10. Kapitel Mitternachtspost

Noah saß in seinem dunklen Zimmer auf dem Bettrand und starrte auf die Uhr. 23:53 Uhr. Auf ihrem Heimweg vom Zoo hatten die Scouts beschlossen, dass Noah wie besprochen um Mitternacht in seinen Briefkasten schauen und Ella und Richie dann gleich am nächsten Morgen Bescheid geben sollte. Noahs Eltern schliefen schon, und er war bereit.

23:54 Uhr. Noah wusste noch nicht, was er erwarten sollte. Aber eines wusste er, nämlich: Alles war möglich.

23:55 Uhr. Es war Zeit. Er schlich nach unten, zog sich eine Jacke über und glitt in die kalte, dunkle Nacht hinaus. Der Himmel war sternenlos. Auf dem Weg zum Briefkasten zog er seine Kapuze über den Kopf und schob die Hände in die Taschen.

«Ist das k-k-kalt», murmelte er. Sein Atem kam dampfend aus seinem Mund.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. 23:56 Uhr. Er öffnete den Briefkasten, doch außer einem trockenen Blatt lag nichts drin.

«Vielleicht bin ich zu früh dran.»

Wieder sah er auf die Uhr, gerade als aus 23:57 Uhr 23:58 Uhr wurde.

Er hopste ein wenig auf und ab, um sich warm zu halten. Die Nachbarschaft war so still, dass er den Wind in den wenigen trockenen Blättern hören konnte, die immer noch in den Bäumen hingen.

23:58 Uhr. Noah wartete … und wartete. 23:58 Uhr verwandelte sich in 23:59 Uhr. Dann war es 0:00 Uhr – Mitternacht! Nichts passierte. Die Uhr wechselte zu 0:01 … 0:02 … 0:03.

«Vielleicht geht meine Uhr ja vor», murmelte er. «Vielleicht –»

Er hörte ein leises Geräusch und spähte die Straße hinunter. Doch er sah nichts als Dunkelheit.

«Ich höre schon Gespenster», sagte er zu sich. «Ich bin –»

Dann hörte er das Geräusch noch einmal und schwieg. Diesmal war er sicher, dass etwas da war – doch was, das wusste er nicht. Es war ein leises Geräusch, wie Füße, die in der Ferne über die Straße liefen.

«Hallo?», fragte er.

In der Ferne begann sich etwas zu bewegen. Etwas lief auf ihn zu. Noah trat einen Schritt zurück und stieß gegen den Briefkasten. Beim Klappern des Blechgehäuses fuhr er vor Schreck zusammen.

«Keine Panik», beruhigte er sich selbst. «So was hast du doch erwartet.»

Doch er war nicht sicher, was er eigentlich erwartet hatte. Er hatte keine Ahnung, was da draußen war. Tank schien auf ihrer Seite zu sein, als er mit den Scouts gesprochen hatte, aber woher sollte er wissen, ob Tank ihn nicht belogen hatte? Vielleicht war Tank ja eigentlich Charlie Reds bester Freund. Vielleicht wollten die beiden Zoowärter Noah bloß loswerden und das «Megan-Problem» geheim halten.

Das Geräusch wurde lauter, und Noah begann allmählich, die Gestalt auf der Straße zu erkennen. Was auch immer es für eine Kreatur war, sie lief auf vier Beinen. Noah wusste nicht, was er tun sollte. Noch nie in seinem Leben war er so verwirrt gewesen.

«Es muss ein Hund sein», sagte er hoffnungsvoll.

Doch er wusste es besser. Was da auf ihn zukam, war kein Hund.

Es war etwas, das aus dem Zoo ausgebrochen war. Etwas, das Tanks Befehlen folgte und Noah um diese Zeit treffen sollte. Etwas, das entweder Freund oder Feind war – genau wie Tank.

Noahs Magen drehte sich um. Vielleicht hatte man seine Schwester genauso entführt. Vielleicht hatten sie sie hereingelegt.

«Lauf, Noah!», befahl er sich selbst. «Lauf sofort zurück ins Haus.»

Doch er konnte sich nicht rühren, und er wollte sich auch nicht verstecken – nicht bei so vielen unbeantworteten Fragen. Nicht, solange Megan weg war! Ihm war übel. Er fühlte sich betrogen.

Und mitten in der Kälte und der Dunkelheit schloss er die Augen und gestattete dem Tier, ihn zu packen.