39. Kapitel Das gute Herz des Frederick Jackson

Frederick Jackson», sagte Mr Darby. «Frederick hatte warme Augen, ein rundes Gesicht und viele Sommersprossen. Er war klug, schüchtern und sehr freundlich. Auf gewisse Weise war es seine Freundlichkeit, aus der der geheime Zoo entstand.

«Frederick wuchs hauptsächlich bei seiner Mutter auf, da sein Vater nur selten zu Hause war. Wisst ihr, Fredericks Vater war ein reicher Geschäftsmann. Ihm gehörten einige große Baukonstruktionsfirmen, und er musste oft in ferne Städte reisen. Und obwohl er seinen Sohn sehr liebte, hielten seine Pflichten ihn oft von ihm fern.

«Eines Tages, als Frederick etwa neun Jahre alt war – nicht viel jünger als ihr drei, also –, fiel seine Mutter in ihrem Haus die Treppe hinunter. Sein Vater war auf Geschäftsreise. Seine Mutter war so schwer verletzt, dass sie sich nicht bewegen konnte – sie hatte sich die Beine und einen Arm gebrochen, und sie hatte auch innere Verletzungen davongetragen. Der kleine Frederick war der Einzige, der Hilfe holen konnte, doch er war so klein und so verschüchtert, dass er nicht wusste, was er tun sollte. Und so saß er bei seiner Mutter unten an der Treppe und schrie. Als man die beiden endlich fand, war Fredericks Mutter tot.»

«Wie schrecklich», sagte Ella.

«Allerdings», sagte Mr Darby. «Es war so schrecklich, dass Frederick und Mr Jackson in einer tiefen Depression versanken. Mr Jackson machte sich Vorwürfe, weil er an diesem Tag nicht zu Hause gewesen war, und er befürchtete, dass auch Frederick ihm insgeheim Vorwürfe machte. Sie entfernten sich innerlich voneinander. Über die Zeit wurde diese Entfernung immer größer. Um bei Frederick zu sein, gab Mr Jackson seine Reisen mit den Bautrupps auf. Seine Geschäfte liefen schlechter. Alles, was von der Jackson-Familie übrig geblieben war, bröckelte.

«Frederick wurde zehn Jahre und dann elf. Die Distanz zwischen Vater und Sohn wurde immer größer. Eines Nachmittags, beinahe drei Jahre nach dem Tod der Mutter, nahm Mr Jackson seinen Sohn mit auf eine Fahrt über Land. Sie kamen zu einer Scheune, wo sie von einem Bauern begrüßt wurden. Der Bauer tippte sich an seinen Strohhut und fragte Mr Jackson, ob er und sein Sohn gern ein außergewöhnliches Tier adoptieren würden. Der Bauer verkaufte gerade seinen Hof und konnte das Tier nicht mitnehmen. Das Tier war ein Langur.»

Noah warf Richie einen Blick zu. «Ein Langur – wie Mr Tall Tail», sagte er.

«Genau. Fredericks Vater war ein einfühlsamer Mann», fuhr Mr Darby fort. «Er wollte eigentlich kein Haustier haben. Aber als Frederick den Languren sah, der da durch die Scheune sprang, verliebte er sich aus irgendeinem Grund sofort in das Tier. Frederick lächelte. Er lächelte zum ersten Mal seit langem. Das Herz von Mr Jackson schwoll an vor Glück, als er die Freude im Gesicht seines Sohnes erblickte. Der Vater war so gerührt, dass er das Tier ohne weitere Fragen mit nach Hause nahm.»

«Wie hieß der Affe?», wollte Richie wissen.

«Na, das war ein richtig großartiger Name! Primus!», gab Mr Darby den Namen des Affen bekannt. «Primus der Primat!»

«Oh, das passt wirklich gut», lachte Richie.

«Verstehe ich nicht», gestand Ella.

«Ein Primat ist ein Affe», erklärte Richie. «Primus der Primat, verstehst du? Daran kannst du sehen, dass das Leben viel interessanter wäre, wenn du mal deine Hausaufgaben machen würdest.»

Mr Darby kicherte. Die um ihn flatternden Kolibris gaben mit ihren flirrenden Flügeln ein beruhigendes Summen ab. Ein paar der winzigen Vögel hockten auf den Schultern, den Knien oder dem Kopf des alten Mannes. Einer setzte sich sogar auf seine Nase. Doch nichts davon hielt ihn davon ab, die Geschichte zu erzählen.

