9. Kapitel Die Kammer des Lichts
Da kommt jemand!»
Noah hatte einen der Sicherheitsleute gesehen, der durch den Gang kam. Es war derselbe, den er im Affengehege getroffen hatte – der mit den roten Haaren und den wulstigen Lippen. Er trug ein Schlüsselbund an einer langen Schnur und schwang sie beim Gehen im Kreis herum.
«Das ist der Typ, der mit mir geredet hat, als ich Mr Tall Tail getroffen habe. Er ist irgendwie komisch.»
«Behalt ihn im Auge», sagte Ella.
Die Scouts saßen in einer Art Kino nur wenige Meter von der Kammer des Lichts entfernt. Das Kino war ein kleiner Raum mit etwa fünfzehn Sitzen, die dicht aneinandergereiht worden waren. Der Eingang zum Kino ging von dem Gang ab, der zur Kammer des Lichts führte. Die Wand, die der Raum mit dem Gang teilte, war kaum eine Wand zu nennen. Sie war lediglich einen Meter hoch und teilte einfach nur den Raum ab. Vorn im Kino befand sich ein großer Fernseher, der immer wieder dasselbe zehnminütige Video abspielte. Auf dem Bildschirm erklärten ein paar Comicfrösche, dass «… manche Baumfrösche … quaaak … giftig sind und seeeeeehhhrrrr … quuaaaak! … tödlich». Die Action Scouts interessierten sich nicht besonders für giftige Baumfrösche. Sie saßen hier, weil man sie hier nicht sehen konnte, während sie gleichzeitig einen guten Blick auf die Kammer des Lichts hatten.
«Was glaubst du, hat er vor?», fragte Richie.
«Ich weiß es nicht», sagte Ella. «Guck einfach hin.»
Der Wärter ging den gesamten Gang hinunter und drehte dann um, ohne einen Blick auf die Kammer des Lichts zu werfen. Er marschierte am Kino vorbei und verschwand.
«Also», flüsterte Richie, «er hat ja noch nicht mal in die Kammer reingesehen.»
«Wart es ab», sagte Ella und warf einen Blick auf ihre Uhr. «Der Zoo schließt erst in einer Stunde, und wir wissen doch, dass die seltsamen Dinge immer erst dann passieren.»
Die Scouts warteten. Hinter der kleinen Mauer konnten sie die Leute beobachten, die den Gang auf und ab gingen. Sie warteten. Sie beobachteten. Sie lauschten den albernen Zeichentrickfröschen, die immer und immer wieder von den «unterschiedlichen … quuuaaaak! … Froscharten» sprachen. Einmal kam ein Kind herein, setzte sich auf einen Sessel, verschwand dann aber schnell wieder, als ihm der Film langweilig wurde. Ein bisschen später gab eine weibliche Stimme durch die Lautsprecher bekannt, dass der Zoo in zehn Minuten schließen würde, «… darum möchten wir Sie bitten, sich nun zu den Ausgängen zu begeben, vielen Dank. Wir wünschen Ihnen einen schönen Tag, kommen Sie gut nach Hause.» Das Haus der Kriechtiere leerte sich umgehend. Das Gebäude wurde still, abgesehen vom leisen Gurgeln der Wasserpumpen und einem gelegentlichen Quaken oder Zischen oder Rasseln.
«Wir gehen jetzt lieber», sagte Richie, «bevor wir eingeschlossen werden.»
«Nein!», widersprach Ella. «Wir bleiben.»
«Wir tun was?»
«Ich habe das Gefühl, dass wir hierbleiben müssen, wenn der Zoo schließt und die Wärter glauben, dass alle gegangen sind.»
«Das ist doch verrückt!», sagte Richie. «Wir sollen noch bleiben? Wir kriegen richtige Schwierigkeiten, wenn wir hierbleiben, und ich will nicht –»
«Sie hat recht», sagte Noah. «Wir bleiben noch eine Stunde hier. Wenn nichts passiert, schleichen wir uns raus. Es wird schon nicht so schwer sein, aus dem Zoo rauszukommen, oder?»
«Seid ihr beide verrückt? Dann sind unsere Eltern doch schon längst zu Hause! Habt ihr den Ver–»
«Richie», sagte Noah, «vielleicht können wir so meine Schwester wiederfinden.»
Richie schwieg einen Moment und dachte nach. «Okay», sagte er schließlich. «Dann bleiben wir.»
Schweigend saßen die drei Kinder da. Eine halbe Stunde verstrich. Nichts passierte. Richie wollte gerade etwas sagen, als Ella ihre Hand ausstreckte und ihm den Mund zuhielt.
«Psssst! Leise!» Sie lehnte sich in Richtung Gang vor. «Da kommt jemand!»
