32. Kapitel Die Stadt der Artenvielfalt Einwohnerzahl: steigend

Ella und Richie standen mit offenem Mund da. Sie hatten eine Stadt betreten, die ganz offenbar aus Hunderten von Phantasien erbaut worden war. Sie lag in der Mitte eines dichten Waldes. Gebäude und Bäume teilten sich zu gleichen Teilen die Straßen und standen nur Zentimeter voneinander entfernt. Hin und wieder wuchsen die Bäume sogar in den Häusern, und ihre Zweige schoben sich durch Wände und Fenster, sodass die Gebäude wie große Baumhäuser wirkten. Wohin die Scouts auch sahen, schienen Stadt und Wald aufeinander angewiesen zu sein, als könnte die eine nicht ohne den anderen leben.

Jedes Gebäude hatte eine andere Größe, Form und Art. Manche waren aus Stahl und Eisen, andere aus Marmor und Stein und wieder andere aus Glas. Gepflasterte Fußwege verliefen in alle Richtungen, führten zu Haustüren, verschwanden in geheimnisvollen Gassen oder durchkreuzten blühende Flächen. Die Baumkronen fungierten als Hausdächer, Bambusrohre als Regenrinnen und Zweige als Straßenschilder. Alles zusammen bildete eine seltsame und erstaunliche Einheit aus Wald und Stadt.

Wasser strömte durch den Ort. Bäche flossen in der Mitte der Fußwege. Wasserfälle stürzten hohe Glasgebäude herunter und platschten in darunterliegende Brunnen. Wolken aus feindunstigem Nebel waberten über den Straßen.

Und neben alldem beherbergte die Stadt noch etwas Erstaunlicheres: Tausende von Tieren. Sie waren überall und bewegten sich in alle Richtungen. Zebras, Tiger, Kamele, Pandas, Nilpferde – alle nur erdenklichen Tiere. Ella sah eine Giraffenfamilie, die eine Straße entlangspazierte und die Köpfe senkte, um den Stromleitungen auszuweichen. Dann sah sie eine Gruppe von Bären: Sie hielten an einer Kreuzung, um drei langsame Schildkröten vorbeizulassen. Ella sah nach oben und erblickte Hunderte von Eichhörnchen, die durch die Bäume und über die Hausdächer sprangen.

Die Stadt beherbergte aber auch Menschen. Sie schienen alle ihren normalen Alltagstätigkeiten nachzugehen. Einige standen vor Geschäften und lasen Plakate. Andere saßen auf Balkonen, unterhielten sich und tranken aus bunten Bechern. Einige gingen auf den Fußwegen entlang, trugen Blumen und Taschen und Bücher und Babys. Andere ritten auf Tieren. Eine Frau wurde von einem Löwen getragen, ein Mann saß auf einem Strauß, und eine gesamte Familie hatte es sich auf einem Elefanten gemütlich gemacht. Als die Reiter an ihnen vorbeikamen, wirkten sie so gleichmütig wie Autofahrer.

«Richie», sagte Ella, «wo sind wir hier?»

Hoch über ihnen befand sich ein kompliziertes Gebilde aus gläsernen Tunneln. Sie schlängelten sich durch die Gebäude und Bäume, manche eng, andere breit. Alle waren mit frischem Wasser und verschiedensten Meerestieren gefüllt – Fische, Krebse und Schildkröten. Die Tunnel brachten diese Wassertiere durch die Straßen und von einem Ort zum anderen. Ella sah einen Regenbogenfisch durch eine Öffnung in einen anderen Tunnel springen und dann in einen Brunnen platschen.

Vor manchen Türen hing ein Samtvorhang. Sie sahen aus wie der Vorhang, durch den die Scouts gerade gekommen waren, doch jeder besaß eine andere Farbe. Neben jedem Vorhang befand sich ein Schild. Ella konnte einige lesen. Sie bezeichneten verschiedene Sektoren, was auch immer das sein sollte: SEKTOR 38, SEKTOR 32, SEKTOR 28, SEKTOR 5, SEKTOR 47 … Eine Gruppe von Alligatoren schob sich aus dem Vorhang neben einem Schild, auf dem SEKTOR 14 stand, und gesellte sich zu der Herde von Tieren auf der Straße.