«In kürzester Zeit waren Frederick und Primus die besten Freunde geworden», fuhr Mr Darby fort. «Der Affe brachte die Freude zurück in das Herz des Jungen, doch leider hatte dieses wunderbare Geschenk einen Preis. Wisst ihr, Primus stellte sich als der ungezogenste Gast heraus, den man sich nur vorstellen konnte. Er hatte ein Vorliebe dafür, Möbel und Geschirr zu zerschlagen und Blumen zu fressen. Er war erst ein paar Monate im Haus, als Mr Jackson beschloss, dass etwas unternommen werden musste. Aber was? Er konnte Primus nicht einfach wieder wegschicken – nicht, wo der Affe der Einzige war, der seinen Sohn zum Lächeln brachte.»

Mr Darby schwieg eine Weile. Er schien die Geschichte gern zu erzählen, als erlebte er sie selbst. Er öffnete die Hände, und drei Kolibris ließen sich darauf nieder. Der alte Mann lächelte und warf sie in die Luft. Dann wandte er sich wieder den Action Scouts zu.

«Primus war also der Grund für die Entstehung des Städtischen Zoos von Clarksville – eurem Zoo.»

«Aber wie?», fragte Ella.

«Mr Jackson beschloss, Primus ein besonderes Zuhause zu schaffen. Seine Bautrupps errichteten einen massiven Stahlkäfig auf dem großen Gelände seines Besitzes.»

«Wie cool, wenn man einen eigenen Bautrupp zur Hand hat», platzte Richie heraus.

«Als der Käfig fertig war, zog Primus in sein neues Zuhause. Ein Haustier, das nicht im Haus lebte, war schon etwas Ungewöhnliches. Noch ungewöhnlicher war aber, dass es sich um einen Languren handelte. Die Neuigkeit verbreitete sich schnell, und bald standen die Leute vor Mr Jacksons Zaun Schlange, um Primus zu sehen. Und weil Mr Jackson ein großzügiger Mann war, lud er die Leute auf sein Grundstück ein, damit sie sich den Affen besser anschauen konnten.»

«Ich glaube, ich weiß, wie es weitergeht», sagte Noah. «Primus wird das erste Tier des Zoos von Clarksville, stimmt’s?»

Mr Darby hob die grauen Augenbrauen über seiner Sonnenbrille. «Ganz genau.»

«Woher kamen dann all die anderen Tiere?», wollte Ella wissen.

«Nun, nach einiger Zeit kam ein Mann mit einem sehr exotischen Tier an Mr Jacksons Tür. Es war ein weißer Fuchs. Er konnte sich nicht länger um den Fuchs kümmern, und er bat Mr Jackson, ihn zu nehmen. Frederick liebte den Fuchs sofort, sodass Mr Jackson nicht ablehnen mochte. Bald wusste jeder, dass Mr Jackson seltsame Tiere in Obhut nahm, und die Leute kamen von nah und von fern, um ihm ihre ungeliebten Tiere zu bringen. Jedes neue Tier erfüllte Frederick mit solcher Freude, dass es seinem Vater unmöglich war, es abzulehnen. Und so wuchs der private Zoo.»

Mr Darby schwieg einen Moment und blickte liebevoll auf einen grünen Kolibri, der auf seinem Finger hockte.

«Hallo, Cookie», sagte er. «Wie geht’s meinem kleinen Freund heute?»

Der Kolibri raschelte mit den Federn, nickte ein paarmal mit dem Kopf und schoss dann davon. Im gleichen Moment kam Tank mit einem Tablett voller kleiner Silbertassen. Er beugte sich vor und fragte: «Möchte jemand Nektar?»

«Wir haben gar nicht gemerkt, dass du weg warst», sagte Noah.

«Mr Darby kann gut Geschichten erzählen, was?», antwortete Tank. Er hielt Ella das Tablett hin.

«Nektar?», fragte sie. «Von Blumen?»

«Ja.»

Ella verzog das Gesicht. «Wie eklig!»

«Vertrau mir», sagte Tank. Mit zwei Fingern fasste er den Henkel einer Tasse und hob sie an. Sie schien beinahe zu zart für seine großen Hände zu sein. «Nimm einen Schluck. Das Zeug ist so lecker, dass Limonade dagegen wie Wasser schmeckt.»

Ella nahm zögernd die Tasse in Empfang und schlürfte vorsichtig. Dann leuchtete ihr Gesicht auf. «Wow!», rief sie und nahm einen großen Schluck. «Du hast recht, Tank!»

Tank bot auch Noah und Richie Nektar an, den beide unbedingt probieren wollten. Sie nahmen die Tassen und schluckten gierig den süßen Saft hinunter.

«Also», sagte Mr Darby, «wo war ich?»

«Dabei, dass seltsame Tiere vor Mr Jacksons Tür abgegeben wurden», sagte Ella.

