Kapitel 12

Der Richter hob das rote Clipboard in den blauen Himmel und ließ es dann fallen. Der Zeitnehmer nahm das Signal nickend zur Kenntnis und blies in seine Trillerpfeife. Dags saß Rebecca zu Füßen und beobachtete nervös zitternd die Schafe. Sie hob kurz die Hand und sagte ruhig: »Dags, nach links.« Den Bauch dicht über dem Boden, umschlich er im Uhrzeigersinn die Herde. Erst im Laufschritt, dann beinahe kriechend, näherte er sich den Schafen. Die Herde wich vor ihm zurück und drängte in einer engen Gruppe auf Rebecca zu, die daraufhin das Tor öffnete.

Unruhig schnuppernd stand das Leitschaf vor dem Durchgang zum nächsten Gehege. Der groß gewachsene Widder zuckte kurz, als eine Brise die Reihe der roten und gelben Werbewimpel zum Flattern brachte. Das Plastik klatschte hörbar gegen den Zaun. Die Zuschauer kommentierten den unglücklichen Zeitpunkt dieser Brise mit einem halblauten »Ahhh«. Der Widder scheute vor den Wimpeln zurück, machte kehrt und wich vom Durchgang zurück, gefolgt von seiner Herde. Rebecca blieb ruhig, denn Dags lief instinktiv um die Herde herum, um ihr den Weg abzuschneiden. Sie arbeitete gegen die Uhr, und sie wusste, dass ihr jede Sekunde, die sie am Anfang des Parcours vergeudete, am Ende der Strecke fehlen würde.

»Vorwärts, Dags.«

Der Hund näherte sich behutsam der Herde. Der Leitwidder stampfte drohend mit dem Huf auf. Dags zuckte kurz, schlich aber weiter auf die eigensinnigen Schafe zu und versuchte gleichzeitig, den Widder mit seinem unnachgiebigen Blick einzuschüchtern. Der Widder stampfte ein zweites Mal auf, kehrte aber um, und gleich darauf schien sich die Herde um sich selbst zu falten, um möglichst schnell in den nächsten Pferch zu gelangen. Rebecca schloss das Gatter hinter ihnen. Lockerer Applaus plätscherte durch die Menge. Das erste Hindernis hatte sie geschafft, aber noch fehlten der Treibgang, die Laderampe, den Sortierstand und das Einpferchen, und die Uhr tickte unerbittlich weiter.

Ihre Hände fummelten an der Torkette herum, doch schließlich hatte sie den Riegel gelöst und schwang das Tor auf. Sie holte tief Luft. Jetzt kam der schwierigste Teil. Dags war für einen Hunde-Trial manchmal zu ungestüm beim Treiben, darum gab sich Rebecca alle Mühe, ganz bedacht zu ihm zu sprechen.

»Ruhig, Dags. Aufreiten.«

In dem engen Treibgang lief Dags über die Schafrücken hinweg zum vordersten Tier der Herde nach vorn und ließ sich dann zu Boden fallen. Danach drückte er, halb unter den Schafen versteckt, den Körper gegen die Maschendrahtverkleidung des Ganges und kehrte zu Rebecca zurück. Seine bloße Anwesenheit ließ die Schafe hastig nach vorn drängeln, ohne dass er auch nur einmal zu bellen brauchte. Als er wieder auftauchte, schickte ihn Rebecca erneut über die Schafrücken ans vordere Ende des Treibganges, um dort Platz zu schaffen, damit sie das Tor am anderen Ende öffnen konnte. Diesmal waren Rebeccas Hände ruhiger, als sie die Kette des kleinen Treibgangtores aushängte. Dags gab ihr Zuversicht, und sie begann die Zuarbeit, die er leistete, zu genießen. Sie hatte befürchtet, dass er nach der aufreibenden Arbeit auf der Station keine Chance mehr als Vorführhund hätte, aber heute ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen und war bereit, sich auf den Bauch fallen zu lassen, sobald sie »Stopp« pfiff.

An der Laderampe schickte sie Dags erneut über die Schafrücken.

»Gib Laut«, sagte sie, er bellte. Die Widder hetzten die Rampe hinauf, Rebecca öffnete das Tor, Dags schlug ein zweites Mal an, und die Schafe hoppelten dicht an dicht auf der anderen Seite wieder hinunter.

