40. Kapitel Bahnu Lakshman und Mr DeGraff

Magie …», sagte Ella mit leisem, träumerischem Ton, sodass das Wort wie ein Lied klang. Sie sah mit glasigem Blick zur Decke und schien diese Möglichkeit abzuwägen.

Richie war da direkter. «Total … total … total cool!»

Mr Darby ließ sich mit einem Seufzer in seinen Stuhl fallen. Die meisten Kolibris flogen wieder in die Bäume zurück. Neben Noah machte ein grüner Kolibri über einer Blüte halt. Er schwebte in der Luft wie von unsichtbaren Fäden gehalten.

Die tierischen Freunde der Scouts spielten im grünen Unterholz. Blizzard schwenkte den Kopf zwischen riesigen Blumen und vergrub die Schnauze in rosa Blütenblättern. Dutzende von Kolibris hockten auf seinem Rücken. Sie sahen aus wie farbige Beulen auf seinem dicken weißen Fell. Neben Blizzard stand Podgy. Ein Kolibri hockte auf seinem Kopf, und er watschelte herum und versuchte ihn abzuschütteln. Über ihnen schossen Dodie und Marlo durch die Bäume und jagten einem regenbogenfarbenen Schwarm von Kolibris hinterher.

Mr Darby kämmte sich mit den Fingern durch seinen buschigen Bart und setzte dann seine Geschichte fort.

«Mr Jackson wies seine Arbeiter an, etwas anderes anstelle der Käfige zu bauen. Leider fiel niemandem etwas anderes ein, als die Käfige zu vergrößern. Doch das reichte Mr Jackson nicht.

Niemand verstand, was er wollte. Die meisten von ihnen glaubten, dass der arme Mann vollkommen den Verstand verloren hatte. Doch er wollte nicht aufgeben. Er wusste, er konnte etwas tun, er wusste nur noch nicht, was es war. Drei Monate später jedoch fand Mr Jackson endlich, wonach er gesucht hatte.»

Mr Darby griff in seinen roten Mantel und zog ein altes Buch mit Ledereinband heraus. «Dies ist eines von Mr Jacksons Tagebüchern. Normalerweise steht es in der Bibliothek der Geheimen Gesellschaft, aber –»

«Die Geheime Gesellschaft?», unterbrach Noah. «Was ist das?»

«Was das ist? Nun, das sind wir! Tank, ich, Blizzard, Podgy, Dodie, Marlo, sämtliche Kolibris im Haus der Kolibris und viele Menschen und Tiere, die ihr noch kennenlernen werdet.» Mr Darby machte eine Pause. Dann fügte er hinzu: «Vielleicht seid ihr drei ja jetzt auch schon Mitglieder der Geheimen Gesellschaft.»

«Wir?», sagte Richie. «Geheime Gesellschaft?»

«Cooool!», sagte Ella.

«Das Schicksal hat euch erwählt», sagte Mr Darby. Ella wollte etwas sagen, doch Mr Darby hielt die Hand hoch. «Lass mich erst erzählen.»

Der alte Mann schlug sein Buch auf und begann zu lesen: «Ich war allein zu Hause. Als ich das Klopfen hörte …»

Ich war allein zu Hause. Als ich das Klopfen hörte, ging ich zur Haustür und öffnete. Draußen auf der Veranda stand ein blasser junger Mann. Auf den ersten Blick hielt ich ihn tatsächlich für einen Geist – den Geist eines längst Verstorbenen, der seinen Körper nicht mehr brauchte. Ich fürchtete das Schlimmste. Ich fürchtete, dass ich bereits gestorben war und dieses Wesen mich in die nächste Welt bringen sollte.

Nachdem ich mich von meinem Schrecken erholt hatte, fragte ich: «Was wollen Sie?»

Der Mann legte seine Hände zusammen und sagte: «Nur eine Minute Ihrer Zeit.»

Obwohl er mir äußerst seltsam vorkam, konnte ich ihn doch nicht einfach im kalten Regen auf der Veranda stehen lassen. Also bat ich ihn herein.

