16. Kapitel Ella und Richie fallen von der Mauer

Nur um das noch mal klarzustellen», sagte Richie. Er und Ella standen in einem der Gärten neben einer Eiche an der Zoomauer und blickten hinauf zu einem Ast, der über die Mauer ragte. «Dieser Ast ist mindestens sechs Meter hoch. Du willst also da raufklettern, auf die Mauer steigen und dann runter in den Zoo springen?»

«Ein guter Plan, findest du nicht?»

«Ich schätze, das hängt davon ab, was für Tiere dahinter sind.»

«Vermutlich ein paar Pfauen», beruhigte ihn Ella.

Plötzlich fiel ihr etwas an Richie auf. Er trug Lederschuhe anstelle seiner normalen Turnschuhe. «Wo sind denn deine Schuhe?»

«Hier drin», sagte Richie und zog sich seinen Rucksack zurecht. «Zusammen mit ein paar anderen Sachen. Was wir so brauchen, weißt du.»

«Warum hast du sie denn nicht an?»

«Sie sind ein bisschen auffällig.»

«Du hast recht», sagte Ella mit verständnisvollem Nicken. «Es ist vermutlich keine gute Idee, Schuhe zu tragen, die praktisch im Dunkeln leuchten, wenn man gerade in den Zoo einbricht.»

Richie deutete auf den Baum. «Glaubst du, der Ast wird uns halten?»

Ella neigte den Kopf und überlegte eine Weile. Ihre Antwort klang wie eine Frage: «Ja?»

«Sehr überzeugend.»

«Ach komm, Richie! Kneif jetzt bloß nicht.»

«Wir sollten nicht mal in diesem Garten hier sein. Das ist Hausfriedensbruch», sagte Richie.

«Ja», antwortete Ella. «Aber im Vergleich dazu, dass wir mitten in der Nacht in den Zoo einbrechen wollen, ist es vielleicht nicht ganz so dramatisch.»

Darauf fiel Richie keine Antwort ein.

«Hör mal, Richie. Wir haben einfach keine andere Wahl. Ich meine, wir haben schon Megan an irgendetwas in diesem verrückten Zoo verloren. Sollen wir Noah vielleicht auch noch verlieren?»

«Okay», sagte Richie. «Du hast recht.»

Ella nickte und schob sich die Ärmel hoch. Mit der Anmut einer Turnerin sprang sie in die Höhe, klammerte sich fest, zog und trat und schaffte es so den Baum hinauf. Innerhalb von Sekunden hatte sie den Ast erreicht.

Mit einiger Anstrengung und einer Menge Gegrunze und Gestöhne gelang auch Richie der Aufstieg. Ella nickte ihm zu und balancierte über den Ast, der parallel zum Boden wuchs. Sie nutzte kleinere Zweige für ihren Halt und bewegte sich leicht von einem Punkt zum nächsten. Schon bald schwang sie sich auf die Betonmauer, die von einer breiten, flachen Haube bedeckt wurde und die beide Seiten ein Stück überragte.

«Siehst du irgendwelche Tiere?», rief Richie.

Ella spähte über die Mauer. «Nein. Es ist zu dunkel. Du hast doch deine Stablampe, oder?»

Richie klopfte sich auf seine Brusttasche. «Wie ein guter Pfadfinder.»

«Okay. Dann komm.»

Richie betrachtete die Entfernung zwischen ihm und der Mauer. «Okay, ich komme … schätze ich», sagte er.

Er machte seinen ersten Schritt, rutschte ab und ruderte wild mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Er schwankte von einer Seite zur anderen und wackelte beängstigend hin und her.

«Richie, pass auf!»

Es gelang ihm, einen Zweig zu fassen zu kriegen und sich wieder zu stabilisieren. Nach ein paar Sekunden wischte er sich den Schweiß von der Stirn und ging weiter. Schließlich hatte auch er den Ast überquert und sprang auf die Mauer. Er zog die Stablampe heraus.

«Lass mal sehen, was da unten ist», sagte Ella.

Doch gerade als Richie die Lampe anschalten wollte, rutschte sie ihm aus der Hand! Sie schlug gegen die Mauer und verschwand in der Dunkelheit des Geheges. Die Kinder starrten ihr ungläubig nach.

«Uuuups», sagte Richie.

«Vergiss es», sagte Ella. «Wir müssen es eben so riskieren.»

«Bist du sicher? Vielleicht ist da unten was anderes als ein Pfau.»

«Ich hoffe nicht.»

Sie setzten sich auf die Mauer und bereiteten sich auf den Sprung vor.

«Bist du so weit?», fragte Ella.

«Ich bin so weit.»

«Auf drei?»

«Auf drei.»

«Okay, dann geht’s jetzt los.» Ella befeuchtete sich die Lippen und begann zu zählen. «Eins … zwei … DREI

Sie stießen sich von der Mauer ab und tauchten in die Schatten ein. Ihr Fall dauerte eine ganze Weile, wie Ella fand, doch vermutlich waren es nur ein oder zwei Sekunden. Als Ella auf dem Boden aufschlug, schoss der Schmerz durch ihre Knie. Die Scouts waren oben auf einem Hügel gelandet und fingen sofort an, sich zu überschlagen. Zehn Purzelbäume später kamen sie endlich zum Halten. Blöderweise war dies in einer großen Schlammpfütze. Und noch blöder war, dass Ella den Atem eines Tieres im Gesicht spürte und ein wütendes Grunzen hörte.

Und es stammte nicht von einem Pfau.