Kapitel 42

Charlie ließ sich nicht davon abbringen, mitzukommen, und warf seine Reisetasche hinten in Rebeccas Subaru. Die vier Hunde schnupperten vom Ende ihrer kurzen Ketten aus an der Tasche und wedelten mit dem Schwanz, als er auf den Beifahrersitz sprang. Rebecca sagte kein Wort. Sie startete den Pick-up und fuhr eilig von der Hütte weg. Charlies Mutter trat aus dem Haus, blieb bei der Hecke stehen und sah ihnen langsam winkend nach. In der Hand hielt sie eine Keksdose, die sie den beiden mitgeben wollte, bevor sie die lange Fahrt in die Stadt antraten.

Rebecca raste über den Rost. Wieder ging ihr Sallys Anruf durch den Kopf.

»Bec, ich habe bei uns im Büro gehört, dass dein Vater gestern einen Unfall hatte. Hat dich schon jemand angerufen?«

Rebeccas Gedanken überschlugen sich. Ein Unfall? War er tot?

»Nein. Mich hat niemand angerufen«, sagte sie schnell.

»Ich weiß nur, dass er gestern Abend ins Royal Hospital geflogen wurde. Ich habe es gerade erst erfahren. Soll ich hinfahren … und mich erkundigen, wie es ihm geht?«

Bleich und plötzlich außer Atem sank Rebecca auf einen Stuhl.

»Ja. Sal. Ja, ich fahre sofort los. Ich fahre gleich runter. Wir sehen uns heute Nachmittag dort.« Nachdem sie aufgelegt hatte, rannte sie auf die Toilette. Sie musste sich übergeben.

Jetzt im Wagen versuchte Rebecca, ihre Reaktion auf die Nachricht zusammenzufassen. Im ersten Moment war da blanke Angst um ihren Vater gewesen. Was war ihm zugestoßen? Würde er sich erholen? Musste er sterben? Jetzt, nachdem sie Zeit zum Nachdenken gehabt hatte, wusste sie nicht mehr so recht, was sie empfand. Sally konnte ihr keine Einzelheiten erzählen, und als sie im Krankenhaus angerufen hatte, hatte ihr die Schwester lediglich mitgeteilt, sein Zustand sei stabil. Sie wusste nicht genau, warum sie sich nach allem, was zwischen ihnen passiert war, verpflichtet fühlte, zu ihm zu fahren. Sie hatte versucht, Mick und Trudy anzurufen, doch nur deren Anrufbeantworter mit Trudys Singsang-Ansage erreicht. Während sie gepackt und den Pick-up aufgetankt hatte, hatte sie auch versucht, Frankie anzurufen. Nachdem in der Wohnung niemand ans Telefon gegangen war, hatte sie dort ebenfalls eine Nachricht aufgesprochen.

In der Tierklinik war Charlotte ans Telefon gegangen. »Nein, tut mir leid, Rebecca, deine Mum ist nicht hier«, hatte sie gesagt. »Sie hat sich eine Woche freigenommen und ist mit Peter weggefahren … keine Ahnung, wohin.«

Wütend hatte Rebecca den Hörer auf die Gabel geknallt.

»Das ist so verflucht typisch«, sagte Bec zu der Straße vor ihr, als sie an ihre Mutter dachte.

»Was denn?«, fragte Charlie.

»Mum. Sie ruft mich so gut wie nie an, und wenn sie in Urlaub fährt, sagt sie mir nicht einmal Bescheid, wohin sie fährt. Jetzt darf ich ganz allein mit dieser Geschichte fertig werden. Wie verflucht noch mal immer.«

Charlie sah Bec an und schob eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. »Das wird schon wieder, Bec«, sagte er leise. »Außerdem musst du nicht allein damit fertig werden. Ich bin bei dir.«

»Ach, ich weiß nicht, Charlie«, sagte sie, als hätte sie ihn gar nicht gehört. »Früher dachte ich immer, Mum ist das Superweib, weil sie es mit Dad und ihrer vielen Arbeit und obendrein mit uns Kindern aufnimmt … aber inzwischen … jetzt, seit Tom, hat sich das geändert. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass sie nie wirklich für uns da war. Ich glaube auch nicht, dass sie je wirklich für Dad da war … nicht mit Leib und Seele. Sie ist immer vor allem davongelaufen.«

»Hört sich nach jemandem an, den ich kenne«, sagte Charlie tonlos. Rebecca blitzte ihn zornig an.

