29. Kapitel In der Polarstadt

Das Wasser presste gegen Noahs Gesicht und zog an seinen Haaren. Immer wieder stieß er mit den Füßen gegen die Wände und die Decke des Tunnels. Jedes Mal, wenn Podgy um eine Kurve schoss, fürchtete Noah, dass er vom Pinguin abrutschen und ertrinken würde. Waren sie innerhalb des Eisblocks? In der Erde? Wer hatte diesen geheimen Tunnel angelegt und warum?

Etwas strich über sein Gesicht. Es war weich und glatt wie Samt. Gerade als Noah dachte, er könne die Luft nicht länger anhalten, tauchte ein Licht in der Ferne auf. Podgy schlug noch wilder mit den Flossen, um an Geschwindigkeit zuzulegen. Das Licht wurde größer, bis Noah erkannte, dass es sich um eine Öffnung in der Tunneldecke handelte. Ein Lichtstrahl strömte durch das Loch.

Podgy schoss in einem glitzernden Regenbogen durch die Öffnung hinaus – denn die Sonne ließ das Wasser um ihn herum aufleuchten. Er landete mit dem Bauch auf einer Eisscholle und schoss mit hoher Geschwindigkeit voran. Noah saß schreiend auf seinem Rücken wie auf einem Schlitten, der außer Kontrolle geraten war. Nach zwanzig Metern kamen sie endlich zum Halten.

Noah blieb ein paar Sekunden regungslos liegen, so erschrocken war er. Er wischte sich das eisige Wasser aus dem Gesicht und sah sich um. Wo immer er auch war, hier sah es aus wie am Südpol. Sie befanden sich in der Mitte eines zugefrorenen Sees, der von schneebedeckten Bergen umgeben war. Überall waren Pinguine. Selbst in der Ferne konnte Noah schwarze Flecken auf den weißen Hügeln erkennen. Der Himmel war blau und wolkenlos.

«Wo bin ich?», keuchte Noah.

Natürlich gab Podgy keine Antwort, aber das war in Ordnung, denn Noah begriff es selbst. Er war in der Polarstadt. Der echten Polarstadt.

Podgy schlug kurz mit den Flossen und watschelte dann eilig davon. Jetzt sah er aus wie ein ganz normaler Pinguin und nicht wie einer, der gerade einen Jungen in ein schneebedecktes Märchenland gebracht hatte. Noah rieb sich die Arme und hastete hinter ihm her.

«Du bist wirklich auf meiner Seite.» Noah blickte sich in der unglaublich weißen Landschaft um. «Podgy, ich erfriere», fügte er zitternd hinzu.

Ein anderer Pinguin von beinahe derselben Größe wie Podgy schoss zwischen ihnen hindurch und tauchte in das Eisloch hinein, aus dem sie gerade gekommen waren.

«Wo will er denn hin?», fragte Noah. «Doch nicht in den Zoo! Warum sollte er –? Warte mal … das ist dein Ersatzmann! Er nimmt deine Stelle im Zoo ein … damit niemand merkt, dass ein Pinguin fehlt!»

Podgy watschelte einfach weiter.

«Das erklärt, warum Megan geschrieben hat, sie hätte drei Bären statt zwei gesehen. Der dritte Bär war der Ersatz für Blizzard. Sie hatten nicht schnell genug ihre Plätze getauscht, darum waren sie beide gleichzeitig im Zoo!»

Podgy wackelte mit den Flossen, als wolle er damit zeigen, dass Noah recht hatte.

«Das ist ja krass! Und was ist das?»

Plötzlich wurde das Eis von kleinen Beben erschüttert. In der Ferne kam etwas auf sie zu. Noah konnte nicht erkennen, was es war.

«Ähm … Podgy?», murmelte er. «Ist das da etwas, worüber wir uns Sorgen machen müssen?»

Als die Figur näher kam, fing das Eis an zu knarren. Und schließlich konnte Noah erkennen, was es war: ein Eisbär. Und das am Südpol!

«Blizzard!», rief Noah freudig aus. «Wir kennen uns nämlich schon», wandte er sich erklärend an Podgy.

