52. Kapitel Die Höhle

Der Yeti kroch vorwärts. Seine langen, filzigen Haarbüschel hingen von seinen Armen und Knien, und sein affenartiges Grunzen hallte von den Höhlenwänden wider. Als Noahs Augen sich an die neue Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er die Klauen der Kreatur erkennen. Sie waren lang und dick und sahen irgendwie entzündet aus. Noah wich zurück und dachte fieberhaft darüber nach, was er jetzt tun sollte. Der einzige Ausweg schien dort zu sein, wo sie hereingekommen waren.

Jemand klopfte ihm auf den Rücken. Er schrie erschrocken auf, denn er war sicher, dass es sich um die Klauen eines weiteren Yetis handelte. Doch es war nur Podgy. Gemeinsam zogen die beiden sich langsam immer weiter in die Höhle zurück, um mehr Abstand zwischen sich und dem Yeti zu legen.

Noah konzentrierte sich auf die Fahne in der Hand des Yetis. Sie trug die Buchstaben A und S. Ohne Zweifel war das Megans Notflagge.

Plötzlich ließ sich eine leise Stimme aus dem hinteren Teil der Höhle vernehmen. «Noah? Noah, bist du das?»

Jemand stand im Schatten.

«Megan?»

«Ja, ich bin es!»

Sie fielen sich in die Arme. Noah wurde vor Erleichterung ganz schwindelig, und er fürchtete schon, dass er zusammenbrechen würde. Er sah seine Schwester an und konnte ihr Gesicht nur mit Mühe in der Dunkelheit erkennen. Sie sah dünn und erschöpft aus. Irgendwie hatte sie es geschafft, ihre Brille auf der Nase zu behalten, und ihre Zöpfe waren zerdrückt und schmutzig.

«Ich habe alles gesehen», sagte Megan. «Wie die Mauer fiel. Wie die Tiere reinkamen. Und irgendwie wusste ich, dass du es warst. Ich hatte meine Fahne, und ich habe sie geschwenkt, aber dieses ekelhafte Ding hat mich dabei gesehen. Es hat mir meine Fahne weggenommen und dich hergelockt – dich und …» Megan sah zu Podgy hinüber und zögerte. «Ist dieser Pinguin da gerade geflogen?»

«Ja.»

«Wann hat er das denn gelernt?»

«Vor ungefähr zwei Minuten.»

«Was?»

«Das ist jetzt egal. Wir müssen hier raus.»

Der Yeti kam wankend näher. Er ging auf allen vieren, damit sein Kopf nicht gegen die Höhlendecke schlug. Das hässliche Biest ließ die Fahne fallen und trat darauf.

«Was jetzt, Podgy?», fragte Noah.

Podgy blickte seinen Freund an, nickte ihm zu und stürmte auf einmal voran – direkt auf den Yeti zu. Als er ihn erreicht hatte, duckte Podgy sich und schoss durch seine Beine hindurch. Der Yeti schlug nach dem Pinguin, verlor das Gleichgewicht und fiel beinahe hin. Podgy wirbelte herum und schoss erneut durch seine haarigen Beine. Wieder schlug der Yeti nach ihm und verfehlte ihn. Wütend hob er den Kopf und stieß ein affenartiges Gebrüll aus, das an den Höhlenwänden widerhallte.

«Will dein Freund unbedingt, dass wir alle getötet werden?», fragte Megan.

«Er versucht uns zu retten», sagte Noah.

«Wie denn?»

«Indem er den Yeti ablenkt. Und ihn aus dem Gleichgewicht bringt.»

«Wozu?»

Noah drehte sich lächelnd zu Megan um. «Möchtest du mal auf einem Pinguin reiten?»

«Wie bitte?»

«Ich glaube, er will uns beide tragen. Gleichzeitig.»

«Kann er das denn?»

«Das werden wir gleich herausfinden.»

Podgy watschelte auf Noah und Megan zu, lief im Kreis um sie herum und griff den Yeti wieder an.

«Er ist bereit», sagte Noah. «Und du?»

«Nein!» Angst schwang in ihrer Stimme mit. «Überhaupt nicht.»

