43. Kapitel Noch mehr Geheimnisse um den geheimen Zoo

Sind Sie ganz sicher?», fragte Noah. «Sind Sie sicher, dass sie dadrin ist?»

«Nein, Noah, das bin ich leider nicht.» Mr Darby richtete seine perlenbesetzte Brille. «Ich muss euch etwas zeigen. Folgt mir. Und während wir gehen, erzähle ich euch, was wir wissen.»

«Fangen Sie mit den Yetis an», sagte Ella, während sie die Straße hinuntergingen. «Wer sind sie?»

«Es sind Wesen, die zwischen Menschsein und Tiersein gefangen sind. Zur Hälfte sind sie Mensch, zur anderen Hälfte Affe, und sie verkörpert die schlimmsten Wesenszüge von beiden Teilen. Yetis hat es früher einmal in der Außenwelt gegeben – in eurer Welt.»

«Moment! Sprechen Sie gerade von Bigfoot?»

«Yetis haben viele Namen.»

«Aber Bigfoot ist doch nicht real», sagte Ella. «Er ist bloß ein Mythos.»

«Bigfoot ist vielleicht ein Mythos, doch die Yetis sind real, das versichere ich euch. Einst lebten sie in kleinen Gruppen in der Außenwelt. Sie blieben versteckt, um ihre Art zu schützen, und sie lebten in sehr unterschiedlichen Regionen der Erde – in der Antarktis, dem Himalaja, sogar im Dschungel von Südamerika. Yetis können sich leicht an unterschiedliche Klimabedingungen anpassen, und sie sind echte Überlebenskünstler. Über die Zeit wurden sie durch ihr isoliertes Leben natürlich immer weniger, bis sie beinahe schon ausgestorben waren. Darum startete die Geheime Gesellschaft vor achtundsiebzig Jahren eine zweijährige Expedition, um so viele Yetis wie möglich aufzuspüren. Wir konnten beinahe drei Dutzend finden, brachten sie hierher – das war kein leichtes Spiel, das sage ich euch – und bewahrten sie damit vor dem Aussterben.»

«Was ist passiert?», fragte Richie. «Ich meine, offensichtlich ist irgendwas schiefgelaufen.»

«Was passiert ist, wurde in vielen Büchern notiert, die die Bibliothek der Geheimen Gesellschaft füllen. Ich habe sie alle gelesen. Um es abzukürzen, erspare ich euch jetzt die Details.»

Richie nickte, und die Scouts warteten schweigend darauf, dass er weitersprach.

«Die Yetis konnten sich nicht an die Regeln halten. Innerhalb weniger Tage waren sie in einsamere Teile verschiedener Sektoren geflohen. Wir beschlossen daher, ihnen die gewünschte Einsamkeit zu gestatten. Es sind tatsächlich Schattenwesen.»

«Darum sieht man sie auch nie in unserer Welt», sagte Richie.

«Ja … auch wenn ich nicht sicher bin, ob sie in der Außenwelt überhaupt noch existieren. Wir beobachten alle Aktivitäten der Yetis, und seit dreißig Jahren haben wir keine echte Begegnung mehr aufgezeichnet.»

«Was ist danach geschehen?»

«Jahrelang versteckten sich die Yetis in den Sektoren. Gerade als viele der Geheimen Gesellschaft glaubten, sie wären ausgestorben, wurden sie gesichtet. Viele fanden das erfreulich – wir dachten, sie wären nun vielleicht bereit, unserer Gesellschaft beizutreten. Wir irrten uns. Eines Nachts stürmten die Yetis die Stadt der Artenvielfalt und griffen uns an. Hunderte von Mitgliedern starben in dieser Nacht – Tiere und Menschen gleichermaßen. Zahllose Gebäude wurden zerstört. Es war der schwärzeste Tag in der Geschichte des geheimen Zoos.»

«Was haben Sie dagegen getan?», fragte Ella.