Blizzard hob die Nase in den Himmel und brüllte. Er verlangsamte seinen Lauf, doch seine Schritte erschütterten weiterhin das Eis, sodass Podgy beinahe in die Luft hüpfte. Der riesige Eisbär blieb vor Noah stehen und stieß ein freundliches Grunzen aus. Noah streichelte sein Fell, als wäre er ein harmloses Kuscheltier. Blizzard presste die Schnauze gegen den Arm des Jungen.

«Ich habe es geschafft, Blizzard!»

Langsam ließ sich Blizzard auf dem Boden nieder. Es war klar, was er wollte: Noah sollte sich auf seinen Rücken setzen. Als Noah sich nicht rührte, schwang der Bär seinen großen Kopf herum und stieß Noah mit der Nase an.

«Erst Podgy und jetzt du?», fragte Noah. Er packte das Fell mit beiden Händen und zog sich an dem Bären hoch, bis er rittlings auf ihm saß wie auf einem Pferd.

Blizzard erhob sich und schob sein Gewicht nach vorn. Noah spürte, wie sich die massiven Muskeln unter ihm bewegten.

«Hü-hott, Blizzard!»

Noah hatte das natürlich nur im Scherz gesagt, doch der Bär fing wirklich an zu laufen. Mit jedem Schritt hopste Noah auf und ab und hin und her. Podgy eilte hinterdrein – er versuchte zu laufen, konnte aber nur schnell watscheln. Mit seinen ausgebreiteten Flossen sah er aus wie ein kleines Flugzeug, das die Startbahn entlangrollte.

Noah legte die Hand an den Mund und rief: «Komm schon, Podgy!»

Der Pinguin beeilte sich, doch er konnte nicht mit ihnen mithalten.

«Blizzard», sagte Noah, «ich muss aus dieser Kälte raus!»

Blizzard knurrte und lief noch schneller. Noah blickte über seine Schulter. Der arme Podgy hatte sich in einen schwarzen Punkt auf dem Eis verwandelt. Es tat Noah leid, dass Podgy nicht fliegen konnte, obwohl er doch als Vogel geboren war.

Blizzard rannte. Vor ihnen tauchte eine Uferlinie auf, die von mindestens fünfzig Pinguinen bevölkert war. Als Blizzard sich näherte, teilten sich die Pinguine in zwei gleich große Gruppen und bildeten ein Spalier. Ein kleiner Pinguin watschelte zum Ende des Spaliers. Er sah hinauf zum Himmel, und die anderen Pinguine blickten auf ihn. Plötzlich rannte er auf das Eis zu, und alle anderen Pinguine folgten ihm.

«Was soll das denn jetzt?», murmelte Noah. «Ist das ein Spiel?»

Der kleine Pinguin sprang in die Höhe und flatterte mit den Flossen. Noah riss die Augen auf. Sein Kinn klappte herunter. Der Pinguin erhob sich in die Luft und flog! Er flog nicht sehr hoch, nur etwa einen halben Meter über dem Eis, doch er flog.

«Das kann nicht wahr sein!», rief Noah vom Rücken des Eisbären herab.

Der Pinguin flatterte, und sein Körper hob sich … und senkte sich … und hob sich wieder … und senkte sich. Es sah ein wenig unbeholfen aus, doch er hielt sich in der Luft. Die anderen Pinguine sprangen ebenfalls in die Luft, fielen jedoch aufs Eis und purzelten übereinander.

«Eine Flugschule!», rief Noah. «Die Pinguine lernen fliegen!»

Innerhalb von Sekunden waren alle anderen Pinguine wieder aufs Eis gefallen und rollten in einem Knäuel aus Speckfalten und flatternden Flossen übereinander. Nur der kleine Pinguin hielt sich noch eine Weile in der Luft, bevor auch er aus etwa drei Metern Höhe aufs Eis fiel.

«Unglaublich!»

Am Ufer des zugefrorenen Sees wurde Blizzard langsamer und trottete auf das schneebedeckte Land zu, das von Hügeln und Bergen umgeben war.

