45. Kapitel Operation Mauerfall

Innerhalb der nächsten Stunde machten die Tiere den Bereich vor dem gemauerten Eingang zum Dunklen Land frei. In diese Lichtung trat eine kleine Gruppe von Elefanten, Eisbären und Nashörnern und stellte sich in etwa 60 Metern Entfernung vor dem Vorhang auf. Hinter ihnen tobte die Stadt: Vögel und Affen sprangen über die Baumwipfel, Opossums schwangen sich von Balkonen, und Otter und Pinguine schwammen die Bäche auf und ab. Alle waren aufgeregt.

Die Scouts standen unter einem großen Baum und sahen zu, wie die Operation begann. Eine Gruppe freundlicher Stadtbewohner ging auf und ab und verteilte Snacks. Die Scouts nahmen sie dankbar an – sie hatten einen Riesenhunger. Schnell aßen sie alles, was ihnen angeboten wurde: Äpfel, Bananen, mit Beeren gefüllte Vollkornriegel, Schokolade und frisches, warmes Brot, dick mit Butter beschmiert. Sie tranken große Gläser mit kühlem Wasser und winzige Tassen mit süßem Nektar.

Als sie aufgegessen hatten, stellte Noah fest, dass er überhaupt kein Gefühl mehr dafür hatte, wie spät es war. Es schien, als wären die Scouts schon seit Tagen hier im geheimen Zoo, aber sicher waren es eigentlich nicht mehr als ein paar Stunden. Er fragte Richie, der auf seine Uhr sah. Es war vier Uhr morgens. Noah hatte recht: Kaum vier Stunden waren vergangen, seit sein Abenteuer mit einem Geparden vor seinem Briefkasten begonnen hatte.

Fünf weitere Elefanten traten durch die Menge auf die Lichtung. Jeder zog einen Holzkarren mit großen Felssteinen darauf. Zwei der Nashörner hoben die Karren vorn in die Luft, sodass die Steine zu Boden fielen. Jeder Stein war mindestens zwei Meter groß und in Stahlgewebe eingewickelt. Dutzende von Affen kamen mit Stahlseilen zwischen den Zähnen durch die Bäume geschossen. Dann ließen sie die Seile über die stärksten Äste fallen. Auf dem Boden hoben Männer die Seile auf und befestigten das eine Ende an einem Elefanten und das andere an einem Stein. Als das geschehen war, zogen die Elefanten die Felsen mit Leichtigkeit in die Höhe. Zwei Löwen traten vor und zogen die Vorhänge zur Seite. Im Notfall konnten die Felsen und die Vorhänge das Dunkle Land sofort wieder verschließen. Die Elefanten würden die Felsen so lange bereithalten, bis die Suche nach Megan beendet war.

Noah deutete auf eines der Tiere. «Da ist Blizzard!», rief er, und damit stürzte er auf die Straße. «Kommt, Leute!»

Als die Scouts Blizzard erreicht hatten, rollte der große Eisbär seinen Kopf und ließ sich umarmen. Richie lief zu den Nashörnern am Ende der Reihe und rief: «Ella, guck doch mal, wer hier ist!»

«Little Bighorn!», schrie Ella auf. Sie lief rüber und streichelte den Kopf des Nashorns. «Woher wusste ich nur, dass wir uns nochmal sehen würden?»

«Achtung, bitte alle mal herhören!» Mr Darby stand auf einem Nilpferd von der Größe eines kleinen Autos und sprach in ein Megaphon, um den Lärm zu übertönen. «Dieser Tag hat schon auf uns gewartet. Wir werden gleich in ein großes und vermutlich gefährliches Abenteuer aufbrechen. Und es ist nur passend, dass wir dabei von drei Kindern begleitet werden, die sich die Action Scouts nennen.» Mr Darby blinzelte den Scouts zu. «Wir haben lange darüber diskutiert, wie wir mit dem Megan-Problem umgehen sollen. Heute nun müssen diese Diskussionen beendet sein und Taten folgen!»

