Vorspiel Ein Geheimnis wird entdeckt

18. Juli

Megan rannte durch den Garten zum Baumhaus. Der Wind zerrte an ihrem Schlafanzug, und das harte Gras pikste in ihre nackten Füße. Am Baum angekommen, griff sie nach der Strickleiter und sah nach oben. Nur schwach konnte sie die Bretter des Baumhauses erkennen und darüber den Mond und die Sterne. Irgendwo da oben hatte sie ihre Brille vergessen – zumindest hoffte sie das.

Sie erklomm die lange Leiter und zog sich schließlich ins Baumhaus. Ein Mondstrahl lenkte ihren Blick auf eine Ecke, und tatsächlich – dort lag ihre Brille wie ein großes, zusammengefaltetes Insekt. Sie hob sie auf und setzte sie sich auf die Nase.

«Oh, danke! Danke, danke, danke!», seufzte sie.

Ein plötzliches Geräusch drang durch die Bäume. Es war ein schwaches Knacken, wie splitterndes, trockenes Holz, und es kam ganz aus der Nähe – vielleicht nur zwei oder drei Häuser weit entfernt. Megan stand ganz still da und lauschte. Einen Augenblick später hörte sie das Geräusch noch einmal, doch diesmal klang es lauter – krrrrrraaaackk! Kurz darauf hörte sie ein Grunzen, als hätte sich jemand wehgetan. Megan lief zum Rand des Baumhauses und spähte in die Nachbargärten hinab. Nichts.

Die dunkle Landschaft war ihr unheimlich. Darum pfiff sie und rief nach dem Hund der Nachbarn.

«Flecki? Bist du das? Bist du –?»

Wieder dieses Geräusch. Krrraaaackkk! Danach ein Aufschlag und wieder ein Grunzen.

Megan und ihre Freunde bewahrten in ihrem Baumhaus ein Fernglas auf. Megan fand es und hielt es sich vor die Nase. So vergrößert, wirkte die Nachbarschaft noch dunkler als zuvor, und die Häuser schienen zu beben – bis sie merkte, dass es ihre Hände waren, die zitterten.

«Der Zoo!», flüsterte sie.

Sie lief zur gegenüberliegenden Seite des Baumhauses. Das Einzige, was ihre Gärten vom Städtischen Zoo trennte, war eine lange Betonmauer. Aus ihrem Baumhaus hatte Megan jedoch einen guten Blick über diese Mauer. Tagsüber konnte sie den Giraffen, Bären, Seehunden und Nilpferden beim Laufen, Schwimmen und Faulenzen zusehen. Sie hielt das Fernglas ruhig und starrte in den nächtlichen Zoo hinein. Straßenlaternen erhellten die Wege, doch die Gehege selbst lagen in völliger Dunkelheit.

Wieder hörte Megan das krachende Geräusch, und jetzt merkte sie, dass es gar nicht aus Richtung Zoo kam. Noch einmal lief sie zum gegenüberliegenden Fenster und blickte über die Nachbargärten hinweg. Nichts. Nichts als Rasen, Bäume und Hausdächer.

Das Grunzen hallte zwischen den Häusern wider. Megan hielt sich das Fernglas so abrupt vor die Nase, dass es gegen ihre Brillengläser stieß. Mittlerweile war ihr unheimlich – sie hatte richtige Angst!

«Jetzt komm schon, Meg», versuchte sie sich zu beruhigen. «Da ist nichts. Hör auf, dich selbst ver–»

Da war etwas! Irgendetwas spazierte drei Häuser weiter auf dem Spitzdach herum!

«Was ist das?», flüsterte Megan.

Sie richtete das Fernglas und sah fünf Figuren über das Dach krabbeln. Eine sechste kletterte die Zweige einer Eiche hinauf, die neben dem Haus stand, und brach dabei knackend Äste ab. Dann sprang das Wesen von dem zitternden Baum ab, segelte durch die Luft und landete neben den anderen auf dem Dach. Es krabbelte die Dachziegel hinauf und hüpfte auf den Schornstein.

Die anderen fünf Kreaturen waren klein und gebückt. Ihre langen Arme schwangen an den Seiten hin und her, und beim Gehen hoben und senkten sich ihre Schultern wie eine Wippe. Endlich erkannte Megan, um was es sich handelte: Affen! Es schien unmöglich, doch offensichtlich waren Affen aus dem Zoo entkommen und kletterten nun in ihrer Nachbarschaft auf den Dächern herum.