»Früher habe ich Dad die Schuld an allem gegeben, verstehst du? Immer war Dad an allem schuld. Aber inzwischen … inzwischen habe ich das Gefühl, dass ich zu begreifen anfange.«

»Zum Tango braucht man immer zwei«, kommentierte Charlie.

Rebecca verstummte und dachte an ihre Mutter und ihren Vater, die so viele Jahre mit ihnen zusammen unter einem Dach gelebt hatten. Vielleicht täuschte sie die Erinnerung. Ihr ganzer Körper schien unter Spannung zu stehen. Sie bremste nicht ab, als ihnen auf dem schmalen Asphaltstreifen ein Laster entgegenkam. Die Räder des Subaru schleuderten Staub und Schotter auf, als sie über das Bankett rasten, um den Truck passieren zu lassen.

»Vielleicht sollte lieber ich fahren«, meinte Charlie freundlich. »Du bist zu aufgeregt.«

»Hör auf, mich zu bevormunden, Charlie Lewis.«

»Du solltest Fürsorge nicht mit Bevormundung verwechseln, Rebecca Saunders«, erwiderte Charlie schlagfertig und entlockte ihr damit wider Willen ein kleines Lächeln.

Als sie in der ersten Stadt auftankten, tauschten sie die Plätze. Während sie aus dem Ort hinausfuhren, streichelte Bec zärtlich Charlies Nacken und lächelte ihn an. Er erwiderte ihr Lächeln. Dann ließ sie den Kopf gegen die Nackenstütze sinken, schloss die Augen und hielt die Tränen zurück. Sie hatte Angst vor dem, was sie im Krankenhaus erwarten mochte.


Charlie und Rebecca traten zur Seite, um einen hellblau uniformierten Mann mit seinem Handwagen vorbeizulassen. Der Krankenhausgeruch ließ Rebecca das Gesicht verziehen. Es war, als dürfte sie nicht zu tief einatmen, sonst würde sie ebenfalls krank und säße zusammen mit den Gebrechlichen, Alten und Sterbenden in diesen kalten Mauern fest. Eine Frau in einem schäbig aussehenden Morgenmantel schlurfte vor ihnen den Korridor entlang, einen Infusionsständer neben sich herführend. Ihr Gesicht war eingefallen und fahl. Sie sah Rebecca wütend an, als könnte sie deren Gedanken lesen.

»Ich hasse Krankenhäuser«, flüsterte Rebecca Charlie ins Ohr.

Der Korridor öffnete sich in einen weitläufigen Empfangs-und Wartebereich. In einer Ecke sah sie Sally auf einem unförmigen Stuhl sitzen. Sie hatte sich nahe der Empfangstheke neben einer Statue der Jungfrau Maria niedergelassen. Maria hatte den verschleierten Kopf gesenkt, als würde sie ernst auf Sally herabsehen. Als Sally aufstand, wurde Rebecca bewusst, wie dünn sie geworden war und wie blass sie aussah, doch aus ihren Augen leuchteten Wärme und aufrichtige Freude, ihre Freundin wiederzusehen. Sie fielen sich in die Arme.

»Charlie«, begrüßte Sally ihn warmherzig und schloss ihn ebenfalls in die Arme.

»Entschuldige, dass wir so spät kommen – der Verkehr«, sagte er.