Sie lag gut in der Zeit und hatte, soweit sie erkennen konnte, kaum einen Fehler gemacht. Der Richter hatte mit seinem Stift kaum das Clipboard berührt, daraus schloss sie, dass sie die meisten der hundert Punkte behalten hatte, mit denen sie in das Rennen gestartet war.

Am Sortierstand wartete Dags auf ihr Zeichen, während sie die ersten fünf Schafe durch den schmalen Metallgang ließ. Dann schwang Rebecca das Tor vor den nächsten zehn Schafen in die andere Richtung. Eines der Schafe bockte, verharrte schwer atmend und sah zu Rebecca auf. Sie wusste, wenn sie das Schaf berührte, würde ihr der Richter Punkte abziehen.

»Rauf«, sagte sie. Dags hüpfte sofort auf den Rücken der im Gang steckengebliebenen Schafe, doch das erste Schaf rührte sich nicht vom Fleck.

»Greif«, sagte sie. Dags wusste, was zu tun war. Er kniff mit den Zähnen in den »Topknot«, den Wollknoten zwischen den Ohren des Schafes. Das tat dem Schaf nicht weh, erschreckte es aber so sehr, dass es durch das Zähltor sprang.

»Das genügt, Dags. Braver Hund.« Rebecca wusste, dass manche Richter Punkte abzogen, wenn ein Hund ein Schaf biss, aber sie wusste auch, dass manche Richter das sogenannte »Topknotting« guthießen, weil es ein seltenes Talent war, das einen Treiberhund zu etwas ganz Besonderem machte. Hoffentlich war dieser Richter derselben Meinung.

Sie schwang das Sortiergitter wieder herum, die letzten fünf Schafe rannten durch den Treibgang und trotteten hinaus zu den ersten fünf Schafen, die eng gedrängt im Sammelraum standen. Rebecca seufzte erleichtert. Jetzt brauchte sie die Schafe nur noch in den Pferch zu bringen, dann hatte sie den Wettkampf überstanden.

Sie schickte Dags wieder hinter die Schafe, von wo er sie vorsichtig in Richtung Sammelpferch drängte. Die Schafe wussten, dass sie jetzt zu ihren Gefährten und in die sichere große Herde zurückkehren würden, darum gehorchten sie willig und trotteten an Rebecca vorbei durch das Tor.

Als sie sich bückte, um die glänzende Eisenkette um den Pfosten zu legen, war aus den Zuschauerreihen vereinzelt Applaus zu hören. Jemand rief: »Gute Arbeit!«

Der Richter hielt den Punktestand auf seinem Clipboard fest und spazierte langsam zum Zeitnehmer.

»Das war der letzte Durchgang für heute«, sagte der Zeitnehmer in sein Mikrofon. »Wir brauchen nur noch ein paar Minuten, um die Ergebnisse zu vergleichen und um auszurechnen, wer heute gewonnen hat.«

Rebecca sah auf die Uhr. In einer halben Stunde sollte sie im Schafstall sein, wo das Feinwoll-Klassifizieren stattfand.

Endlich schaltete der Zeitnehmer das Mikro mit einem lauten Klacken wieder ein und verlas die Namen der Sieger in den offenen und den geschlossenen Wettbewerben. Die Gewinner traten vor, um ihre Bänder in Empfang zu nehmen und ihre Säcke mit Hundefutter wegzuschleifen.

»Siegerin in der Klasse der Novizen ist bei einem Punktestand von vierundneunzig Punkten und mit nur einem Punkt Vorsprung Rebecca Saunders mit ihrem Hund Dags. Gute Arbeit, Rebecca.«

Jemand schlug ihr auf den Rücken, und sie trat vor, um das Band und eine golden glänzende Plastiktrophäe in Empfang zu nehmen.

Das Band in der Hosentasche und die Trophäe unter dem Arm geklemmt, schleppte sie die schweren Hundekuchen dicht gefolgt von Dags zu ihrem Schaftransporter. An ihrem Lastwagen fuhr sie mit dem Zeigefinger über die eingravierte Aufschrift auf der Trophäe: »42. Maranga Show Diensthunde Trials – Erster Platz Kategorie Novizen«. Dags stand direkt neben ihren Stiefeln.