Einer der Affen sprang vom Rand des Daches ab. Megan konnte seine Silhouette im Mondschein deutlich sehen. Scheppernd trafen seine Füße auf die Regenrinne am gegenüberliegenden Dach, dann folgten die anderen Affen. Mühelos überwanden sie die Entfernung zwischen den Häusern.

«Nein», sagte Megan ungläubig. «Das gibt’s doch nicht.»

Die Affen sprangen auf das nächste Haus, dann weiter zum nächsten und verschwanden schließlich im Dunkeln. Schweigen breitete sich über der Nachbarschaft aus.

«Noah …»

Megan kletterte flugs die Leiter hinab und lief zum Haus zurück. Ihr älterer Bruder würde wissen, was zu tun war.

Sie riss die Tür zu seinem Zimmer auf und schreckte ihn aus dem Schlaf.

«Noah – da draußen!», platzte sie heraus. «Schnell!»

«Was ist?!»

«Komm schnell!»

Sie lief voran durch das Haus, und Noah folgte ihr bis in den Garten und ins Baumhaus hinauf.

«Was willst du –?»

Megan nahm das Fernglas und hielt es ihrem Bruder hin. «Hier!»

«Was heißt ‹hier›?»

«Guck durch!» Sie deutete auf die Hausdächer. «Da drüben – ich habe da gerade Affen gesehen!»

«Megan …»

«Ich habe Affen gesehen! Auf den Hausdächern!»

Ihr älterer Bruder sah sie prüfend an. «Du spinnst doch.»

«Guck doch selbst!»

Noah blickte durch das Fernglas. Lange betrachtete er schweigend die Landschaft. Dann reichte er seiner Schwester das Fernglas zurück und sagte: «Ich hab doch gesagt: Du spinnst.»

«Noah! Ich habe sie gesehen, glaub mir doch, ich –»

Doch er kletterte schon die Strickleiter hinab. «Was machst du überhaupt so spät noch hier draußen?», fragte er. «Du bist so was von erledigt, wenn Mom dich erwischt.» Er landete auf dem Boden und drehte sich zum Haus. «Komm mit rein!»

Megan sah ihm nach, wie er zum Haus zurücklief und die Tür hinter sich schloss. Dann drehte sie sich wieder zu den Dächern um und suchte beinahe eine Stunde lang die Landschaft ab, doch nichts Ungewöhnliches geschah.

«Ich weiß, dass ich sie gesehen habe», sagte sie, wie um sich selbst zu überzeugen.

Schließlich kletterte sie vom Baumhaus herunter, kehrte ins Haus zurück, fiel ins Bett und starrte an die Decke.

Sie konnte nicht schlafen. Um zwei Uhr morgens rollte sie sich schließlich aus dem Bett und setzte sich an ihren Schreibtisch. Nervös trommelte sie mit den Fingern auf der Tischplatte und blickte sich in ihrem Zimmer um. Ihr Blick fiel auf ein Buch, das auf dem Rand des Schreibtisches lag. Es war ein Tagebuch. Ihre Mutter hatte es ihr vor kurzem geschenkt, und sie hatte bisher noch nichts hineingeschrieben.

Megan nahm es und schlug die erste Seite auf. Sie musste den Einband herunterdrücken, damit es flach lag, so neu war er noch. Sie starrte auf die erste Seite. Sie war ziemlich bunt – rotes Papier mit lila Linien und blauen Sternen in den Ecken.

In der Schule hatten sie etwas über Brainstorming gelernt. Dabei sollte man so schnell wie möglich seine eigenen Ideen aufschreiben. Ihr Lehrer hatte gesagt, auf diese Weise könnte man Sachverhalte verstehen, die auf den ersten Blick keinen Sinn ergaben. Megan griff nach einem Bleistift, kauten einen Moment lang auf dem Radiergummi am Ende herum und begann zu schreiben:

Datum: 18. Juli

Zeit: 2:15 Uhr

Ich bin rausgegangen, weil ich mal wieder meine dumme Brille im Baumhaus vergessen hatte. Als ich raufkletterte …

***

Sie schrieb eine Stunde lang. Dann klappte sie das Tagebuch zu, legte es weg, schaltete das Licht aus und kletterte wieder ins Bett. Einen Moment später war sie eingeschlafen, ohne zu wissen, dass sie gerade die ersten Seiten eines Tagebuchs vollgeschrieben hatte, das schon bald die Welt verändern sollte.