34. Kapitel Der Abgrund

Als sich der Vorhang hinter den Scouts schloss, fragte Richie: «Was ist in Sektor 13?»

«Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal!», antwortete Ella. «Ich will bloß weg von diesen Affen!»

In Begleitung der Präriehunde krabbelten sie durch einen kurzen, finsteren Gang. Er führte hinaus ins Helle und zu einer hölzernen Plattform. Die Scouts rannten hinauf, und Ella kam nur Zentimeter vor dem Rand der Plattform zum Stehen – unter ihren Füßen klaffte ein Abgrund. Tief unten sah Ella dichten Nebel. Ihr Herz hämmerte wie wild, als sie merkte, dass sie beinahe von einer Klippe gestürzt wäre – einer Klippe! Und sie hatte geglaubt, sie seien im Flachland.

«Richie!» Sie streckte den Arm aus und hielt Richie zurück. Seine Füße flogen nach vorn, und er knallte zu Boden. Ella beugte sich vor und schaute noch einmal über die Klippe. Der Nebel unter ihr sah bedrohlich aus.

«Wir kommen hier nicht weiter», murmelte sie.

 

Als Blizzard den Gang entlanglief, versuchte Noah zu deuten, was er gerade auf dem Schild gelesen hatte: KEIN ZUTRITT FÜR UNGEFLÜGELTE!

«Ungeflügelte», wiederholte Noah. «Ungeflügelte. Ungeflügelte. Ungeflügelte … verstehe ich nicht.»

Podgys knopfartige Augen starrten Noah an. Er hob die Flossen und flatterte bedeutungsvoll damit. Noahs Augen weiteten sich.

«Oh nein», murmelte er. «Das hier ist der Flugwald – aber der richtige.»

 

Ella hatte nur eine Sekunde, um festzustellen, wohinein sie geraten waren. Sektor 13 war eine Art Vogelhaus – in der Größe eines Fußballstadions. Doch dieses Vogelhaus schien keinen Boden zu haben. Unter ihren Füßen ging es immer weiter abwärts, und ihr Blick verlor sich in einem Nebel, der seine wahre Tiefe verbarg. Aus dieser Nebeldecke ragten Hunderte von Bäumen hervor. Sie waren so lang und so dick, dass sie einfach magisch sein mussten. Das Gebäude war rund, und die Wände waren mit grünem Efeu bewachsen. Über ihren Köpfen wölbte sich eine gläserne Kuppel, und dahinter erstreckte sich der seltsame blaue Himmel, den sie schon in der Stadt der Artenvielfalt gesehen hatten. Um sie herum stürzten Wasserfälle über moosige Klippen und Felsen und benetzten alles mit ihrem Sprühnebel. Tausende von Vögeln segelten durch die Luft und tauchten durch die Bäume – Vögel in so vielen Größen und Farben, als stammten sie direkt aus einem Regenbogen.

Ella wurde von einem Präriehund aus ihren Gedanken gerissen. Er schlitterte, versuchte vor der Kante stehen zu bleiben, schaffte es aber nicht und fiel mit einem ängstlichen Schrei über die Klippe. Einen Augenblick später folgte ihm ein weiterer Präriehund. Dann ein dritter und ein vierter. Ella hatte keine Chance, sie aufzuhalten, so schnell ging alles. In wenigen Sekunden waren alle Präriehunde, die Richie hinterhergelaufen waren, über den Rand gestürzt. Ella schrie.

 

Von Blizzards hohem Rücken sah Noah seine Freunde am Rand einer Klippe liegen. Aus irgendwelchen Gründen lag Richie auf dem Boden. Dann passierte etwas Schreckliches: Die Präriehunde, die sie verfolgt hatten, stürzten über den Rand.

Blizzard erreichte die Scouts so schnell, dass seine riesige Tatze beinahe Richies Kopf in der Plattform versenkt hätte wie einen großen Samen in der Erde. Noah sprang ab und lief zu Ella, die, auf allen vieren hockend, über den Rand spähte.

«Ella!», rief er. Dann blickte er ebenfalls über den Rand. Die Präriehunde sahen aus wie kleine Punkte, die in den Nebel tauchten.

«Ich konnte nichts tun, um sie aufzuhalten!», jammerte sie. «Nichts!»

Noah wusste, dass er etwas sagen musste – aber was? Er sprang auf die Füße und scannte die mit Efeu überzogenen Wände des Gebäudes. Auf der Suche nach einer Lösung fiel ihm etwas an der gegenüberliegenden Seite des Geheges auf. Ein Loch war neben einem kleinen Blinklicht in die Wand gegraben worden. Nach allem, was Noah schon erlebt hatte, war er sicher, dass dieses Loch in den Städtischen Zoo von Clarksville führte.