Die Scouts hörten seltsame Schlurfgeräusche den Gang hinunterkommen und lugten über die kleine Kinowand, doch sie konnten nicht erkennen, wer – oder was – da kam. Es machte wischende Geräusche auf dem Boden. Schhhhhliiitsch! Schhhhhliiitsch! Schhhhhliiitsch! Die Kinder glitten von der Bank und hockten sich auf den Teppich.
«Verstecken wir uns aus Angst oder weil wir nicht erwischt werden wollen?», flüsterte Noah.
«Ich weiß nicht», antwortete Ella. «Beides, schätze ich.»
Schhhhhliitsch! Schhhhhliitsch!
Sie duckten sich und spähten über die Wand. Einen Augenblick später wussten sie, woher das Geräusch kam. Es war ein Zoowärter, der mehr Haare im Gesicht als auf dem Kopf hatte. Er schlenderte den Gang entlang und hielt hier und da an, um freundlich gegen die Aquarien zu klopfen.
«Hallo, Justice», begrüßte er eines der Tiere. «Guten Abend, Starlight», sagte er zu einem anderen. «Schön, dass ihr heute wieder da seid.»
«Wieder da?», flüsterte Noah. «Wo waren sie denn?»
Der Wärter warf einen flüchtigen Blick ins Kino, und die Scouts duckten sich wie Schildkröten in ihren Panzern.
Sie warteten. Als das Geräusch seiner Schritte leiser wurde, reckten sie die Köpfe und starrten den Gang entlang.
«Was tut er jetzt?», wollte Richie wissen.
«Ich weiß es nicht», sagte Noah. «Er steht bloß neben der Kammer des Lichts.»
«Er bereitet sich vor», sagte Ella.
«Auf was bereitet er sich vor?», fragte Richie.
Der Mann sah sich um und glitt dann in die Kammer des Lichts. Er schob sich eine Sonnenbrille auf die Nase und zog den Vorhang hinter sich zu.
«Eine Sonnenbrille?», fragte Noah. «Wofür das denn?»
«Ich habe das Gefühl, wir sollten uns klein machen», sagte Ella.
Noah wollte gerade fragen, warum, als ein stummer Lichtblitz – so plötzlich wie ein Kamerablitz und hundertmal stärker – aus den Vorhanglücken der Kammer des Lichts hervorschoss. Die Scouts fielen zurück und bedeckten ihre Augen. Nach ein paar Sekunden setzten sie sich wieder hin.
Noah rieb sich die Augen. «Was war das denn?»
Aber Ella trat aus dem Kino und ging auf die Kammer zu.
«Ella!», rief Richie leise. «Sei doch nicht dumm!»
Richie und Noah liefen ihr nach.
«Ella – tu es nicht!», warnte Richie noch einmal.
Doch Ella hörte nicht. Sie marschierte auf die Kammer des Lichts zu, zog den Vorhang zur Seite und ging hinein. Entsetzt blieben Richie und Noah stehen und hielten den Atem an. Noah warf Richie einen Blick zu – sein Freund war so stocksteif vor Schreck, dass er aussah wie eine seltsame Statue, die jemand hier vergessen hatte. Einen Augenblick später trat Ella wieder hervor, und die Jungs seufzten vor Erleichterung.
«Er ist weg», stellte sie fest.
«Aber wie?», fragte Noah.
«Als wäre er durch das Licht verdampft», flüsterte Richie. «Oder es hätte ihn abgeholt.»
«Wohin abgeholt?»
«Ich weiß nicht. Irgendwo anders hin.»
Hinter ihnen durchschnitt eine wütende Stimme die Luft. «Was zum Teufel macht ihr hier?!»
Sie wirbelten herum. Der Zoowärter mit den roten Haaren und den wulstigen Lippen kam den Gang herunter auf sie zu.
«Ihr verschwindet jetzt», brüllte der Wärter, während er auf sie zustampfte. «Und zwar SOFORT!»
Nun war er so dicht an sie herangekommen, dass Noah riechen konnte, was er zu Mittag gegessen hatte – etwas, das genug Knoblauch enthielt, um einen Dinosaurier umzuwerfen. Die Scouts waren zu erschrocken, um etwas zu sagen. Wer auch immer dieser Mann war, er hatte ebenfalls die Ereignisse verfolgt, und das machte ihn zu einem Teil dessen, was immer hier auch geschah.
«Ähm … ist gut, Mister», stotterte Noah.
«Los!», bellte der Wärter. Die Scouts konnten sich nicht rühren. Der Wärter beugte sich vor und brüllte: «Los jetzt, habe ich gesagt!»
Die Scouts hasteten den Gang entlang. Der Wärter folgte ihnen direkt auf den Fersen und schwang seine Schlüssel im Kreis herum. Jetzt hörte sich das Geräusch bedrohlich an.