»Gut gemacht, Dags«, sagte sie leise und bückte sich, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. Er sah mit seinen braunen Augen zu ihr auf und ließ die Schwanzspitze hin und her zucken. »Du hast es nicht so mit dem Gefühlezeigen, was, mein Junge?«

Seit sie dieses Jahr mit den Schafböcken auf »Tournee« ging, hatte Rebecca noch keine Trophäe in einer Hundevorführung gewonnen … bis heute. Zwar hatte sie ein paar Mal gute Punkte gemacht, aber nie einen Sieg oder auch nur einen zweiten oder dritten Platz errungen. Sie lehnte sich gegen den Laster und dachte an ihren Großvater. Wenn er jetzt hier gewesen wäre, hätte er sie an den Schultern festgehalten, sich vornübergebeugt, um ihr in die Augen zu sehen, und gebrummt: »Gut gemacht, Mädel.« Dann wäre er mit einem Zwinkern in seine strenge, aufrechte Haltung zurückgekehrt und weitergegangen.

Als sie die quietschende Fahrertür öffnete und nach oben fasste, um die Trophäe auf das Armaturenbrett zu legen, hörte sie eine Stimme in ihrem Rücken.

»Auf den Sieg!«

Sie drehte sich um.

»Basil! Charlie Lewis!«

»Du erinnerst dich an mich!«, sagte der groß gewachsene Junge. Die Augen gegen die Sonne zusammengekniffen, stand er vor ihr. Mit aufgekrempelten Ärmeln, aus der Hose hängendem Hemd, schlank und knackig.

»Also, du hast damals eindeutig Eindruck gemacht. Ich begegne nicht jeden Tag einem Nackten mit einem Eimer auf dem Kopf.« Becs Augen wanderten abwärts zu seinem Schritt, was Charlie nicht entging. Er machte einen Schritt vor, um sich neben ihr an den Laster zu lehnen, und lächelte sie leicht verlegen an.

»Ja. Schön. Das tut mir leid. Ich hab auf der Party ziemlich die Sau rausgelassen. Wir hatten davor wochenlang zu Hause die Ernte eingeholt, und ich war länger nicht mehr unterwegs …«

»Ach, kein Grund, sich zu entschuldigen!«, fiel ihm Bec ins Wort. »Ich fand es genial, dich so kennenzulernen, das kann ich dir versichern.«

Charlie lachte kurz und stocherte mit der Stiefelspitze im Dreck, aber er sah ihr nicht in die Augen.

O mein Gott, dachte Bec, er ist schüchtern. Er ist tatsächlich schüchtern! Nimm ihm den Rum weg, und er ist sanft wie ein Lamm.

»Und. Was hast du gewonnen?« Er nickte zu der Trophäe im Führerhaus hin.

»Ach, das! Nur den ersten Preis als Novizin bei den Hunde-Trials. Zusammen mit meinem Kumpel Dags.« Sie holte die Trophäe heraus. »Macht sich bestimmt super als Klopapierrollenhalter. «

»Gut gemacht! Gut gemacht, Dags!« Charlie bückte sich, nahm den Hundekopf in seine großen, braun gebrannten Hände und kraulte Dags hinter den Ohren. Dags badete in seiner Anerkennung und schmiegte sich prompt schwanzwedelnd an Charlies Bein.

»Er mag dich. Er macht das nur bei Menschen, denen er vertraut«, sagte Bec.

Charlie sah Dags in die Augen. »Zu schade, dass ich dich nicht in Aktion sehen konnte, mein Freund.« Dann sah er wieder zu Bec auf. »Wir sind gerade erst angekommen. Als wir durch die Stadt fuhren, fiel meinem Dad ein, dass er im Pub vorbeischauen könnte, um mit ein paar von den Schafsköpfen über die Arbeit zu schwatzen. Was treibst du so? Du bist hier ganz schön weit weg von Blue Plains. Arbeitest du immer noch da oben?«

Bec merkte, wie eine warme Welle sie überspülte. Sie hatte ihm nie erzählt, wo sie arbeitete, demnach musste er sich nach ihr erkundigt haben.