»Schon okay. Ich habe währenddessen mit der Jungfrau hier geplauscht.« Sie beugte sich vor und flüsterte ihnen zu: »Ehrlich gesagt ist sie eine ziemliche Trantüte – wir haben nicht wirklich viel gemeinsam.«

»Das hätte mich auch gewundert«, lächelte Bec. »Du hättest reingehen und Dad besuchen sollen, statt auf uns zu warten und mit der Jungfrau zu quatschen.«

»O nein! Ich hasse es, jemanden im Krankenhaus zu besuchen. Ich dachte, ich warte lieber auf euch. Außerdem habe ich nachgefragt, wo er liegt, und zur Antwort bekommen, dass nur die engsten Verwandten zu ihm dürften.«

»Als wäre ich mit ihm besonders ›eng‹«, kommentierte Rebecca sarkastisch. »Du kommst auch mit, Sal, du bist seine Beraterin, vergiss das nicht.« Rebecca kniff sie in den Arm.

»Seine Agrarfinanzberaterin wohlgemerkt, nicht seine Gesundheitsberaterin. « Sie sah Rebecca an und gab sich geschlagen. »Na schön. Er liegt im zweiten Stock.« Sie nickte zu den Aufzügen hin.

Die drei gingen schweigend hinüber, alle in stiller Angst, was sie auf der Station zu sehen bekommen würden. Im Edelstahlgehäuse des Lifts bekam Bec kaum noch Luft. Sie griff nach Charlies Hand. Er drückte sie fest. Als die Türen aufglitten, sagte Sally: »Ihr geht erst mal rein und seht nach ihm. Ich warte draußen.«

»Nein. Nein, Sal. Du kommst mit. Ich brauche euch beide.« Rebeccas blaue Augen flehten sie an.

Zunächst huschten Rebeccas Augen in dem großen Krankensaal über den alten Mann hinweg, der auf mehrere Kissen gestützt in seinem zu schmalen Bett schlief. Dann zuckte ihr Blick zu ihm zurück, und sie erkannte entsetzt, dass der alte Mann ihr Vater war.

Sie sah Charlie an und deutete auf das Bett. Sein Blick folgte ihrer verzagten Geste und kam auf Harry zu liegen. Alle drei starrten auf die Stelle, wo sein rechter Arm hätte sein sollen. Auf dem Kissen ruhte stattdessen ein abgerundeter, in dicke Verbände gepackter Stumpf.

Als Rebecca an sein Bett trat und ihn am linken Arm berührte, schreckte er aus dem Schlaf.

»Oh! Hallo!«, krächzte er leise. Er zog die Decke hoch, als versuche er seine Verlegenheit zu verdecken. Rebecca stellte entsetzt fest, wie schwach er wirkte.

Sie versuchte nicht auf den Bluterguss zu starren, der tiefschwarz unter dem Verband begann und sich über seiner nackten Brust und dem Hals in seltsamen gelblich-lila Schattierungen aufzulösen schien.

»Wie geht es dir, Dad?«

»Könnte besser gehen.« Seine Stimme drang als heiseres Flüstern durch die trockenen, aufgesprungenen Lippen. Das Weiß seiner Augen war vergilbt. Während er redete, blickte er stumpf auf das Fußende des Bettes. Seine Tochter sah er nicht an. Im Raum war es bis auf das Schnarchen eines anderen Patienten und das Geplapper aus dem hoch in der Ecke montierten Fernseher still.

»Ich glaube, du hast Charlie noch nicht richtig kennengelernt, Dad. Charlie Lewis.« Rebecca nickte zu Charlie hin, der neben ihr stand. Harry sah ihn an und erklärte mit schwacher Stimme: »Ich würde Ihnen ja die Hand geben, aber …« Seine Stimme erstarb.

Charlie wusste nicht recht, ob er über Harrys halbherzigen Scherz lachen sollte, und hob stattdessen winkend die Hand. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mr Saunders.«

»Sal kennst du ja.«

Harry nickte in ihre Richtung.

Wieder Schweigen. Charlie und Harry drehten das Gesicht dem Fernseher zu und verfolgten den Kurzbericht über ein Golfturnier. Sally wühlte in ihrer Tasche und förderte ein Sortiment von Landcare- und landwirtschaftlichen Zeitschriften zutage.

