass das einfach verrückt war, doch Mr Tall Tail hielt ihm wirklich den Zettel hin. Er wedelte sogar damit herum, als wollte er sagen: Nimmst du das jetzt oder nicht?

Noah machte einen Schritt nach vorn. Er streckte seine zitternde Hand aus und griff nach dem Papier.

«Was ist das?», fragte er.

Doch Mr Tall Tail war schon wieder in seinen Baum gesprungen und hatte sich auf den Ast gelegt. Er pflückte sich ein weiteres Blatt und kaute, während seine dunklen Augen in die Ferne blickten, als sei nichts passiert.

Eine Sekunde lang dachte Noah, er hätte sich alles nur eingebildet – doch der Zettel lag wirklich in seiner Hand. Er war zerknittert, eingerissen und fleckig. Ein paar Affenhaare klebten daran. Noah öffnete ihn vorsichtig. Als er die Nachricht sah, fiel er beinahe hintenüber.

Wieder öffnete sich die Eingangstür. Schnell stopfte Noah sich den Zettel in die Tasche, denn zum zweiten Mal tauchte der rothaarige Wärter auf. Er beäugte Noah und kam mit eiligen Schritten auf ihn zu.

«Alles okay, Junge? Du siehst nicht gut aus», sagte der Wärter.

«Doch … alles okay.» Das war gelogen. Noah bekam kaum Luft. Nachdem er den Zettel gelesen hatte, war ihm ganz schlecht, und er hatte Kopfschmerzen. «Ich muss jetzt los», brachte er mühsam heraus. Damit eilte er zum Ausgang, drängte sich hindurch und hinaus in die frische Luft.

«Schönen Tag noch!», rief ihm der Wärter hinterher.

Die Tür fiel krachend hinter Noah zu. Keuchend lehnte er sich gegen die Wand. Er zog den Zettel heraus und betrachtete ihn noch einmal. Er war rot mit lila Linien und blauen Sternen in den Ecken. Und er kannte ihn.

«Tief Luft holen», sagte er zu sich selbst. «Alles ist okay … alles ist okay … alles ist okay …»

Doch auch wenn er die Worte immer wieder wiederholte, glaubte er selbst nicht eine Sekunde daran.