«Das Unausweichliche: Wir schlugen zurück. Wir drängten sie aus der Stadt und in einen einzelnen Sektor hinein.»

Während Mr Darby sprach, erreichte die Gruppe eine Wand, die mit Samtvorhängen behängt war. Der alte Mann berührte die Falten und brachte die Stoffe zum Zittern.

«Das hier ist der besagte Sektor. Dahinter sperren wir die Yetis ein, so leid es uns tut. Dies ist der Eingang zum Dunklen Land.»

Noah betrachtete die Vorhänge. Einst waren sie weiß gewesen, doch nun waren sie vergilbt und mit hässlichen braunen Flecken übersät. Teile des Stoffes waren abgewetzt und verschlissen. Die Vorhänge waren verwittert, als würde das Böse aus dem Dunklen Land sie verrotten lassen. Noah spähte hinter den Stoff. Die Mauer bestand aus ganz normalen Ziegelsteinen.

«Und die Ziegelsteine halten sie wirklich fern?», fragte Noah.

«Die Magie der Vorhänge bindet die Ziegelsteine und versiegelt das Dunkle Land.»

«Was ist mit dem anderen Zugang?», wollte Richie wissen. «Der Zugang, der zu unserer Welt führt?»

«Der Sektor mündete einst in das Elefantengehege, aber wir haben ihn verschlossen.»

«Aber das ergibt doch keinen Sinn», sagte Noah. «Wenn das Dunkle Land vollkommen verschlossen ist, wie konnte Megan dann reinkommen?»

«Na ja, für Menschen ist es schwierig, zwischen dem Städtischen Zoo und dem geheimen Zoo hin- und herzureisen. Die Portale zwischen den Sektoren und den Zoogehegen sind für Tiere gebaut, nicht für Menschen. Unsere Pendler hatten darum zunächst viele Schwierigkeiten. In der Nacht, als deine Schwester verschwand, wurde sie im Haus der Kriechtiere gesehen. Kennt ihr die Kammer des Lichts?»

Die Scouts nickten.

«Das ist eines unserer neuen Projekte. Die Kammer des Lichts ist immer noch im Bau und befindet sich in einer frühen Testphase. Sie soll ein Verbindungstor vom Stadtzoo zu allen Sektoren des geheimen Zoos werden. Noch allerdings kann man sich nicht auf dieses Tor verlassen. Es ist nicht sicher.»

Jedenfalls hat Megan irgendwie von der Magie der Kammer des Lichts erfahren und hat sie genutzt, um in den geheimen Zoo zu gelangen. Die Frösche fanden drei Seiten aus ihrem Tagebuch in der Kammer – drei Seiten, die die Tiere euch heimlich zukommen ließen. Auch wenn wir glauben, dass Megan bis in den geheimen Zoo gekommen ist, haben wir sie nie lokalisieren können. Das ist der Grund, warum viele glauben, dass sie in das Dunkle Land gelangt ist. Seht ihr, wenn die Kammer des Lichts nicht richtig benutzt wird, kann jeder Sektor des geheimen Zoos am Ende des Ganges liegen.»

«Warum haben Sie meiner Familie nichts davon erzählt?», fragte Noah. «Sie hätte es uns sagen müssen!»

«Viele wollten es tun, doch das hätte bedeutet, unsere Geheimnisse preiszugeben. Es wäre zu gefährlich für uns gewesen – zu gefährlich für die Welt.»

«Warum die Welt?», sagte Ella. «Tank hat dasselbe gesagt, und ich –»

Mr Darby unterbrach sie. «Es gibt einen Mann. Einen Mann, der in den Schatten lebt, der durch die Schatten atmet. Manche halten ihn für einen Mythos, eine Legende. Aber ich glaube, dass er versucht, in den geheimen Zoo zu gelangen und in die Nähe unserer Kraft und unserer Magie zu kommen. Und ich fürchte, wenn ihm das gelingt …» Mr Darby sah zu Boden und strich sich über seinen struppigen Bart. «Ich will nicht einmal daran denken.»