Die Scouts jubelten zusammen mit der Menge.

«Lasst uns ohne Angst und Zaudern voranschreiten. Lasst uns ins Dunkle Land marschieren und tun, was wir können, um das Mädchen nach Hause zu bringen.»

Die Tiere knurrten und traten von einem Bein aufs andere. Vögel stoben aus den Bäumen auf und segelten durch die Luft. Menschen riefen. Die Luft war angefüllt von Spannung.

Mr Darby deutete auf das Dunkle Land und wandte sich an die Gruppe von Tieren, die ganz vorn stand. Er hob das Megaphon dicht vor den Mund und rief: «Lasst uns die Mauer einreißen!»

Die großen Tiere schnaubten. Dann liefen sie gemeinsam und mit erschreckender Kraft auf die Mauer zu. Ihre Schritte dröhnten und hallten von den Gebäuden wider. Die Scouts rannten zu Mr Darby hinüber, der immer noch auf dem Rücken des Nilpferdes stand. Noah fand, er ähnelte einem alten Soldaten, der seine Truppen aus einem Panzer heraus befehligte.

«Mr Darby!», rief Ella.

«Ja?», sagte der alte Mann, ohne den Blick von den Tieren zu wenden.

«Sie ist doch dadrin, oder? Ich meine, wir werden Megan doch finden.»

«Ich weiß es nicht, Ella», antwortete er. «Wir können nur unser Bestes versuchen.»

Die erste Reihe der Tiere begann zu galoppieren. Der Erdboden erzitterte. Ein Elefant überrannte einfach einen Baum, der ihm im Weg stand. Ein Nashorn plättete einen Briefkasten, als wäre er eine Blechdose. Ihre Schritte klangen wie Donnergrollen und vertrieben die Vögel aus den Bäumen.

Dann senkten die mächtigen Tiere die Köpfe und bereiteten sich darauf vor, die Mauer zu rammen.

«Gleich ist es so weit», sagte Ella.

«Ich kann es nicht mit ansehen!», gestand Richie und zog sich die Mütze über die Augen.

Noah setzte seinen Fuß auf den Rand des offen stehenden Nilpferdmauls, als wäre es eine Leitersprosse, und kletterte zu Mr Darby hinauf. Er nahm sich das Megaphon und rief: «Los, Blizzard!»

Als Blizzard Noahs Stimme hörte, sprang er noch schneller voran. Kurz bevor er die Mauer rammte, drehte er den Körper, um seinen Kopf zu schützen, krachte gegen die Steine und riss ein großes Loch in sie, durch das er hindurchsprang. Auch die anderen Tiere stürzten gegen die Mauer, und was noch von ihr übrig war, fiel von allein in sich zusammen. Die Steine flogen in alle Richtungen, schlugen gegen die Gebäude und zerschmetterten Fenster. Staub machte sich in der Luft breit, als wäre eine Bombe explodiert.

Mr Darby holte sich das Megaphon zurück und rief: «Und jetzt alle marsch!»

Die anderen Tiere preschten vor: Affen neben Pferden, Giraffen neben Geparden, Krokodile neben Tigern. Tausende von Tieren polterten die Straße hinunter.

Mr Darby wandte sich an die Scouts: «Nun? Seid ihr bereit, uns zu zeigen, warum man euch die Action Scouts nennt?»

Ella streckte die Hand aus und zog Richie die Mütze vom Gesicht.

«Du willst doch wohl gern sehen, wohin du gehst.»

«Was?», fragte Richie und blickte sich nervös um. «Was ist passiert?»

Noah sprang vom Nilpferd herunter und lief hinter den Tieren her. Ella folgte ihm und schließlich auch Richie.

Die Scouts holten die Tiere ein und fanden sich zwischen Hunderten von weißen Kaninchen wieder. Umgeben von einer Wolke von Staub, liefen sie durch die offene Mauer und hinein in die unbekannten Gefahren des Dunklen Landes.