5. Kapitel Erkundungen im Flugwald-Gehege

Das Flugwald-Gehege befand sich in einem über zehn Meter hohen Gebäude. Wegen seines riesigen, kuppelförmigen Daches erinnerte es Noah jedes Mal an ein großes Iglu. Die Wände und das Dach waren aus getöntem Glas, wie man es auch von teuren Autos kannte. Das Gehege war offen, die Besucher konnten also direkt zwischen den freifliegenden Vögeln herumlaufen.

Als Noah den Eingang zum Gehege betrat, wurde er von dem Geruch von Erde und Baumrinde überwältigt. Bäume und blühende Pflanzen füllten die Kuppel mit ihrem Duft und reichhaltiger Luft. Kleine Wasserfälle strömten über Felsen und gaben sprühenden Wassernebel ab. Das Flugwald-Gehege vermittelte den Eindruck eines kleinen Dschungels. Vögel segelten durch die Luft, und viele Geräusche hallten von den Wänden wider: platschendes Wasser, lachende Kinder und tschirpende oder schreiende Vögel.

Ein Schild war an der Wand neben dem Eingang angebracht, auf dem Abbildungen von fünfzig verschiedenen Vogelarten zu sehen waren, genau wie Megan es beschrieben hatte. Noah betrachtete die Bilder eine Weile. Ein besonderer Vogel fiel ihm auf, und er keuchte erschrocken. Er hatte einen blauen Körper, einen hellroten Schnabel und einen orangefarbenen Bauch. Ganz bestimmt, das war der winzige Vogel, der in sein Zimmer geflogen war! Auf dem Schild stand, es sei ein Malachit-Eisvogel namens Marlo.

«Marlo», sagte Noah laut. Er sah in die Bäume hinauf. «Marlo, bist du da?»

Er folgte einem nebligen Pfad, über dem riesige Schirmblätter wie eine lebende grüne Decke wuchsen. Wassertropfen fielen ihm auf die Schultern und auf den Kopf. Um ihn herum hockten verschiedene Vögel auf Zweigen und Balken, während ein paar wiederum auf den kleinen Bächen oder Seen schwammen und wieder andere eher gelangweilt als hungrig nach Körnern auf dem Boden pickten.

Noah hielt Ausschau nach Marlo, doch er konnte ihn nicht finden. Seine Suche führte ihn zu einer Betonwand – die Wand mit den Löchern darin, derentwegen er gekommen war. Die Löcher befanden sich in etwa drei Metern Höhe und hatten jeweils einen Durchmesser von etwa zwanzig Zentimetern. Hinter ihnen war es dunkel – es war die Art von Dunkelheit, in der man Geheimnisse aufbewahren konnte.

Noah nahm auf der Bank Platz, von der Megan geschrieben hatte. Er faltete die Hände in seinem Schoß und murmelte vor sich hin: «Hier hat Megan vor kurzem noch gesessen.» Der Gedanke, dass seine Schwester hier ganz allein gesessen hatte, machte ihn traurig.

Er schaute auf die Mauer und wartete … und wartete … und wartete. Vögel flogen in die Löcher hinein und wieder heraus. Einer hatte Stroh im Schnabel, und Noah vermutete, dass er ein Nest baute. Er blieb weiter auf der Bank sitzen und beobachtete. Eine Stunde später gab eine Stimme durch den Lautsprecher bekannt, dass der Zoo bald schließen würde. Innerhalb weniger Minuten hatten die Besucher das Gehege verlassen. Noah war allein. Wenn irgendetwas Wichtiges passieren sollte, dann war dies vermutlich der richtige Augenblick.

Noch mehr Zeit verstrich. Mit Ausnahme des Tschirpens und Flatterns der Vögel war es still im Gehege. Jetzt, wo er allein war, wirkte das Gebäude noch größer auf Noah. Durch die Glaswände sah er die Herbstsonne langsam untergehen. Er machte sich auf einmal Sorgen, dass er über Nacht im Zoo eingesperrt werden könnte.

Plötzlich flatterte ein winziger Vogel herab und landete auf einem Zweig direkt vor ihm. Es hatte einen blauen Körper, einen hellroten Schnabel und einen orangefarbenen Bauch.

«Marlo?»

Der Vogel neigte den Kopf erst zur einen Seite, dann zur anderen. Er schüttelte seine Federn und blinzelte so oft in einer Sekunde, dass Noah es nicht zählen konnte.

Der Junge stand auf. «Marlo, kannst du … kannst du mich verstehen?»

Marlo bewegte seinen Kopf vor und zurück und sprang in die Luft. Er umkreiste ein paar Bäume und landete wieder auf dem Zweig vor Noah.

Noah blieb der Mund offen stehen. Er blickte über die Schulter, doch so weit er sehen konnte, war er allein – allein mit Marlo.

«Das passiert also wirklich», sagte er.

Marlo sprang vom Zweig ab, der in der Luft zitterte. Er schoss durch die Gegend und verschwand in einem der Löcher.

«Wie tief geht es da wohl hinein?», fragte sich Noah. Er machte einen Schritt, hielt sich an einem Geländer fest und wartete, den Blick auf das Loch geheftet.

«Komm schon, Marlo», murmelte er. «Der Zoo schließt gleich, und ich –»

Marlo schoss wieder aus dem Loch heraus, vollführte einen weiteren Kreis in der Luft und landete auf einem Ast. Noah blickte vom Vogel zum Loch und wieder zurück. Eine Minute später schoss ein weiterer Vogel hervor. Dieser war grün mit einem gelben Schnabel.

Noah kam der Gedanke, dass er sich vielleicht ebenfalls Notizen machen sollte, genau wie Megan es getan hatte. Er zog einen Stift aus seiner Jacke und schrieb «Marlo» und «grüner Vogel» auf den Rand von Megans Zettel.