Richie murmelte vor sich hin, stotterte und machte Geräusche wie «Was –? W-w-was? Äh … was?» Er klang wie ein erschöpftes Mofa.

Vier Elefanten stampften vorbei. Sie ließen die Erde so heftig beben, dass die Kinder in die Luft geschleudert wurden. Richies Schuhe funkelten im Sonnenlicht und zogen die Aufmerksamkeit zweier Ameisenbären auf sich, die herbeiliefen und an seinen Zehen schnüffelten. Mit ihren langen, röhrenförmigen Schnauzen stießen sie gegen seine Füße.

«Hey!», rief Richie.

Er sprang zur Seite, doch ihre Zungen schossen heraus und schnappten nach seinen Fersen. Als sie jedoch feststellten, dass Richies Schuhe nicht essbar waren, gaben sie auf und spazierten davon, wobei sie ihre Schnauzen wie Staubsauger über die Straße führten, um Insekten aufzusaugen.

Einen Augenblick später drängten weitere Mitglieder von Richies Präriehunde-Fanclub durch den Vorhang und umringten ihn. Sie stellten sich auf die Hinterbeine und ließen die Vorderbeine vor ihren plumpen Bäuchen baumeln.

Ella sah auf sie hinab. «Habt ihr Erdmännchen nicht ein paar Löcher zu graben?», fragte sie.

Ein paar der Tiere bellten beleidigt. Ella wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Stadt zu. Über den Baumkronen leuchtete der blaue Himmel – er war so makellos blau, dass er beinahe künstlich wirkte. Vielleicht war er das sogar, dachte Ella. Vielleicht war es gar nicht der Himmel – zumindest nicht der Himmel, den sie kannte.

Die Luft schwirrte von Vögeln. Einige kleinere und bunte schlugen fieberhaft mit den Flügeln. Andere große und graue segelten auf ihren weiten Schwingen. Sie tauchten hinab auf die Straßen, stiegen wieder in den Himmel auf und bewegten sich dabei so elegant wie Tänzer. Affen landeten auf Fensterbrettern und sprangen wieder zurück in den Wald, saßen auf Balkonen und Vordächern oder ritten auf den Rücken von Elefanten und Nashörnern.

Von einem Baum hing ein Schild:

Stadt der Artenvielfalt

Einwohnerzahl: steigend

«Ich glaube, hier ist es», sagte Ella. «Wir haben es geschafft!»

«Ja.» Richie schob sich die Brille hoch. «Aber wohin haben wir es geschafft?»

Ella zuckte die Schultern. «Ich weiß nur, dass Megan hier ist. Und Noah auch. Wenn wir –» Plötzlich riss sie den Arm hoch und deutete über die Straße. «Hey! Kennen wir den Typ da nicht?»

Ein schlaksiger Mann kam den Fußweg entlang. Er hatte rote Haare und eine Menge hässlicher Sommersprossen im Gesicht.

«Das ist doch Charlie Red!», sagte Richie. «Der Typ aus dem Haus der Kriechtiere!»

«Wir müssen uns verstecken!», rief Ella.

Sie liefen hinter einen Baumstamm und spähten hervor.

«Oje», stöhnte Ella. «Ich wusste, dass wir dem noch mal begegnen würden.»

Charlie Red warf einen Blick auf seine Uhr und schien plötzlich wütend zu werden, als wäre ihm gerade etwas Wichtiges eingefallen. Er sprang über eine Reihe Kaninchen und schlängelte sich durch eine Gruppe von Pfauen – bunt gemischte Hindernisse auf seinem Weg. Dann verschwand er hinter einem rosa Vorhang, der unter einem Holzschild mit der Aufschrift SEKTOR 17 hing.

Als die beiden Scouts hinter dem Baum hervortraten, schwang sich ein Gorilla von einem Ast über ihnen und landete vor Richie und Ella, dass die Erde bebte. Sein Körper war riesig, muskulös und war mit glänzend schwarzem Fell bedeckt. Er beäugte die Kinder, schob seinen Kopf vor und zurück, hob die großen, haarigen Arme und grunzte fünfmal kurz hintereinander. Dann trommelte er sich mit den Fäusten gegen die Brust. Schließlich ließ er die Arme fallen und kam mit schwingenden Schultern und schlurfenden Füßen direkt auf Richie zu.