«Eins solltet ihr wissen», sagte er ruhig. «Es ist besser, ihr vergesst, was ihr eben gesehen habt. Sonst werden eine Menge Leute eine Menge Probleme kriegen – und das wollt ihr doch nicht, oder?»
Noah bemerkte, dass die Tiere in ihren Aquarien und Terrarien sie beobachteten. Fische schwammen eilig an den Scheiben hin und her, Schlangen glitten unruhig herum, und Frösche sprangen in alle Richtungen. Dann begannen sie zu quaken, zu zischeln und zu schnauben. Die Geräusche verstärkten sich, bis das Gebäude wie ein übervölkertes Sumpfgebiet klang.
«Macht euch keine Gedanken um die Tiere», sagte der Rothaarige und hob die Stimme, um über die Tiergeräusche hinweg gehört zu werden.
«Mister?», sagte Noah.
«Sei still!»
«Woher wissen die Tiere, wer wir sind?»
«Sei still, habe ich gesagt – und das meine ich auch!» Die feuchte Aussprache des Mannes traf Noah im Nacken. «Ihr habt keine Ahnung, in was ihr euch da reinreitet. Das geht euch überhaupt nichts an!»
Noah war auf einmal ganz sicher, dass der Mann hinter ihm etwas über Megan und ihr Verschwinden wusste. Wenn er an den seltsamen Wärter beim Eisbärenpool dachte, an Megans Misstrauen gegenüber den Zooangestellten, an das Verhalten der Tiere und dann an den Wärter, der gerade in der Kammer des Lichts verschwunden war, dann schien es doch überdeutlich, dass der Zoo und seine Angestellten etwas mit dem Verschwinden seiner Schwester zu tun hatten.
In Noah kochte die Wut hoch. Er wirbelte herum und schrie: «Wo ist Megan?!»
«Wo ist wer?»
«Meine Schwester! Sie wissen doch genau, wo sie ist, und Sie wissen auch genau, wie ich sie finden kann!» Mit jedem Wort wurde Noah wütender. «Bringen Sie mich zu ihr! Bringen Sie mich SOFORT zu ihr!»
Das Gesicht des Wärters wurde bleich, vielleicht vor Schreck. Er packte Noah am T-Shirt und zischte: «Hör mal zu, Bengel! Jetzt werdet ihr alle drei –»
«Lassen Sie mich los!» Noah wand sich, aber dadurch verwickelte er sich nur noch fester. «Lassen Sie mich los, habe ich gesagt!»
«Lassen Sie ihn los, Sie Riesenhornochse!», rief Ella und trat den Wärter gegen das Schienbein.
«Aaauuuu! Ihr dämlichen Kinder!» Mit der freien Hand zog der Wärter ein Walkie-Talkie aus seiner Tasche. «Tank! Bitte sofort kommen! Tank! Ich habe beim Megan-Problem hier im Haus der Kriechtiere einen Notfall! Fordere Unterstützung an!»
«Das Megan-Problem?», fragte Noah. «So nennen Sie das also?»
«Halt den Mund, Junge!»
«Lassen Sie mich … LOS!», schrie Noah.
Ella trat dem Mann gegen den Knöchel, und Richie packte ihn am Hemd.
«Aaaaaauuuu! Ihr ekelhaften Bälger!»
Die Doppeltüren wurden aufgestoßen. Draußen stand ein großer, muskulöser Mann. Als er durch den Türrahmen trat, füllte er ihn vollkommen aus. Seine Hände waren so groß wie Topflappen, und sein kahler Kopf glänzte wie poliert. Seine Haut war tiefbraun und auf seltsame Art perfekt – ohne einen einzigen Makel.
«Tank!», rief der rothaarige Wärter. «Hilf mir, mit diesen Bälgern fertigzuwerden!»
Tank trottete den Gang entlang und blieb vor Noah stehen. Er verschränkte seine massigen Arme vor dem massigen Körper, sodass die Ärmel seines Hemdes beinahe rissen. Er war riesig – der größte Mann, den Noah je gesehen hatte.
«Komisch», keuchte Noah, während er sich immer noch zu befreien versuchte, «Sie sehen aber nicht aus, wie – lassen Sie los! – wie ein Wärter. Ich habe Sie hier noch nie gesehen!»
«Hör auf zu zappeln, Junge!», bellte der rothaarige Wärter.
«Zeit zu gehen, kleiner Mann», sagte Tank mit tiefer, kehliger Stimme.
«Wo ist meine Schwester?»
«Sie ist weg, Junge», sagte der Rothaarige. Er ließ Noah los und fügte hinzu: «Das musst du einfach akzeptieren. Tank, schaff mir diese lästigen Action Scouts aus meinen Augen.»
«Hey», rief Ella. «Woher wissen Sie, wer wir sind?»