Noah kniff seiner Schwester sanft in die Wange. «Ich hätte nie gedacht, dass ich das sagen würde – aber ich habe dich vermisst.»

Dann drehte er sich zu dem Yeti um, holte tief Luft und griff mit einem lauten Kriegsschrei an. «Rrraaaaaahhhh!»

Megan lief kreischend hinter ihm her.

Verwirrt trat der Yeti zurück. Dann fiel ihm offenbar wieder ein, wie groß er war, und er hob seine fleischigen Hände, an denen schreckliche Klauen wuchsen. Podgy duckte sich wieder und tat so, als wollte er wieder zwischen seinen Beinen durchschießen. Diesmal beugte sich der Yeti vor, um ihn zu packen, doch stattdessen sprang der Pinguin ihm über den Kopf. Der Yeti wirbelte herum, verfehlte ihn aber erneut. Podgy hatte das Tier lange genug abgelenkt, dass Megan und Noah an ihm vorbei zum Höhleneingang laufen konnten.

«Lauf, Podgy!», schrie Noah.

Podgy schoss bereits schneller als zuvor auf den Ausgang zu. Der Yeti ließ sich auf alle viere fallen und galoppierte hinter ihm her. Am Höhleneingang wappneten sich die Scouts.

«Ich glaube nicht, dass das funktioniert!», rief Megan.

«Wir haben keine Zeit, es auszuprobieren!», schrie Noah.

Einen Augenblick später schoss Podgy aus der Höhle in den Himmel. Noah sprang auf seinen Rücken und umklammerte seinen Hals. Als er hinter sich nach Megan tastete, fühlte er nichts. Er sah über seine Schulter. Der Yeti hatte Megan an den Knöcheln gepackt und hielt sie über die Klippe. Es hatte sie mitten im Sprung gefangen.

«Podgy!», schrie Noah. «Das Vieh hat meine Schwester!»

Podgy flog in einem großen Bogen zurück und navigierte an der Bergseite entlang. Als er an der Höhle vorbeiflog, schlug er dem Yeti seine Flosse gegen den Kopf. Der Yeti kippte mit wild rudernden Armen nach vorn, ließ Megans Knöchel los, und sie fielen beide über den Rand.

Podgy tauchte so schnell hinab, dass Noah beinahe von seinem Rücken fiel. Der Pinguin flog neben Megan, und gerade im richtigen Augenblick streckte Noah den Arm aus und packte seine Schwester am Handgelenk.

Sie hatten ihre spektakuläre Rettungsaktion beinahe geschafft, doch Megans zusätzliches Gewicht war zu viel für Podgy. Der Pinguin verlor die Kontrolle und krachte in die Krone eines hohen Baumes. Alle drei fielen durch die Äste hindurch, bis sie polternd unten ankamen. Hinter ihnen regneten die abgebrochenen Zweige und Blätter zu Boden.

«Alles okay mit euch?», fragte Megan.

«Ja», sagte Noah. «Podgy, geht es dir gut?»

Podgy stand auf und schüttelte sich wie ein nasser Hund.

Noah blickte sich um. Offenbar waren sie ein außergewöhnlicher Anblick gewesen, denn aus allen Richtungen kamen Yetis angelaufen, kletterten von Bäumen und sprangen über Büsche. Innerhalb von Sekunden waren die Scouts von ihnen umringt. Sie grunzten und schnaubten und sahen so aus, als wollten sie die drei am liebsten in Stücke reißen. Ein Blitz durchteilte den Himmel, und das Gelbe ihrer Augen glühte auf.

Die Viecher machten den Weg für einen einzelnen Yeti frei, der humpelnd näher kam und eine große Beule auf dem Kopf hatte. Es sah aus, als hätte man ihm gerade eine Keule übergezogen – oder eine Pinguinflosse.

«Das ist nicht gut», sagte Noah.

Die Scouts und Podgy drängten sich mit dem Rücken an den Baumstamm.

«Tut mir leid, Megan», sagte Noah. «Ich dachte – ich dachte, ich könnte dich hier rausholen.»