«Wohin laufen wir, Blizzard? Ich muss unbedingt –»

Noahs Blick streifte über die Landschaft, und dort fand er die Antwort. Zu seiner Rechten tauchte ein riesiges Iglu auf, das vorher im blendenden Schnee unsichtbar gewesen war. An einer Seite hatte es eine bogenförmige Öffnung, die offenbar der Eingang sein sollte. Blizzard trottete zu dem Iglu, und Noah duckte sich, sodass sie beide durch die Tür passten.

In dem Iglu war es warm. Ein farbenprächtiger orientalischer Teppich lag auf dem Boden und darauf ein Bündel mit warmer, trockener Kleidung und ein Stapel Decken. Noah rutschte von Blizzards Rücken und ging zitternd zu dem Bündel hinüber. Obendrauf lag ein Zettel.

Lieber Noah,

 

wenn du das hier liest, bist du vor mir angekommen. Dies ist das Iglu der Alten. Und du bist vermutlich klatschnass! Ich habe die Tiere gebeten, dir Kleidung zu besorgen. Ich sehe dich dann in der Stadt der Artenvielfalt. Podgy wird dir den Weg zeigen. Sei vorsichtig! Lass dich von niemandem aufhalten. Du bist schon zu weit gekommen, um jetzt noch umzukehren.

Viel Glück, kleiner Mann!

Tank

«Die Stadt der Artenvielfalt?», sagte Noah. «Was ist das?»

Dann legte er den Zettel zur Seite und kümmerte sich erst einmal um die wichtigeren Dinge: warme, trockene Kleidung. Er nahm sich ein frisches Handtuch, das groß genug war, um einen Löwen einzuhüllen, und zog sich heftig zitternd die nasse Jacke und seinen Pullover aus. Als Noah seine Hose aufknöpfte, sah er zu Blizzard hinüber und sagte: «Würde es dir etwas ausmachen, dich umzudrehen? Ich weiß, du bist ein Bär, aber trotzdem …»

Blizzard drehte den Kopf zur Seite und sah aus dem Iglu hinaus.

«Danke», sagte Noah.

Er rubbelte sich heftig mit dem Handtuch ab, zog zwei schwere Decken aus dem Stapel, ließ sich auf den Teppich fallen und wickelte sich fest ein.

«Mir ist s-s-sooo k-k-k-aaalt», jammerte er.

Doch unter dem Gewicht der Decken wurde Noah schon bald von der Hitze seines eigenen Körpers ein wenig wärmer.

Blizzard näherte sich ihm, sodass Noah seine Pfoten aus nächster Nähe betrachten konnte. Sie waren groß genug, um ein Lagerfeuer auszutreten, und mit den Klauen konnte er leicht eine Wassermelone aufschlitzen. Der Bär ließ sich neben Noah nieder und drängte sich an ihn.

Einen Moment später watschelte Podgy zum Eingang herein.

«Hey, P-P-Podgy», murmelte Noah. «Schön, d-d-dass du es g-g-geschafft hast.»

Podgy kam zu ihm. Mit dem Schnabel schnappte er sich eine weitere Decke und legte sie Noah über die Schultern.

«D-d-danke, Podgy!»

Noah kuschelte sich so dicht an Blizzard, dass seine Knie im Pelz des Bären versanken. Das große Tier legte seinen Kopf sanft über Noahs Körper und bedeckte ihn mit seinem langen Hals. Noah konnte ihn atmen hören und spürte die warme Luft, die über seinen Rücken strömte. Langsam verschwand die Kälte aus seinem Körper.

Bald merkte Noah, wie erschöpft er war. Zu Hause war es jetzt mitten in der Nacht – wo auch immer zu Hause war. Ein bisschen Schlaf vor seinem nächsten Abenteuer würde ihm sicher guttun. Noah schloss die Augen.

Er dachte an seine Schwester und hielt ihr Bild fest. Er sah Megans Gesicht und ihr Lächeln, während er, umgeben von der Wärme seiner fremden und wunderbaren neuen Freunde, einschlief.