«Ja. Danke, Ella. Bald waren die Jacksons die stolzen Besitzer von zwanzig Tieren. Darunter gab es vier schwarzpfotige Frettchen, einen Pfau, ein Krokodil, einen Schimpansen und einen weißen Tiger.»

«Und die hat er alle in Käfigen gehalten?», fragte Noah.

«Ja. Jedes Mal, wenn ein neues Tier dazukam, holte Mr Jackson seinen Bautrupp.»

«Und die Leute kamen von überall her, um sich die Tiere anzusehen?», fragte Ella.

Mr Darby lachte. «Bei jedem Tier kamen mehr Leute. Schließlich war dieser private Zoo so bekannt, dass Mr Jackson sein Grundstück für die Öffentlichkeit freigab und den Clarksville-Zoo eröffnete. Mit der Eröffnung des Zoos war Fredericks Trauer endgültig vorbei. Die Tiere hatten ihn gerettet.»

«Dann war der Zoo für alle eine Lösung», sagte Noah.

«Leider nicht.» Mr Darby schlug ein Bein über das andere und zog seinen roten Mantel fester. Dann schob er seine Brille zurecht und runzelte die Stirn. «Eine Weile war alles gut. Doch dann passierte etwas Schreckliches – etwas so Schreckliches, dass man es kaum aussprechen kann.»

Mr Darby versuchte weiterzusprechen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Die Scouts warteten mitfühlend. Nach langem Schweigen sagte der alte Mann schließlich: «Frederick starb.»

«Was? Warum?», keuchte Richie.

«Das weiß niemand. Er starb im Schlaf, und die Ärzte konnten nicht herausfinden, woran es lag. Es passierte nur ein paar Wochen vor seinem dreizehnten Geburtstag.»

Die Scouts saßen schweigend da und versuchten, all das Gehörte zu verstehen.

«Das ist ja schrecklich», sagte Ella schließlich.

Mr Darby holte tief Luft und fuhr fort. «Wie ihr euch vorstellen könnt, war der Tod seines Sohnes für Mr Jackson nur schwer zu ertragen. Seine Frau und seinen Sohn in wenigen Jahren zu verlieren brach dem armen Mann nicht nur das Herz, sondern raubte ihm auch den Verstand.»

«Sie meinen, er wurde verrückt?», sagte Ella.

«Ja. Es war schlimm. Doch ironischerweise war es seine Verrücktheit, die den geheimen Zoo ermöglichte.»

«Hä?», machte Richie.

«Der Geist eines Verrückten ist eine komplizierte Sache. Seht ihr, die Tiere erinnerten Mr Jackson ständig an Frederick. Immerhin waren sie diejenigen, die ihm das Glück zurückgebracht hatten. Mr Jackson konnte die Tiere nicht ansehen, ohne an seinen Sohn denken zu müssen, und darum begann er sie zu lieben. Er sammelte neue Tiere. Er eröffnete weltweit Agenturen, die sich mit dem Ankauf exotischer Haus- und Wildtiere befassten. Er gab Millionen für ihren Transport und ihre Betreuung aus. Jedes neue Tier wurde in einem eigenen Käfig gehalten. Alle Leute im Ort erkannten, dass der arme Mann verrückt geworden war, doch sie verstanden natürlich auch, warum es so gekommen war, und liebten ihn in gewisser Art noch mehr dafür.»

«Was passierte dann?», fragte Ella.

«Seine Tiersammlung wuchs. Fünf Jahre nach Fredericks Tod hatte Mr Jackson über hundert Tiere erworben, doch je mehr es waren, desto verrückter wurde er. Ein paar Jahre später veränderte sich sein Wahnsinn. Seine Verbindung zwischen den Tieren und Frederick war so stark geworden, dass er schließlich glaubte, er würde seinen eigenen Sohn gefangen halten. Das konnte er nicht ertragen – nicht eine Sekunde lang! Und darum blieb ihm nur eine Lösung.»

Mr Darby schwieg. Er sah die Scouts an, dann stand er auf und hob die Hände in Richtung Baumwipfel. Kolibris füllten die Luft, und das Summen ihrer Flügel klang wie seltsame Musik. Einige flatterten herab und hockten sich auf die Arme und Schultern des alten Mannes.

«Mr Jackson nutzte das Unglück seines eigenen Lebens, um einen wundervollen Ort zu erschaffen. Mit alter Magie, klaren Zielen und einem reinen Herzen schuf er das wunderbarste Bauwerk, das man je gesehen hat.» Mr Darby legte die Hände aufeinander. «Er schuf den geheimen Zoo.»