Ich kochte uns eine Kanne Tee, und wir setzten uns in mein Arbeitszimmer. Nach einiger Zeit sagte der Mann: «Mein Name ist Mr DeGraff», und streckte seine Hand aus. Seine Haut war kränklich gelb, seine Nägel sahen aus wie Klauen. Zögernd schüttelte ich seine Hand.

Mr DeGraff stand auf und ging zu einem der Bücherregale. Er strich mit seinen scheußlichen Fingern über

die Buchrücken und las beim Weitergehen die Titel.

«Lesen Sie gern, Mr DeGraff?», fragte ich.

«Überhaupt nicht», antwortete er, behielt aber den Blick auf die Bücher gerichtet. «Ich hasse Lesen. Worte langweilen mich. Sie sind nur ärmliches Zierwerk. Ich bin ein Mann der Tat.» Dann wechselte er das Thema. «Ich habe erfahren, dass Sie … oh ungefähr einhundertsiebzehn Tiere besitzen und nicht wissen, was Sie mit ihnen anfangen sollen.»

Ich wollte gerade antworten, doch Mr DeGraff war

schneller. «Aber ich weiß es, Mr Jackson! Ich weiß,

was Sie mit ihnen tun können.»

Ungewollt wurde ich neugierig.

«Erklären Sie sich», sagte ich. «Aber beeilen Sie sich, denn diese Unterhaltung wird langsam albern.»

Mr DeGraff ließ sich nicht hetzen. Er ging weiter an den Regalen entlang und zog seinen Zeigefinger über die Buchrücken. Als er weitersprach, sagte er nur: «Ich rede dann, wenn ich bereit bin zu reden.»

Ich spürte, wie ich vor Wut rot wurde. Ich deutete auf die Tür und rief: «Mr DeGraff, Sie dürfen gehen!»

Ungerührt zuckte er die Schultern, glitt zur Tür und sagte: «Bedauerlich – bedauerlich für Sie, meine ich.»

Ich konnte meine Neugierde nicht bezähmen. Also packte ich den seltsamen Mann und sagte: «Sie haben zwei Minuten. Zwei Minuten! Wenn Sie dann immer noch nicht sagen wollen, was Sie zu sagen haben, werde ich Sie nur zu gern wieder in den Sturm hinausjagen!»

Mr DeGraff lächelte ein schwarzes, beinahe zahnloses

Lächeln. Er kam zurück ins Zimmer und sagte: «Ich weiß einen Weg, wie Sie Ihre Tiere wieder zurück in die Wildnis bringen können, ohne … nun … ohne Sie der Wildnis zu überlassen.»

«Und wie soll das gehen?»

«Sie müssen nur den Raum erweitern. Das bedeutet ‹Wildnis› im eigentlichen Sinne – Raum.»

Ich lachte und sagte: «Das ist alles? Das ist Ihr Lösungsvorschlag für mein Problem?»

«Nein», sagte Mr DeGraff. Er schob seine Finger in die Tasche und zog ein zerknittertes Stück Papier heraus. Dann sah er mir tief in die Augen, als versuchte er, mit

Blicken zu sprechen. «Dies …», sagte er, «ist die Lösung für Ihr Problem.»

Ich nahm ihm den Zettel ab und las ihn. Darauf stand ein Name – Bhanu Lakshman – und darunter der Name

einer indischen Stadt.

«Dieser Mann», sagte Mr DeGraff, «wurde unter ungewöhnlichen Umständen geboren, und er kann deshalb ungewöhnliche Dinge erreichen. Manche behaupten, dass er der Magie mächtig ist. Sie sollten ihn treffen.»

«Was? Sie sind doch verrückt!», erklärte ich.

Doch Mr DeGraff hatte unsere Unterhaltung beendet und war bereits auf dem Weg zur Haustür.

«Das ist doch albern!», rief ich. «Sie kommen hierher mit irgendwelchen Geschichten von Magie und –»

Mr DeGraff wickelte seine gelben Finger um den Türknauf und blieb stehen. Ohne sich umzudrehen, sagte er: «Mr Jackson, unsere Zeit ist beendet.» Dann trat der seltsame Mann nach draußen und verschwand in die dunkle Regennacht.