«Ähm … Ella?», machte Richie.

«Keine Angst. Er wird dir nichts tun.»

«Du hast leicht reden – ich bin ja derjenige, auf den er es abgesehen hat.»

Der Gorilla baute sich dicht vor Richie auf und beugte sich vor, sodass die Haare auf Richies Stirn von seinem Atem zurückgeweht wurden. Der Geruch wehte auch zu Ella herüber. Es roch nach verfaulten Bananen.

«Hey, Richie», witzelte Ella. «Endlich hat mal jemand noch schlimmeren Mundgeruch als du.»

Der Gorilla schnaubte und rümpfte seine flache Nase. Er öffnete den Mund und bleckte stolz die gelben Zähne.

Richie wich einen Schritt zurück, wobei seine Schuhe im Sonnenlicht funkelten. Auch der Gorilla sah das Glitzern. Er hockte sich hin und starrte wie gebannt auf die glänzenden Turnschuhe. Dann tippte er mit seinem Zeigefinger dagegen und zuckte zusammen. Besorgt blickte er von Richies Gesicht wieder auf seine Schuhe. Plötzlich machte er einen Satz, packte den Jungen um die Taille und warf ihn sich über die Schulter. Laut grunzend zog er ihm die Schuhe von den Füßen, ließ Richie dann einfach zu Boden fallen und stürmte davon. Die glitzernden Schuhe in der Hand, drängte er sich durch eine Straußenfamilie.

Richie setzte sich auf und sah sich verwirrt um. Sein Gesicht war ganz blass geworden.

«Was ist passiert?», murmelte er. Er streckte die Beine aus und wackelte mit den Zehen. «Meine Schuhe!»

Ella kicherte. «Ich habe ja schon von Handtaschenräubern gehört, aber noch nie von Schuhräubern.»

Die Präriehunde umringten Richie und stellten sich auf die Hinterbeine. Sie blickten verwirrt von seinem Gesicht zu seinen Füßen.

«Tut mir leid, Leute», sagte Richie und kramte in seinem Rucksack nach den anderen Schuhen. «Man hat mich beraubt.»

Die meisten Präriehunde drehten sich um und marschierten enttäuscht zu Sektor 62 hinüber. Die wenigen, die blieben, beschnüffelten Richies Füße.

«Vorsichtig, ihr Erdmännchen!», warnte Ella und kniff sich zur Verdeutlichung in die Nase.

«Ich kann es nicht glauben – ich wurde von einem Gorilla bestohlen», jammerte Richie, während er sich die Stiefel zuschnürte. «Das macht doch gar keinen –»

«Da sind sie!», rief eine Stimme.

Vor dem Vorhang von Sektor 17 stand Charlie Red und deutete mit zitterndem Finger auf die Scouts. Er hob ein Walkie-Talkie an seine dicken Lippen und schrie: «Alarmstufe rot vor Sektor 17! Eine Sicherheitslücke in der Stadt vor dem siebzehnten Sektor! Alle verfügbaren Polizeiaffen sofort kommen!»

Sofort schossen Dutzende von Affen aus dem dunklen Gang hinter Sektor 17. Einige galoppierten über die Straße, während andere von Baum zu Baum sprangen. Anders als die Affen, denen die Scouts zuvor begegnet waren, wirkten diese bösartig – beinahe tödlich. Sie rissen die Mäuler auf und fletschten ihre Zähne, als wären es Messer. Ihre Augen waren hart. Sie heulten und schrien: «Uh! Uh! Uh!»

«Richie, LAUF!», schrie Ella.

Richie sprang auf die Beine, und die Scouts rasten die Straße hinunter.

Charlie Red brüllte weiter in sein Walkie-Talkie und verlangte nach Verstärkung. «Ich wiederhole: Wir haben eine Sicherheitslücke nahe Sektor eins sieben. Alle verfügbaren Einheiten sofort hierher!»

Beim Laufen sah Ella aus den Augenwinkeln einen Eisbären. Auf seinem Rücken saßen ein Pinguin und ein seltsam aussehender Junge in roter Schneehose und einer roten Mütze. Einen Augenblick lang dachte sie, der Junge käme ihr bekannt vor.