46. Kapitel Das Dunkle Land

Die Scouts sprangen zur Seite, um der riesigen Tierherde Platz zu machen, die hinter ihnen durch die offene Mauer drängte. Noah sah sich um. Die Welt vor ihnen lag in völliger Dunkelheit. Schatten bedeckten eine Waldlandschaft, die von einem Netz aus tintenschwarzen Flüssen und dunklen Seen überzogen war. Berge erhoben sich in der Ferne in die Höhe. Halbtote Bäume stakten aus der Erde wie die Klauen eines vergrabenen Monsters. Blitze sprangen zwischen den Sturmwolken hin und her und fuhren zu Boden. Die Wolken hingen so tief, als würden sie gleich vom Himmel fallen. Die Tiere marschierten über den nassen Boden, sodass der Schlamm nur so zur Seite spritzte.

«Na ja», sagte Ella, «es heißt wohl nicht ohne Grund das Dunkle Land.» Es sollte eigentlich witzig klingen, doch ihre Stimme zitterte, bevor sie den Satz beendet hatte.

«Der Name bezieht sich aber nicht auf das fehlende Licht», tönte eine laute Stimme hinter ihnen. «Sondern auf das fehlende Gute in diesem Land.»

Die Scouts fuhren herum. Hinter ihnen stand Tank und sah so groß und kahlköpfig aus wie immer. Sein muskulöser Körper war so hügelig wie die Bergkette vor ihnen.

«Tank!», rief Noah. «Wirst du uns helfen?»

«Junge, ich wollte schon die ganze Zeit bei dieser Operation dabei sein.»

Noah lächelte. Er drehte sich um und sah die letzten Tiere durch die gefallene Mauer kommen. Krokodile und Seehunde tauchten in die Flüsse, und die Vögel und Fledermäuse erfüllten den stürmischen Himmel. Affen, Opossums und Flughunde sprangen durch die Bäume.

Zu den Scouts gesellten sich ihre tierischen Freunde – Blizzard, Podgy, Dodie und Little Bighorn. Marlo hockte sich auf Noahs Schulter. P-Dog und ein Dutzend andere Präriehunde wuselten um Richies Füße herum.

«Seid ihr so weit?», fragte Ella.

Die Tiere grunzten, schnaubten, schnatterten und bellten zustimmend.

Noah kletterte auf Blizzards Rücken und rief: «Dann lasst uns Megan finden!»

Ella lief zu Little Bighorn hinüber. «Macht es dir was aus, mich zu tragen?» Das Nashorn warf den Kopf herum und schnaubte. Ella kletterte rasch auf seinen Rücken.

Die Truppe marschierte hinein ins Dunkle Land. Dodie und Marlo flogen voraus, während die Präriehunde im Kreis um jedermanns Füße herumliefen und nach Verstecken suchten.

«Ich sehe nichts, was aussieht wie ein Yeti», sagte Richie zu Tank. «Sind sie doch tot?»

«Vielleicht.» Tank blickte über die Hügel und den Wald. «Vielleicht verstecken sie sich auch nur.»

Genau vor ihnen kletterten ein paar Seehunde umständlich aus dem Wasser ans Ufer. Sie schlugen mit ihren Flossen auf den matschigen Boden und sangen: «Aaaart! Aaaart! Aaaart!»

Die Tiere verteilten sich, während sie tiefer in das Dunkle Land eindrangen. Schon bald verklangen die Geräusche der Stadt, und die Scouts waren allein mit ihren Freunden. Die Stille war unnatürlich. Sie machte Noah kribbelig.

«Leute», sagte Ella, «seht euch mal die Berge an.»

Noah sah hoch. Er konnte nur wenig erkennen, bis ein Blitz die Gegend erhellte. Die Berge waren übersät mit Höhlen und Felsspalten – überall gab es Verstecke.

«Habt ihr das vorher gewusst?», jammerte Richie.

«Warum habe ich plötzlich das Gefühl, dass uns jemand beobachtet?», flüsterte Noah.

«Bleibt dicht zusammen», sagte Tank. «Und seid auf alles vorbereitet. Denkt dran, seit achtzig Jahren ist niemand hier gewesen. Alles ist möglich.»

Noah pfiff nach Marlo. Der Vogel stürzte aus dem Himmel herab und hockte sich auf seine Schulter.

«Marlo, du musst für uns diese Höhlen auf Yetis überprüfen. Kannst du das tun?»

Marlo zirpte, sprang von Noahs Schulter und flog zu den Bergen hinüber.

Tank ging hinüber zu einem Teich. «Hmmm», machte er.

«Was ist los, Tank?», fragte Noah.

«Ich weiß nicht. Es ist zu still. Irgendwas macht mich nervös.» Tank zog eine Taschenlampe aus seinem Werkzeuggürtel und deutete auf einen großen Fußabdruck im Schlamm. «Seht ihr diesen Abdruck?» Er hielt den Lichtstrahl etwas weiter weg und zeigte noch mehr Abdrücke. «Alle diese Fußabdrücke sind frisch. Da – seht euch den Schlamm an. Er ist noch nass.»

«Vielleicht waren das unsere Tiere.»

«Niemals», sagte Tank. «Nur ein Tier hinterlässt solche Spuren: ein Yeti. Ich habe diese Abdrücke schon hundertmal in unseren Büchern gesehen.»

«Dann sind sie also hier», sagte Noah. «Sie haben überlebt.»

«Das ist überhaupt nicht gut», sagte Richie. Er nickte nervös mit dem Kopf und ließ den Bommel seiner Mütze wackeln. Die Präriehunde huschten um seine Füße herum.

Marlo flog wieder auf Noahs Schulter und zirpte aufgeregt. Seine knopfartigen schwarzen Augen fielen ihm beinahe aus seinem fedrigen Gesicht, während er mit dem Kopf hin und her ruckte.

«Er hat etwas gesehen», sagte Tank.

«Einen Yeti?», fragte Richie.

«Ich weiß nicht. Vielleicht.»

«Tank», sagte Noah, «gib mir mal deine Taschenlampe.»

Tank reichte sie ihm, und Noah leuchtete damit in Richtung der Hügel. Im nächsten Moment sprang ihm sein Herz in die Hose. Als er den Lichtstrahl von Höhle zu Höhle führte, glänzten überall kleine Lichtpunkte auf. In jeder Höhle funkelten glühende gelbe Flecken in der Dunkelheit. Augen! Die Augen von Tieren. Und diese Tieraugen beobachteten sie.

Blizzard stieß ein langsames, wütendes Knurren aus. Auf seinem Rücken spürte Noah, wie der große Eisbär die Muskeln anspannte.

«Yetis!», sagte Tank, und zum ersten Mal vernahm Noah in der mächtigen Stimme des Mannes so etwas wie Angst.

Ein Blitz beleuchtete einen einzelnen Yeti, der den Hügel heruntergelaufen kam. Noah versuchte, sein Licht auszurichten, und sah ein zweites Biest hinter dem ersten. Noch ein Blitz durchbrach den Himmel. Donner grollte. Dann schossen Dutzende von Yetis aus ihren Höhlen hervor und liefen auf die Scouts zu.

Im geheimen Zoo, dem Land der unmöglichen Dinge, hasteten Yetis die Berghänge hinab – Tiere, die eigentlich nicht existierten; monströse Biester, irgendwo zwischen Tier und Mensch. Und im geheimen Zoo, dem Land der unmöglichen Dinge, stürmte ein großer Eisbär, der einen Jungen namens Noah auf dem Rücken trug – weit weg von seiner Familie und weit weg von dem Leben, das er kannte –, voran und bereitete sich auf den Kampf vor.