»Die habe ich Ihnen mitgebracht.« Sie legte die Hefte auf das Tischchen neben seinem Bett. Als er ihr zum Dank zunickte, begann Rebeccas Herz zu rasen. Sie spürte, wie ihr Puls unter der Haut an ihrem Hals hämmerte. Sie sah das Profil ihres Vaters und wollte ihn nur noch anbrüllen. Sie wollte ihn schlagen, ihn prügeln und kratzen, ihren ganzen Zorn über Toms Tod über ihm ausschütten. Ihn hassen. Ihn verhöhnen. Auf ihn spucken.

Stattdessen wandte er ihr das Gesicht zu und sagte: »Bec. Es tut mir leid. Ich habe nicht erwartet, dass du kommst.« Tränen begannen über die roten Lider unter seinen Augen zu laufen, dann begann er zu zittern und zu schluchzen. Verlegen wischte er mit der linken Hand über sein Gesicht und verschmierte dabei die Tränen über seine Wangen. Charlie schaute angestrengt auf den Fernseher. Sally schob die Zeitschriften zurecht, und Bec stand wie betäubt am Bett, ohne zu wissen, was sie jetzt sagen sollte, während Harrys Schultern zuckten und bebten und er sich mit dem Handrücken Rotz und Speichel aus dem Gesicht wischte.

»Entschuldige. Ihr solltet jetzt gehen. Es tut mir leid.« Seine Worte waren praktisch nicht zu verstehen. Er versuchte, sie noch einmal auszusprechen, doch diesmal stieg nur ein tiefes, leidendes Schluchzen aus seiner Brust. Die anderen Patienten drehten ihm die Köpfe zu. Charlie und Sally sahen einander an und gingen aus dem Zimmer. Rebecca fasste nach der Schachtel mit Papiertaschentüchern auf seinem Bettkasten, weil ihr inzwischen ebenfalls die Tränen übers Gesicht liefen. Sie rupfte ein Tuch heraus und stellte die Schachtel dann neben ihm ab. Danach zog sie den blauen Vorhang rund um sein Bett zu und ließ ihn allein. Mit langen Schritten eilte sie durch den Korridor und versuchte dabei, das Schluchzen des Mannes in ihrem Rücken auszublenden.

Draußen erschütterten die grelle Sonne und das Dröhnen des Verkehrs hinter dem Krankenhausgarten Rebeccas Sinne. Bec, Charlie und Sally blinzelten ins grelle Licht und wussten nicht, was sie tun oder sagen sollten.

»Sollen wir uns ein paar Minuten dorthin setzen?«, schlug Sally vor und deutete auf eine Bank unter einer schattigen Eiche.

Auf der Bank legte Charlie den Arm um Bec, und sie ließ den Kopf auf seine Schulter sinken. In der geballten Faust hielt sie ihr durchnässtes Taschentuch umklammert. Sal stieß mit dem Fuß nach dem Haufen von Zigarettenstummeln, der sich auf den Holzschnitzeln unter der Bank aufgetürmt hatte.

Schließlich sagte Sally: »Willst du meine Theorie über das Leben hören?«

»Auf jeden Fall«, sagte Bec.

»Du darfst aber nicht lachen.«

»Okay.«

Sie reckte das Kinn energisch vor. »Ich glaube, dass die Menschen nicht ohne Grund krank werden oder Unfälle bauen. Dein Dad hat sich selbst sabotiert, weil er dich zurückholen möchte. Es ist seine Art, sich für alles zu bestrafen, was vorgefallen ist. Darum hat er seinen Arm verloren.«

Rebecca setzte sich auf und sah ihre Freundin an. Eine tiefe senkrechte Falte grub sich durch ihre Stirn. Sally rutschte auf der Bank herum und senkte die Stimme.

