8. Kapitel Das Haus der Kriechtiere

Am nächsten Tag liefen die drei Scouts gleich nach der Schule über den Walkers Boulevard zum Zoo. Sie hasteten zum hinteren Teil der Anlage, wobei sie über Bänke sprangen und die Abkürzung zwischen Gebäuden nahmen, bis sie das Haus der Kriechtiere erreicht hatten. Hier befanden sich über dreihundert Terrarien und Aquarien in verschiedenen Größen und Formen. In jedem wohnten Tiere, die entweder schleimig oder schuppig oder haarig oder in irgendeiner anderen Weise unheimlich waren – so wie Schnecken, Echsen, Spinnen, Fische und sogar riesengroße Kakerlaken.

Das Haus der Kriechtiere hatte eine seltsame Form, denn in seinem Inneren schienen die Gänge wahllos im Zickzack zu verlaufen. In jeder Wand waren Terrarien oder Aquarien eingelassen, und es wirkte, als bestünde das ganze Haus aus riesigen Glasbausteinen. Die Wände zwischen den Behältern waren mit künstlichem Schleim, Spinnweben und Kokons bezogen, während Schlingpflanzen aus Plastik von der Decke hingen.

Kinder liefen an den Gefäßen entlang, blieben davor stehen, um hineinzuspähen und ihre Fingerabdrücke am Glas zu hinterlassen. Ihre Eltern schlenderten hinter ihnen her und trugen ihre Jacken. Die Geräusche hallten von den harten Glaswänden wider wie in einer Höhle.

Die Scouts fanden einen Platz auf einer Bank. Das Terrarium ihnen gegenüber war voller winziger rosa Frösche, die auf Zweigen und moosigen Steinen hockten wie Farbkleckse auf einer grünen Leinwand.

«Okay, Noah», sagte Richie. «Zeig uns noch mal den Zettel von Blizzard.»

Noah zog das zerknitterte Blatt aus seiner Tasche und glättete es auf seinem Knie. Dann las er laut vor.

und ich kann es selbst kaum glauben – obwohl ich es mit eigenen Augen gesehen habe. Als ob mein Verstand nicht wahrhaben will, was ich sehe. Ergibt das einen Sinn? Wenn ich es aufschreibe, tut es das, und das ist wohl alles, was zählt. Aber ich wünschte, ich könnte all das besser beschreiben. Ich wünschte, ich hätte Richies Verstand.

«Endlich», sagte Richie und tippte mit dem Finger auf die Seite. «Endlich mal jemand, der mich als Genie erkennt.»

«Sei still, Richie», sagte Ella. «Das hier ist wichtig.»

Noah drehte den Zettel um.

Aber damit werde ich mich später beschäftigen. Wichtiger ist, was ich heute im Haus der Kriechtiere gesehen habe. Es gibt eine Ausstellung mit dem Namen «Kammer des Lichts». Sie liegt am Ende eines langen Ganges. Es ist nur ein dunkler Raum von der Größe eines Wandschranks. Darin steht ein großes Aquarium mit winzigen Fischen. Die Fische heißen Laternenträger, und sie blinken wie Glühwürmchen. Heute habe ich gesehen, wie jemand

Hier war die Seite zu Ende. Noah stopfte den Zettel wieder in seine Tasche.

«Also», sagte er, «was haltet ihr davon?»

«Offenbar gibt es irgendetwas Wichtiges in diesem Haus zu sehen», sagte Ella.

«Aber was?», fragte Richie.

«Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden», sagte Noah und stand auf.

Er hatte gerade erst einen Schritt in Richtung Gang gemacht, als er plötzlich stehen blieb und seine Augen an dem Terrarium mit den rosa Fröschen hängenblieben.

«Leute, guckt doch mal!», sagte er.

Die Frösche hatten sich alle Seite an Seite vorn am Terrarium aufgestellt. Nur einige wenige hockten noch auf ihren Zweigen, doch selbst sie blickten die Scouts direkt an.

Ella hielt erstaunt die Luft an und schlich langsam zum Fenster. Noah und Richie folgten ihr, und beide spähten ihr über die Schulter. Die Frösche begannen zu hopsen. Sie sprangen von ihren Hinterbeinen ab und rutschten dann an der Terrariumwand hinunter, wobei sie ihre hellrosa Unterbäuche und ihre dünnen Beine präsentierten. Ihre weißen Augen leuchteten wie Weihnachtskugeln und waren fest auf die Scouts geheftet.

«Das glaube ich einfach nicht», sagte Noah. Doch tief im Innersten glaubte er es doch. Nach allem, was er schon erlebt hatte, hätte er es eigentlich sogar erwarten müssen.

«Sie sehen uns an», sagte Richie.

«Nein», sagte Ella. «Sie erkennen uns.»