«Aber wer ist er?» Ella konnte sich kaum bremsen.

Mr Darby hob die Hand und sagte: «Das ist erst mal genug für den Moment! Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich nur an ihn denke. Wir sollten das Thema verschieben – auf eine Zeit, wenn wir mehr Ruhe haben.»

Noah brachte das Gespräch wieder zurück auf Megan. «Aber dann glauben Sie nur, dass Megan im Dunklen Land ist. Sie sind sich nicht sicher.»

«Nein. Das ist der Hauptgrund, warum die Geheime Gesellschaft ihr noch nicht nachgereist ist. Wenn wir diese Mauer abreißen, könnten die Yetis entkommen – falls die Yetis überhaupt noch da sind. Wir haben sie vor über achtzig Jahren das letzte Mal gesehen, und wir sind nicht sicher, ob sie überlebt haben. So viele Dinge sind unklar. Und das ist der Grund, warum wir bisher nichts unternommen haben.»

«Das ist doch verrückt!», rief Noah. «Sie können Megan doch nicht einfach aufgeben!»

«Niemand hat sie aufgegeben. Seit ihrem Verschwinden haben sich unendlich viele Gedanken und Diskussionen um Megan gedreht. Viele Mitglieder unserer Gesellschaft sind erleichtert, dass die Beschenkten einen Weg gefunden haben, euch drei zu holen.»

«Die was?», fragte Ella. «Die Beschenkten – wer ist das denn?»

«Das sind Tiere, die in mancher Hinsicht beinahe menschlich wirken. Sie besitzen mehr Intelligenz, Wachsamkeit, Mitgefühl – Charakteristika für eine höhere Entwicklungsstufe, würde man wohl sagen. Ihr habt schon ein paar von ihnen kennengelernt: Blizzard, Marlo, Little Bighorn – ein paar von den Schlausten. In unserer Welt sind sie natürliche Anführer und bilden oft die Brücke zwischen uns und den Tieren. Es ist schwer vorstellbar, was wir ohne sie wären.»

«Aber alle Tiere hier wirken schlau», sagte Ella.

Mr Darby nickte. «Die meisten sind es. Ein paar sind nur noch fähiger als die anderen.»

«Was hat sie so verändert?», fragte Richie. «Die Magie?»

«Zum Teil», antwortete Mr Darby. «Manche denken jedoch, dass sie sich deshalb weiterentwickeln, weil wir sie als Gleichberechtigte behandeln.»

Noah interessierte sich nicht für die Beschenkten. Er interessierte sich nur für Megan, darum fing er wieder von ihr an. «Wir müssen ins Dunkle Land! Es gibt vielleicht nur eine kleine Chance, dass Megan dadrin ist, aber wir müssen es auf jeden Fall herausfinden.»

«Du hast recht, glaube ich», sagte Mr Darby. «Und jetzt, wo ihr drei hier seid, haben die Mitglieder des Geheimen Rates ein Treffen einberufen, um einen Plan zu schmieden. Dorthin sind all die Tiere gegangen, und dorthin werden wir jetzt auch gehen.» Mr Darby bog abrupt in eine schmale Gasse ein, die zwischen einem Turm und einem riesigen, moosbewachsenen Baum verlief, und sagte: «Kommt! Folgt mir, Action Scouts. Wir wollen nicht zu spät kommen.»

«Zu spät wofür?», rief Ella, als sie hinter dem alten Mann herliefen.

Ohne sich umzudrehen, sagte Mr Darby: «Du wirst schon sehen, Ella.»

Als sie die Gasse entlangeilten, hörten sie ein unbestimmtes Grollen. Mit jedem Schritt schwoll das Geräusch an, bis es sie beinahe überrollte.