«Ein Tunnel», sagte er. «Ein Tunnel, der Vögel von dem Städtischen Zoo in diesen Zoo bringt – genauso ein Tunnel wie der, durch den Podgy und ich gekommen sind. Als ich Marlo kennengelernt habe … all diese Vögel im Zoo … die kamen von hier.» Doch jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Er blickte zu den Baumwipfeln und rief: «Marlo! Bist du hier, Marlo?»

Ein winziger blauer Vogel schoss schnell wie eine Kanonenkugel aus den Blättern hervor. Er landete auf Noahs Schulter und sah ihn mit glitzernden Augen an.

«Marlo!»

Ella riss den Blick von den fallenden Präriehunden los und sprang auf. «Ist das der Vogel? Der an dein Fenster gekommen ist?»

«Marlo, wie er leibt und lebt … äh, treibt und fliegt, schätze ich.»

Noah deutete auf die Präriehunde und sagte: «Marlo, wir brauchen Hilfe!»

Mit ein paar blitzschnellen Kopfbewegungen erfasste Marlo die Situation. Er pfiff zweimal und schoss dann wieder hinauf in die Bäume.

«Was tut er da?», fragte Ella. «Das ist nicht die richtige Richtung!»

«Ich weiß es nicht. Aber wir müssen ihm vertrauen. Er ist klug.»

«Klug ist gut, aber wir brauchen schnell.» Ella blickte nach unten. Die Präriehunde waren im Nebel verschwunden.

Marlo schoss wieder aus dem Himmel herab und wie ein blauer Pfeil an den Scouts vorbei. Sekunden später stürzten Tausende von Vögeln aus den Baumwipfeln hinter Marlo her. Dabei entstand ein solcher Luftzug, dass die Äste und Blätter in der Luft rauschten. Der Wind zerrte an Ellas Pferdeschwanz und ließ die Ohrenklappen von Noahs Mütze flattern. Richie klammerte sich fest an Blizzards Bein.

Noah sah den Vögeln hinterher. Er hatte eine solche Szene schon einmal erlebt. Vögel jeder Gattung und Art flogen an ihnen vorbei: Adler, Eulen, Geier, Falken, Habichte und Meisen, und ganze Schwärme von Kolibris, so farbenprächtig wie eine Malerpalette, sausten in die Tiefen des Vogelhauses.

«Fangt sie auf!», rief Noah.

Gemeinsam spähten die drei Scouts in die mit Bäumen gefüllte Schlucht und sahen dem endlosen Vogelstrom hinterher, der den fallenden Präriehunden nachflog.

«Ich glaube das nicht!», rief Richie. «Wie heißt es noch? Der frühe Vogel fängt den Wurm. Aber was für ein Vogel fängt einen Präriehund?»

Noah wollte gerade antworten, als er ein trommelndes Geräusch hörte. Auch Ella und Richie horchten auf. Selbst Blizzard stellte die Ohren auf, und Podgy legte den Kopf schief. Es war ein fernes Geräusch, doch es gab keinen Zweifel daran, was es war: Schritte, die näher kamen.

«Die Affen», flüsterte Richie.

Noah ging zur Mitte der Plattform. Links befand sich eine Tür, die auf eine schmale Bambusrampe führte. Die Rampe zog sich an der inneren Wand des Geheges entlang und schlängelte sich daran herum, bis sie irgendwo in den Bäumen verschwand. Sie sah aus wie eine Verbindung, wie eine Abkürzung zu anderen Teilen des Flugwaldes. Wofür die Rampe auch immer gedacht sein mochte, sie war auf jeden Fall zu eng und wackelig, um von allgemeinem Nutzen zu sein.

«Wohin führt dieses Ding?», fragte Noah.

«Ist doch egal», sagte Richie. «Wir sind auf jeden Fall zu schwer. Sie bricht zusammen, wenn wir versuchen darüberzugehen.»

«Und wenn wir superschnell rennen?», sagte Noah.

«Rede keinen Quatsch. Das hier ist kein Zeichentrickfilm.»

«Entweder das oder die Affen.» Noah kletterte hinter Podgy auf Blizzards Rücken. «Es ist unsere einzige Chance.»

Blizzard brummte, als stimme er Noahs Vorschlag zu. Ella stieg schweigend hinter Noah auf.

«Das gefällt mir nicht», sagte Richie. «Das gefällt mir gar nicht!»

Doch er kletterte an Blizzards Fell hinauf und ließ sich auf den letzten freien Platz fallen, dicht vor dem Hinterteil des Bären.

Blizzard lief durch das Tor auf die Bambusrampe und brachte die Scouts weg von Charlie Red und seinem bedrohlichen Trupp von Polizeiaffen.