Ella hatte recht. Die Tiere – von Marlo über Mr Tall Tail bis hin zu Blizzard und nun den rosa Fröschen – kannten Noah, Ella und Richie. Noah verstand zwar nicht, wie oder warum, doch er war sicher, dass es etwas mit Megan zu tun hatte.

Ella streckte die Hand aus und berührte das Glas. Die Frösche sprangen ihrer Hand entgegen. Sie schienen von Ella angezogen zu werden wie Eisen von einem Magneten. Ella fuhr mit den Fingerspitzen über das Glas, und die Frösche hüpften hinterher, kletterten, rollten und sprangen übereinander.

«Das kann nicht sein», sagte Noah.

Die Szene erinnerte ihn an eine Plasma-Lampe – eine durchsichtige Glaskugel, in der kleine Blitze zu sehen waren, wenn man ihre Oberfläche mit den Fingern berührte. Ella schien die Frösche zu kontrollieren, wie man auch diese winzigen Blitze kontrollieren konnte.

Plötzlich nahm sie die Hand vom Glas und wich einen Schritt zurück.

«Was ist?», fragte Richie.

«Wir sollten nicht so viel Aufmerksamkeit auf uns lenken», warnte Ella.

«Du hast recht», sagte Noah. «Wir brauchen wirklich keine Aufmerksamkeit – besonders nicht von diesen unheimlichen Zoowärtern.»

Richie nickte, und sie gingen tiefer in das Gebäude hinein. Ein paar Minuten später deutete Ella auf das Ende des Ganges. Auf beiden Seiten des Weges waren zahlreiche Aquarien in die Wand eingelassen.

«Da!», sagte sie. «Dahinten ist die Kammer des Lichts.»

Richie und Noah nickten, sie kannten den Raum von vorherigen Besuchen. Sie gingen etwa ein Drittel des Flurs hinunter, dann blieben sie auf einmal stehen. Ihre Augen traten hervor. Richies Lippe zitterte: Alle Tiere starrten sie durch ihre Glasscheiben an. Schlangen glitten in ihren Terrarien nach vorn und schlugen mit ihren zuckenden Zungen durch die Luft. Baumfrösche balancierten auf Zweigen und fixierten die Kinder mit ihren kugelförmigen Augen. Fische schwammen an den Scheiben hin und her und starrten mit je einem Auge hinaus. Echsen lehnten sich gegen die Gläser und betrachteten die Scouts.

«Kommt», sagte Noah, «beachtet sie gar nicht. Geht einfach weiter.»

Sie eilten den Gang entlang. Auch ohne nach den Tieren zu sehen, wusste Noah, dass Hunderte von Augen ihnen hinterhersahen. Er konnte sie spüren.

Sie erreichten die Kammer des Lichts. Ein schwarzer Samtvorhang mit goldenen Ringen hing vor dem Eingang.

«Dann lasst uns mal nachsehen», sagte Noah.

Ella holte tief Luft, und Richie schüttelte seine Anspannung ab. Zusammen schoben die Scouts den Vorhang beiseite und betraten den kleinen Raum. In der Wand gegenüber war ein Aquarium eingelassen. Der Raum war klein – vielleicht so groß wie ein größerer Wandschrank. Richie schloss den Vorhang hinter ihnen, und der Raum wurde wieder dunkel. Die Laternenträger begannen zu blinken, und Noah fühlte sich an einen Nachthimmel voller Sterne erinnert. Er versuchte, näher heranzugehen, bis er merkte, wie vollkommen dunkel es in diesem Zimmer war.

«Richie», sagte er, «mach mal den Vorhang auf.»

Richie schlug den Vorhang zurück, und die Dunkelheit zog sich in einen langen Schatten auf die andere Seite des Raumes zurück.

«Seht euch um», sagte Noah, «ob ihr irgendeinen Hinweis findet.»

Die Wände und die Decke waren mit schwarzem Samtstoff verhängt. Abgesehen davon war der Raum schlicht, und auch am Aquarium gab es nichts Ungewöhnliches zu sehen.

«Ich sehe nichts», sagte Ella.

Noah strich mit den Händen über die Wände. «Irgendwas hat Megans Aufmerksamkeit erregt», sagte er.

«Aber was?», fragte Richie. «Hier ist doch nichts außer den Fischen.»

«Wartet mal», sagte Ella. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich mehrfach, während sie sich durch ihre Gedanken wühlte. «Ich frage mich, ob wir vielleicht an der falschen Stelle suchen.»

«Was?», fragte Noah. «Megan hat doch ausdrücklich gesagt –»

«Vielleicht hat sie das, was sie meinte, von der anderen Seite aus gesehen», erklärte Ella.

Noah und Richie schwiegen, während sie versuchten zu verstehen, was Ella meinte.

«Kommt», sagte Ella, «folgt mir.»

Und genau das taten Noah und Richie.