Megan suchte die Landschaft nach einer Fluchtmöglichkeit ab. «Noch ist es nicht vorbei», sagte sie.

«Es gibt keinen Ausweg», sagte Noah. «Wenn nicht ein Wunder geschieht.»

«Ich glaube, da kommt gerade eines.»

Ihr Wunder stürmte hinter dem Yeti auf sie zu: Ella, Richie, Tank, Blizzard, Little Bighorn, Dodie, Marlo, P-Dog und eine Schar anderer Präriehunde. Ella ritt auf Little Bighorn und Richie auf Blizzard. Sie stürmten in die Gruppe von Yetis und schleuderten sie zur Seite. Einige landeten bewusstlos in den Bäumen, wo sie von den Ästen herabbaumelten wie Hosen an der Wäscheleine. Panisch liefen die restlichen Kreaturen davon. Blizzard brüllte. Little Bighorn schnaubte. Die Präriehunde bellten wie verrückt.

«Leute!», rief Noah. «Was macht ihr denn hier?»

«Marlo hat gesehen, wie Podgy durch die Luft geflogen ist», erklärte Tank. «Wir wussten, dass irgendwas los war, als ihr in diese Höhle geflogen seid.»

Megan lief zu Ella und Richie hinüber. «Ich dachte nicht, dass ich euch jemals wiedersehen –»

Tank packte Megan mitten im Lauf und setzte sie hinter Ella auf Little Bighorns Rücken. «Vielleicht sollten wir die Begrüßungen auf später verschieben», strahlte er. «Was meinst du?»

«Gute Idee», sagte Ella. Sie klopfte dem Nashorn in die Seite und rief: «Los, Little Bighorn! Auf nach Hause!»

Noah drehte sich zu Tank um. «Danke für –»

Doch bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, hob Tank ihn am Hosenboden hoch und setzte ihn auf Blizzards Rücken.

«Keine Zeit für Plaudereien, Junge. Mr Darby wird jede Sekunde den Laden zumachen, und du weißt, was das heißt. Ich habe ihn um zehn Minuten Aufschub gebeten.»

«Zehn Minuten?»

«Jetzt sind es schon weniger.»

Noah richtete sich hinter Richie auf und sagte: «Du hast ihn gehört, Blizzard! Lass uns hier abhauen!»

Als Blizzard losrannte, warf Noah einen Blick über seine Schulter. Die Präriehunde flitzten hinter ihnen her, so schnell ihre kurzen Beine sie tragen konnten. In der Luft gesellte sich Podgy zu Dodie und Marlo. Tank war schon auf dem Weg zum Ausgang, als ein Yeti – ein riesiges Vieh, dem an einer Gesichtshälfte die Haare fehlten – ihn von hinten packte. Tank schwang herum und erledigte ihn mit einem einzigen Fausthieb.

«Manche Geschichten», murmelte Noah, «enden mit einem Knall.»

Die Tiere liefen über das Dunkle Land zurück zur Stadt der Artenvielfalt. Noah dachte daran, dass er Megan zurück nach Hause bringen würde, und Hunderte von Gefühlen durchströmten ihn. Er war so voller Liebe, Glück und Erleichterung, dass er jubeln musste und die Arme hochriss. Die anderen Scouts grinsten ihn an. Dann jubelten auch sie und stießen die Fäuste in die Luft. Sie wussten, dass nichts auf der Welt ihre Freundschaft trennen konnte – kein verzaubertes Land, keine grässlichen Kreaturen, noch nicht einmal die Zeit. Echte Freundschaft war stärker als alles auf der Welt.

Endlich hatten sie den Ausgang erreicht. In der Sekunde, in der sie hindurch waren, ließen die Elefanten die Felsen fallen. Und sobald die Felsen auf den Boden gefallen waren, sprangen die Affen in Aktion und ließen den Samtvorhang von den Ästen herunter, um das Dunkle Land wieder zu verschließen.

Wieder lag die Stadt der Artenvielfalt sicher unter dem Schutz der Magie, die aus den Fingerspitzen dreier mystischer Brüder aus einem fernen Land geflossen war.