2. Kapitel Die bruchstückhafte Nachricht

Tick! Tick! Tick!

Noah setzte sich auf. Lauschend blickte er sich in seinem schummerigen Zimmer um. Hatte er sich das Geräusch etwa nur eingebildet? Tick! Tick! Tick!, klang es wieder.

Er sprang aus dem Bett. «Wer ist da?», rief er.

Tick! Tick!, antwortete das Fenster.

Auf Zehenspitzen schlich Noah über den Fußboden. War das ein Zweig, der gegen sein Fenster schlug? Oder der Fensterladen, der sich losgemacht hatte?

Tick! Tick! Tick!

Jetzt stand er am Fenster und guckte hinaus. Er sah nichts als den schwarzen Sternenhimmel. Kein Zweig, kein loser Fensterladen – nichts.

Tick! Tick!

Er strengte seine Augen an, um besser sehen zu können, doch er konnte nur erkennen, dass es draußen stockdunkel war.

Tick! Tick! Tick! Tick!

Noah stieß das Fenster auf. Kühle Luft kam ihm entgegen, und er bekam eine Gänsehaut. Ein Vogel hatte sich auf dem Fensterbrett niedergelassen. Er war winzig klein, noch kleiner als Noahs Daumen, hatte glänzende blaue Federn und einen hellroten Schnabel. Er blickte Noah an und kippte den Kopf fragend zur Seite.

Die Erleichterung durchströmte Noah bis zu den Füßen. «Du hast mich richtig er–»

Der Vogel sprang vom Fensterbrett, flog ins Zimmer und zog unter der Decke Kreise.

«Hey!», rief Noah. «Raus mit dir!»

Doch der Vogel flog noch ein paarmal herum, bis er sich auf der Nachttischlampe neben dem Bett niederließ. Er wackelte mit dem Kopf und starrte Noah an, als erwartete er irgendetwas von ihm.

«Raus!», befahl Noah. «Flieg wieder raus!»

So plötzlich, wie der Vogel hereingeflogen war, erhob er sich von der Lampe, schoss durchs Fenster und flog davon.

«Gut!» Noah rieb sich die Hände. Er war froh, dass er den Vogel wieder los war. Gerade wollte er das Fenster schließen, da schoss der Vogel erneut ins Zimmer.

«Raus mit dir, habe ich gesagt!»

Wieder vollführte der Vogel Kreise unter der Decke. Noah sprang hoch und versuchte ihn zu fangen, sobald der Vogel über seinem Kopf flog. Nach dem fünften oder sechsten Versuch stellte er auf einmal fest, dass der Vogel etwas in seinen winzigen Krallen hielt – ein Stück Papier. Einen Augenblick später ließ der Vogel das Papier auf Noahs Kissen fallen, flog zum Fenster und hockte sich wieder auf das Fensterbrett.

Verwirrt starrte Noah den Vogel an. Dieser schaute erst zu Noah, dann zu dem Zettel auf dem Kissen. Er erinnerte Noah an seine Großmutter, wenn sie ungeduldig darauf wartete, dass jemand ein Geschenk auspackte. Worauf wartest du? Ich habe es dir mit Absicht dahin gelegt!, schien sein Gesicht zu sagen.

Der Zettel auf dem Kissen war zerknittert und eingerissen und sah so aus, als hätte er eine Woche in einer Pfütze gelegen. Noah nahm ihn und glättete die Falten. Das Foto eines lustigen Affen mit buschigen Augenbrauen, einem Haarbüschel auf dem Kinn und einem langen Schwanz blickte ihm entgegen. Die Überschrift lautete: «Besuchen Sie den Städtischen Zoo von Clarksville und erleben Sie unseren neuen Freund, Mr Tall Tail!»

Noah hatte Mr Tall Tail schon viele Male im Zoo bewundert. Das war doch nichts Neues. Es war bloß ein alter Werbezettel.

«Was soll das?», wandte Noah sich an den Vogel. «Was –?»

Doch der Vogel war verschwunden.

Noah sah wieder auf den Zettel. Mr Tall Tail starrte ihn mit besorgter Miene an. «Besuchen Sie den Städtischen Zoo von Clarksville und erleben Sie unseren neuen Freund, Mr Tall Tail!», las Noah noch einmal.

Das ist doch Quatsch. Bloß Müll, den ein Vogel aufgepickt hat, sagte Noah sich.

Doch er hatte schon darüber gelesen, dass Vögel als Boten eingesetzt werden konnten, um Nachrichten zu überbringen.

«Sei nicht albern», murmelte Noah. «Heute gibt es E-Mails. Außerdem steht auf dem Zettel gar keine Nachricht. Da ist –»

Er betrachtete die Überschrift noch einmal genauer. Ein paar der Worte wiesen Löcher auf – winzige Löcher, als hätte jemand sie mit einer Bleistiftspitze hineingedrückt. Oder vielleicht mit der Spitze eines kleinen Schnabels.

«Niemals …»

Er las die Worte mit den Löchern laut vor: «… den Städtischen Zoo von Clarksville und erleben unseren neuen Freund». Das ergab keinen Sinn.

«Moment mal!» Jetzt las er die Wörter ohne Löcher: «Besuchen-Sie-Mr-Tall-Tail.»

War das eine Nachricht?

«Nein», murmelte er. «Das kann einfach nicht sein.» Noch einmal las er den neuen Satz, diesmal ohne Pause zwischen den Wörtern: «Besuchen Sie Mr Tall Tail.»

Der Satz war grammatikalisch korrekt – und klang beinahe wie ein Befehl.

Noah blickte zum Fenster. Das Fensterbrett war leer. Der Wind blies sanfte Böen in seine Vorhänge rechts und links vom Fenster. Er schauderte. Die Vorhänge sahen aus wie Gespenster.