»Schon. Ich leite inzwischen den Widderstall. Eigentlich sollte ich schon drüben bei den Pferchen sein, um mich für den nächsten Klassifizier-Wettbewerb vorzubereiten. Seit vier Monaten fahre ich von einer Show zur nächsten. Es nervt ein bisschen – manche Menschen sind solche Anallöcher –, aber dafür komme ich viel rum und lerne viele nette Leute kennen. Außerdem lasse ich mich nur zu gern mit einem Hunde-Trial ablenken, aber mein Boss meint, das ist alles gute Publicity für die Firma.«

Sie spürte einen kurzen Stich, als das Bild eines niedlichen Achtzehnjährigen in ihrem Kopf aufblitzte. Dunkles Lockenhaar, schlanke Glieder und ein kleiner, muskulöser Hintern. Er hieß Jeremy, und sie hatte ihn verführt, nachdem er auf der Western Region Show den Wettkampf der Junioren im Beurteilen gewonnen hatte. Seither hatte sich im ganzen Showzirkus herumgesprochen, dass Rebecca mit einem milchbärtigen Lover im Heu herumgetollt war. Sie sah immer noch vor sich, wie er sie mit seinen dunklen Welpenaugen angeschmachtet hatte, als sie zusammen in dem weichen, sauber riechenden Stroh des Schaftransporters gelegen hatten, sein blaues Siegerband quer über Rebeccas nackten Leib gebreitet. Beide hatten hysterisch gekichert. Es war eine der intensiveren Erinnerungen aus den Monaten auf ihrer Show-Rundfahrt.

Meist waren Rebeccas Tage als Tierpflegerin lang und monoton. Die Schafe füttern, die Streu in den Pferchen wechseln, die Wassertröge auswaschen, stundenlang mit dem LKW zu den Veranstaltungsgeländen fahren, die fast ausschließlich von bockigen alten Männer mit ihren Schafen bevölkert wurden. Ganze Tage brachte sie damit zu, den Böcken den Kopf zu waschen, ihre Wolle mit der Schere zu schneiden und dann herumzustehen und die Tiere festzuhalten, damit ein meckernder Richter sie begutachten konnte. Außerdem schleppte sie Wasser in schweren schwarzen Kanistern vom Laster zu ihren Tieren. Es war Wasser aus Blue Plains. Bob bestand darauf, dass die Schafböcke nur das Wasser zu trinken bekamen, das sie gewohnt waren. In manchen Orten wandten die Widder angewidert das Gesicht ab, weil das Wasser so eigenartig roch und schmeckte, also schleppte sie täglich Kanister.

Ihre Schafböcke, insgesamt zehn Tiere, gehörten bei allen Shows zu den Favoriten, und Rebecca hatte im Lauf der Zeit die verschiedenen Charaktere lieb gewonnen. Am liebsten war ihr Alf, nicht nur weil er der produktivste Bock war, optisch wie auf dem Papier, sondern auch weil er ein absolutes Weichei war. Wenn am Morgen die Sonne über den Horizont linste, begann Alf laut nach Rebecca zu rufen, sobald sie den Truck betrat. Alf war ihr ans Herz gewachsen und ihr ganzer Stolz.

Stundenlang konnte sie mit den Männern in den Schafpferchen über Stammbäume und Vererbungslinien fachsimpeln. Oft frustrierte es sie, dass nur zaghaft anerkannt wurde, welchen Nutzen die neuen Wissenschaften brachten, um das Durchsetzungsvermögen einer bestimmten Vererbungslinie zu bestimmen. Inzwischen gehörte sie zu der neuen Generation junger Merinozüchter, die gegen die bei diesen Vorführungen vorherrschenden antiquierten Auffassungen anrannten. Die jungen Züchter nutzten alle technischen Möglichkeiten für ihre Zuchtversuche, während die alte Generation sich an Traditionen festklammerte, die mehrere hundert Jahre alt waren. Manche davon klammerten sich auch an ihrem »alten Geld« und ihrem Dünkel fest. Das nervte Rebecca, aber sie versuchte, im Interesse ihrer Firma als vollkommene Diplomatin aufzutreten – jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt. Sobald sie nach einer Show in der Bar einfiel, redete sie Klartext, und die ganze Firmen-Diplomatie war vergessen. In einer Bar in einer größeren Stadt hatte Rebecca auch durch ihren Rum-Nebel hindurch das Funkeln in den Augen des dunkelhaarigen achtzehnjährigen Gentleman Jeremy bemerkt. In dem dampfigen, testosterongeschwängerten Gedränge hatten die Viehvermittler und Farmer die knospende Romanze mit lüsternen Blicken und lautem Gejohle begleitet. Die »Romanze« hatte sich letztendlich auf eine Nacht beschränkt, aber sie hatte dazu geführt, dass sich ein Lächeln auf Rebeccas Lippen stahl, wann immer sie eine Reihe von jungen Burschen in ausgebeulten Jeans bei einem Junioren-Wettkampf stehen sah.