Ich stand in der leeren Eingangshalle und las den Namen noch einmal: Bhanu Lakshman.

«Warten Sie!», rief ich. «Mr DeGraff!»

Ich lief zur Tür und riss sie auf, doch der Mann war verschwunden. Es war, als hätte die Nacht ihn verschluckt – oder die Schatten.

Mr Darby schwieg.

«Und ist Mr Jackson nach Indien gereist?», fragte Ella.

«Ja», antwortete Mr Darby. «Das ist er.»

«Und hat er Bhanu gefunden?»

«Es dauerte eine Weile, doch am Ende fand er Bhanu.»

«Und was geschah dann?»

Mr Darby richtete wieder die Brille auf seiner Nase und las weiter. «Einige Monate später fand ich Bhanu …»

Einige Monate später fand ich Bhanu Lakshman in Nordindien. Er hatte freundliche, dunkle Augen, sauber geschnittene Haare und trug fließende indische Kleidung. Er hielt das Kinn erhoben und die Schultern straff. Ich erklärte ihm, dass ich eine lange Reise unternomen hätte und nur ein wenig seiner Zeit verlangte. Bhanu stimmte zu, und ich erzählte ihm meine Geschichte. Er saß da und lauschte, nahm hin und wieder einen Schluck Tee, sagte aber nichts. Während ich sprach, schien sein Blick mich innerlich zu durchleuchten.

Als ich geendet hatte, fragte er: «Und was, mein Freund, erwarten Sie von mir?»

«Ich bin einen weiten Weg gereist. Jemand – eine Person, die ich nicht kenne – hat mir erzählt, Sie hätten übernatürliche Kräfte … magische Fähigkeiten. Er sagte, sie könnten mir dabei helfen, etwas für die Tiere zu erschaffen.»

Bhanu lächelte. «Mit all Ihrem Geld und Ihren Maschinen können Sie nichts bauen?»

«Nein, das kann ich nicht», sagte ich.

Bhanu sagte: «Indien ist mein Zuhause, mein Freund. Amerika ist weit weg von hier.»

Er schwieg und betrachtete mich lange. Sein Blick war

stechend. Es war, als sähe er etwas in meinen Augen – meine Vergangenheit, meinen Schmerz, meine Hoffnung.

Endlich sagte er: «Vielleicht kann ich etwas tun. Doch auch meinen Talenten sind Grenzen gesetzt. Das sollten Sie wissen, bevor wir beginnen. Sie sollten auch wissen, dass ich meine Brüder brauche. Ohne sie – ohne unsere körperliche Verbundenheit – wird es keine ‹magischen Fähigkeiten› geben, wie Sie es nennen.»

«Ihre Brüder?», fragte ich.

«Ja. Ich habe zwei eineiige Brüder. Sie müssen mich bei meinem Abenteuer in Amerika begleiten.»

«Sie … Sie sind ein Drilling?»

«Ja, wir sind Drillinge. Doch wir wurden nicht von derselben Mutter geboren.»

«Was?»

«Kavi, Vishal und ich wurden von verschiedenen Müttern in verschiedenen Städten geboren.»

«Das ist unmöglich!»

«Viel bemerkenswerter ist, dass meine Brüder und ich zu exakt der gleichen Uhrzeit mit exakt demselben Gewicht und exakt der gleichen Körpergröße geboren wurden. Und unsere Mütter trugen alle denselben Namen – Kavita.»

Ich war zu verwirrt, um zu sprechen.

«Wir werden Ihnen helfen, Mr Jackson. Wir werden

Ihnen helfen, weil ich glaube, dass die Götter uns über diese große Entfernung zusammengeführt haben, damit ich Ihnen helfen kann – und Sie mir.»

«Ihnen helfen? Wie denn?»

«Ich fürchte, ich muss mein Angebot an eine Bedingung knüpfen.»

«Reden Sie.»

Bhanu sagte es mir, und ich stimmte sofort zu.