»Ich weiß, du denkst vielleicht, dass mich das alles nichts angeht und dass es ziemlich schräg ist, den Sinn des Lebens von einer versoffenen, männerjagenden Freundin wie mir erklärt zu bekommen, die deinem Bruder das Herz gebrochen hat, aber wenn du irgendwann glücklich werden willst, Bec, dann musst du dir über manches klar werden. Dein Dad gehört zu jener Sorte von Männern, die nie um Hilfe bitten. Er wird oder kann dich zumindest nicht bitten, nach Hause zu kommen. Er kann dir nicht sagen, dass er dich liebt. Er kann nicht sagen, dass es ihm leid tut. So ist er eben. Darum haben sich das Leben, das Universum und alles andere verschworen, ihm diesen Unfall widerfahren zu lassen, damit du ihm vergeben kannst.«

»Ihm vergeben!«, brach es aus Bec heraus. »Wie kannst du es wagen, mir zu erklären, dass ich diesem Schwein vergeben soll! Er hat praktisch meinen Bruder ermordet!«

»Bec«, beschwor Charlie sie. »Hör ihr zu. Du musst das für dich klären.«

Sie sah ihm tief in die Augen. Sally legte die Hand auf Rebeccas Arm. Sally weinte.

»Glaubst du vielleicht, ich sage das gern? Ich habe mir nach Toms Tod die größten Vorwürfe gemacht. Ich habe ihn zum Narren gehalten. Mit meinen kleinen egoistischen Spielchen habe ich ihn zum Narren gehalten. Es gefiel mir, im Mittelpunkt zu stehen … und die Tatsache, dass ein Typ meinetwegen so ausflippt. Wenn ich nur wirklich ehrlich zu mir und ihm gewesen wäre, dann hätte er uns vielleicht nicht … verlassen …«

»Psst«, beruhigte sie Rebecca. »Es ist okay, Sal. Es ist okay.«

Die beiden Mädchen umarmten sich und wischten sich die Tränen vom Gesicht. Charlie saß allein am anderen Ende der Bank. Erstarrt. Schluckend. Er wusste, was gleich kommen würde.

»Geh wieder rein und rede mit ihm, Bec«, drängte Sally. »Das ist deine Chance, Waters Meeting zu retten. Tu es. Das ist deine Chance.«

Bec sah ihre Freundin an und holte lang und tief Luft. Unvermittelt sprang sie auf und lief auf die schweren Glastüren des Krankenhauses zu. Charlie sah sie in dem wuchtigen Gebäude verschwinden.


Als Bec durch die Lücke im Vorhang schlüpfte, lag Harry still da und starrte auf die zwei kleinen Hügel, die seine Füße unter der weißen Baumwollüberdecke bildeten.

»Dad?«

Von Neuem überrascht sah er auf. Dann tätschelte er die Matratze als Zeichen, sich zu setzen. Es war eine ungewohnte Geste für Harry. Sie ließ sich unbeholfen auf der äußersten Bettkante nieder.

»Dad«, sagte sie und wusste nicht, wie sie weitersprechen sollte. Ein schmerzliches und betretenes Schweigen senkte sich über sie. Dann nahm Harry ihr das Sprechen ab. Behutsam redete er durch seine bleichen, dünnen Lippen auf sie ein.

»Rebecca, ich möchte, dass zu zurückkommst. Ich möchte, dass du die Farm übernimmst. Ich brauche dich.«

Im ersten Moment spürte Rebecca, wie eine warme Woge sie überlief. Wie oft hatte sie davon geträumt, dass ihr Vater diese Worte aussprechen würde? Aber die Freude war nur von kurzer Dauer. Dann kehrte der Zorn zurück.

»Du brauchst mich? Du sagst, dass du mich brauchst? Pff! Natürlich brauchst du mich«, sie deutete auf seinen Stumpf. »Tom hast du ausgenutzt. Jetzt, wo er weg ist, willst du mich ausnutzen … Was hat sich denn geändert, Dad? Ist eine junge Frau plötzlich nützlicher als ein alter Mann mit nur einem Arm?«

Sie sah, wie seine Augen sich verletzt zusammenzogen, als sie das sagte.