«Mädel», antwortete der Wärter, «alle wissen, wer ihr seid.»
«Was? Warten Sie! Was meinen Sie damit?»
«Und wo ist meine Schwester?», rief Noah. «Ich will –»
Doch bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, packte Tank ihn, hob ihn hoch und warf sich Noah über die Schulter, als wäre er ein Badehandtuch.
«Lassen Sie ihn runter!», verlangte Ella.
Sie versuchte dem Mann einen Fausthieb zu versetzen, doch Tank streckte seinen riesigen Arm aus, packte sie am Handgelenk und zerrte sie hinter sich her. So beförderte er seine beiden Gefangenen aus dem Gebäude und einen Weg hinunter, der zu einem Privatausgang hinter dem Ottergehege führte. Richie lief hinter ihnen her. Als Tank das Tor erreicht hatte, trat er es mit dem Fuß auf und ließ Noah wie einen Wäschesack auf die Erde fallen. Mit dem zweiten Schwung beförderte er Ella auf Noah drauf.
Richie stellte sich neben seine Freunde und schrie: «Hey, das können Sie doch nicht machen!»
«Ruhe!», brüllte Tank.
«Das werde ich der Zeit–»
«RUHE!» Beim Donnern von Tanks Stimme wichen die Scouts zurück, als wollten sie einem Schlag ausweichen.
Tank senkte die Stimme zu einem Flüstern. «Ist Charlie Red immer noch hinter mir?»
«Wer?», fragte Ella.
«Charlie Red. Der andere Wärter.»
«N-n-nein», stotterte Ella verwirrt.
«Gut. Also, hört zu. Ich muss mich beeilen.» Er sah über seine Schulter und fügte hinzu: «Sieht so aus, als wärt ihr schon mitten reingeraten. Wenn die Gerüchte stimmen, dann haben wir das Marlo und Blizzard und Mr Tall Tail zu verdanken.»
«Wovon reden Sie?», wollte Ella wissen.
«Sei ruhig und hör zu. Megan ist im Inneren. Sie steckt in Schwierigkeiten. Ein paar von uns im Inneren wollen ihr helfen. Manche haben zu viel Angst vor –» Tank blickte sich nervös um. «Ich darf euch das gar nicht sagen. Er kann überall sein. Er wohnt in den Schatten. Ach was, er ist Schatten.»
«Wer?», fragte Noah. «Von wem reden Sie?»
«Keine Zeit, Fragen zu beantworten. Das alles muss euch verrückt erscheinen, aber es gibt einfach zu viel zu erklären. Ich sage nur noch das: Zieht nicht noch einmal die Aufmerksamkeit auf euch, wie ihr es heute getan habt! Das war ein großer Fehler. Je mehr Leute davon wissen, desto gefährlicher wird es.»
«Wovon wissen?», fragte Richie. «Und wer ist in Gefahr?»
«Alle», sagte Tank. «Die ganze Welt.»
«Was? Das ergibt gar keinen Sinn!», sagte Ella.
«Mehr kann ich euch nicht sagen. Charlie beobachtet mich, und er … na ja, er ist nicht gerade auf eurer Seite, wenn ihr wisst, was ich meine.» Er trat zurück. «Erzählt niemandem etwas davon. Und damit meine ich niemandem! Wir werden das schon hinkriegen, das verspreche ich euch. Ich kümmere mich drum, dass ihr drei ins Innere kommt.»
«Wo rein?», fragte Noah.
«Ins Innere.» Tank schwieg, als überlegte er. Dann drehte er sich um und ging davon, schwang aber plötzlich wieder herum. «Hört mal, sie werden euch mit Sicherheit aufzuhalten versuchen, also müssen wir uns beeilen. Noah, du musst etwas für mich tun.»
«Was? Woher kennen Sie meinen Namen? Wie –»
«Guck in deinen Briefkasten.»
«Meinen Briefkasten? Morgen?»
«Nein. Heute. Um Mitternacht. Genau um Mitternacht. Keine Sekunde später.»
«War–?»
«Keine Fragen mehr», sagte Tank. «Sagen wir einfach, ich hatte gerade eine Idee.»
«Warten Sie!», rief Noah.
«Ich muss jetzt gehen. Denk dran, achtet auf die Schatten. Sie sehen und hören alles. Und erzählt nichts darüber. Ich verspreche euch, dass ihr bald alles versteht. Kommt wieder, wenn … na ja …» Tank lächelte und blinzelte ihnen zu. «Kommt wieder, wenn ihr etwas länger bleiben könnt.»
«Tank! Warten Sie!», rief Noah. «Ich verstehe das nicht!»
Doch Tank schlug das Tor zu und verriegelte es. Die Scouts sahen ihm schweigend hinterher, als er wieder in den Zoo hineinlief. Nach ein paar Sekunden war er verschwunden.