Ein paar Minuten später tauchte ein Vogel mit langen Flügeln aus dem Loch auf. Unter «grüner Vogel» schrieb Noah «Vogel mit langen Flügeln». Noch ein vierter und fünfter Vogel kamen aus dem Loch. Noah schrieb einfach nur noch Zahlen hin.

Dann wartete er mit gezücktem Stift, doch nichts geschah. Er begann sich zu fragen, ob überhaupt noch etwas passieren würde. Fünf Vögel waren aufgetaucht, aber das schien keine weitere Bedeutung zu haben.

Plötzlich aber schossen mehrere Vögel aus dem Loch, und zwar direkt hintereinander. Sie flogen so dicht aufeinander, dass sie wie ein Strom aus farbenfrohen Federn wirkten. In nur wenigen Sekunden füllten Hunderte von Vögeln das Gehege. Sie tauchten zwischen den Bäumen hindurch, hockten sich auf die Zweige und flatterten an den Glaswänden hinauf. Ihre Flügel machten ein so lautes Geräusch, dass Noah Megans Zettel fallen ließ und sich die Ohren zuhielt. Er hatte das Gefühl zu träumen – einen seltsamen, wunderbaren, erschreckenden Traum.

«Was ist hier loooooooooooossssss?!», schrie er.

Er kniff die Augen zusammen und bereitete sich darauf vor, was wohl als Nächstes geschehen würde. Die Vögel umflogen ihn, fächerten seine Haut mit ihren Flügeln, bis er das Gefühl hatte, in einem Tornado zu stehen. Es war aufregend, aber auch beängstigend. Er wusste nicht, ob er vor Angst oder vor Begeisterung schreien sollte, also schrie er einfach: «Aaaaaahhhh!»

Tschirpend, pfeifend, kreischend und krächzend umkreisten die Vögel ihn und füllten das Flugwald-Gehege mit ihrer fremdartigen Musik. Ihre Federn strichen über seine Wangen. Noah hatte kein Gefühl mehr, wie viel Zeit vergangen war. Sekunden? Oder Minuten? Er rechnete damit, dass er gleich davongetragen werden würde. Vielleicht würden die Vögel versuchen, ihn in das Loch in der Mauer zu ziehen und ihn an einen unbekannten Ort zu entführen. Doch einen Augenblick später brach der Lärm ab, und es wurde ganz still. Nur noch die gurgelnden Bäche und platschenden Wasserfälle waren zu hören.

Noah öffnete die Augen. Blätter und Federn senkten sich über ihn herab wie die Funken eines Lagerfeuers. Er blickte gerade noch rechtzeitig hinauf zu dem Loch in der Mauer, um die letzten Vögel hineinschießen zu sehen. So schnell, wie sie das Gehege gefüllt hatten, hatten sie es auch wieder verlassen. Die Vögel, die auch vorher schon da gewesen waren, gingen ihren normalen Beschäftigungen nach, flatterten um die Bäume und pickten nach Körnern. Das Loch in der Mauer sah wieder ganz normal aus. Ein Vogel flog heraus, holte sich ein paar Zweige und flog wieder hinein.

«Wartet! Marlo?» Noah blickte suchend in die Bäume. Von dem Vogel war nichts zu sehen. «Marlo! Was ist passiert? Ich –»

In der Ferne näherten sich Schritte. Ein Mann mit einem kugelrunden Bauch watschelte zu Noah herüber, drohte ihm mit dem Finger und sagte: «Junger Mann! Was hast du hier noch zu suchen? Der Zoo schließt jetzt!»

«Entschuldigung!», sagte Noah. Schnell hob er Megans Zettel wieder auf und stopfte ihn sich in die Hosentasche.

«Willst du hier eingeschlossen werden? Komm mit!»

Der Mann warf einen Blick in das Gehege. Noah sah, wie seine Augen für einen Augenblick auf dem Loch in der Mauer ruhten. Dann legte er dem Jungen die Hand auf den Rücken und schob ihn zur Tür.

Draußen eilte Noah zum Ausgang des Zoos. Er war so verwirrt, dass ihm übel war. So viel war in so wenigen Stunden passiert. Er schob sich durch das Drehkreuz, lief über den Parkplatz und den Fußweg am Walkers Boulevard entlang.

Zu Hause ließ er sich auf das Sofa fallen und saß dort bewegungslos, bis seine Eltern nach Hause kamen. Den Abend verbrachte er wie im Nebel und ging schon bevor es dunkel wurde ins Bett. Die Nacht kam, doch er konnte nicht einschlafen. Er lag unter seiner Decke, starrte auf die Schatten, die der Halbmond durch sein Fenster warf, und dachte an die Ereignisse im Zoo. Sein Blick blieb zufällig an seiner Jacke hängen, die er über den Stuhl geworfen hatte. Etwas hing aus seiner Tasche – etwas, das er nicht dorthin gesteckt hatte. Er kletterte aus dem Bett, ging zum Stuhl, schob die Hand in die Tasche und zog ein Stück zerknittertes Papier hervor. Diesmal war es genau das, was er erwartet hatte: eine weitere Notiz von seiner Schwester. Während des ganzen Durcheinanders im Vogelgehege musste ihm einer der Vögel den Zettel in die Tasche gesteckt haben.

Er glättete das Papier und setzte sich auf das Bett, um zu lesen.

Als er fertig war, drückte er den Zettel fest an seine Brust. Dann stellte er fest: «Ich kann das nicht allein tun.»

Er wusste, dass er Hilfe brauchte. Und das bedeutete, dass er die tapfersten Kinder, die er kannte, zusammentrommeln musste. Es war Zeit für die Action Scouts.