»Bec«, erklärte er leise. »Ich kann verstehen, dass du wütend bist, aber bitte gib mir noch einmal eine Chance. Ich hatte das schon davor beschlossen.« Harry neigte den Kopf zu dem frisch verbundenen Stumpf hin. »Ich hatte das schon beschlossen, bevor das passiert ist. Ich wollte dich anrufen. Ich wollte dich fragen, ob du heimkommen willst. Ehrenwort. Das wollte ich wirklich.«

Rebecca sah ihm in die Augen und glaubte ihm. Ihr Vater war vielleicht ein harter, schweigsamer Mann, aber er war ganz bestimmt kein Lügner.

Mit flehender Miene fuhr er fort: »Wenn du heimkommen möchtest, steht dir Waters Meeting offen. Bitte verzeih mir, dass ich so lange gebraucht habe, um zur Einsicht zu kommen.«

Rebecca wusste, dass er Tom meinte, aber seinen Namen auszusprechen, tat Harry noch zu weh.

»Was sagst du dazu?« Er streckte die verbliebene Hand über seinen Körper und deckte sie leicht über Rebeccas Hand.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, antwortete sie mit Tränen in den Augen, während sie die ungewohnte liebevolle Berührung zu verarbeiten versuchte.

»Dann sag erst einmal nichts«, sagte Harry. »Komm einfach her, und lass dich umarmen.«

Vorsichtig beugte sich Rebecca über ihren Vater, der verlegen die Hand um ihren Kopf legte und sie an seine Brust zog. Er roch nach Seife. Sie befürchtete, gleich loszuheulen, doch stattdessen versteifte sie sich, so als könnte sie der Situation nicht trauen. Nach ein paar Sekunden löste sie sich aus seinem Griff.

»Tut mir leid, ich war nie ein großer Freund von Umarmungen«, bekannte Harry. »Andernfalls wäre deine Mutter vielleicht länger geblieben.«

Rebecca schüttelte traurig den Kopf, und dann begannen die Tränen zu fließen. Erst nach einer Weile merkte sie, dass Harry sie in den Arm genommen hatte. In seinen einen, starken Arm. Und ihr Haar mit seiner einen, starken Hand streichelte. Sie spürte, wie er sie auf den Scheitel küsste und sie zu beruhigen versuchte. Dann sprach er es aus. Er sagte: »Ich liebe dich.« Dann begann er ebenfalls zu weinen.

Wo die Wasser sich finden australien2
titlepage.xhtml
titel.xhtml
cover.html
e9783641081164_cop01.html
e9783641081164_fm01.html
e9783641081164_ata01.html
e9783641081164_toc01.html
e9783641081164_p01.html
e9783641081164_c01.html
e9783641081164_c02.html
e9783641081164_c03.html
e9783641081164_c04.html
e9783641081164_p02.html
e9783641081164_c05.html
e9783641081164_c06.html
e9783641081164_c07.html
e9783641081164_c08.html
e9783641081164_c09.html
e9783641081164_c10.html
e9783641081164_c11.html
e9783641081164_p03.html
e9783641081164_c12.html
e9783641081164_c13.html
e9783641081164_c14.html
e9783641081164_c15.html
e9783641081164_c16.html
e9783641081164_c17.html
e9783641081164_c18.html
e9783641081164_c19.html
e9783641081164_c20.html
e9783641081164_c21.html
e9783641081164_c22.html
e9783641081164_c23.html
e9783641081164_c24.html
e9783641081164_c25.html
e9783641081164_p04.html
e9783641081164_c26.html
e9783641081164_c27.html
e9783641081164_c28.html
e9783641081164_c29.html
e9783641081164_c30.html
e9783641081164_c31.html
e9783641081164_c32.html
e9783641081164_c33.html
e9783641081164_c34.html
e9783641081164_c35.html
e9783641081164_c36.html
e9783641081164_c37.html
e9783641081164_c38.html
e9783641081164_c39.html
e9783641081164_c40.html
e9783641081164_c41.html
e9783641081164_c42.html
e9783641081164_c43.html
e9783641081164_c45.html
e9783641081164_p05.html
e9783641081164_c46.html
e9783641081164_c47.html
e9783641081164_c48.html
e9783641081164_c49.html
e9783641081164_c50.html
e9783641081164_c44.html
e9783641081164_ack01.html