Der Gedanke an Jeremy, während sie mit dem schüchternen, muskulösen Charlie Lewis zusammenstand, weckte Rebeccas Begierde. Ihr fiel auf, wie sich Charlies Mundwinkel auf einer Seite zu einem halben Lächeln hob, wenn er ihr zuhörte. Außerdem legte er immer wieder den Kopf schief und fuhr sich mit der Hand über den Nacken, als wollte er ihn massieren. Um seine Augen zeichneten winzige Lachfältchen seine Haut, die Rebecca liebend gern gestreichelt hätte. Sie sah Charlie in die Augen, um ihm »den Blick« zuzuwerfen. Sie und Sally hatten »den Blick« unzählige Male während der Schulferien vor ihrem Schlafzimmerspiegel in Waters Meeting geübt. Stundenlang hatten sie über Jungs und Strategien geredet oder A- und B-Pläne entworfen, während sie mit ihren Pferden unter den Eukalyptusbäumen oder über die Berge geritten waren. Mit siebzehn Jahren hatten sie allen Ernstes geglaubt, die Kunst der Verführung gemeistert zu haben.

»Also, ich muss dann mal los«, sagte Charlie.

»Der Blick« fiel in sich zusammen. »Oh«, sagte sie und hätte beinahe laut gelacht, weil ihr Versuch, eine Flirtbotschaft auszusenden, so unübersehbar gescheitert war.

»Dad ist da drüben. Er schaut schon her. Wenn ich jetzt nicht gehe, dann pfeift er nach mir, so wie du Dags zu dir pfeifst.«

Bec sah auf den ungeschlachten Mann, der mit verschränkten Armen in einer Gruppe stand und redete. Er blickte unverhohlen in ihre Richtung.

»Na gut. Ich sollte sowieso zu den Widdern gehen. Inzwischen habe ich lang genug mit meinen Hunden rumgetrödelt. Wir sehen uns.«

»Genau. Bis später. Vielleicht bin ich nächstes Mal wieder nackig.« Charlie machte sich mit einem knappen Winken und einem breiten, frechen Grinsen auf den Weg.

»Hoffentlich«, rief Rebecca ihm mit einem genauso breiten Grinsen nach. Als sie ihm nachsah, blieb ihr der Mund offen stehen, und ihre Augen wurden groß. Heilige Muttergottes! Er trug tatsächlich Wranglers.

»Bitte, lieber Gott, nimm mich sofort zu dir«, flüsterte sie, während sie seinem festen, in dunkles Denim gekleideten Hinterteil nachsah. Im selben Moment drehte Charlie sich um, und Bec musste all ihre Konzentration aufbieten, um ihre Kinnlade wieder nach oben zu klappen.

Er rief ihr zu: »Vielleicht fahre ich nächstes Jahr für Dad mit ein paar Maschinen nach Springton rauf. Eventuell arbeiten wir den Winter über dort oben auf anderen Farmen. Bist du dann da? Wir könnten zusammen ins Pub gehen.«

»Könnten wir. Nur dass ich nicht da sein werde. Bis Februar habe ich Blue Plains verlassen – ich habe einen Kurs an der Tablelands University belegt. Schlage mich ein paar Jahre als Fachidiotin durch. Ich hab das Studium schon einmal um ein Jahr verschoben, um mit Schafen und Hunden rumzuhängen; es ist höchste Zeit, dass ich es endlich anpacke.«

»Oh.« Die Enttäuschung war ihm deutlich anzuhören, was Becs Herz schneller schlagen ließ. Er war scharf auf sie, so viel stand fest.

»Na, dann viel Glück.« Er holte Luft. »Wir sehen uns später.«

Sie winkte ihm mit halb erhobener Hand zu und wandte sich ab. Während sie den schweren Sack mit Hundekuchen in den Laster hievte, zerschmolz ihre Begierde zu sehnsüchtiger Enttäuschung. Sie wünschte, er könnte noch bleiben. Sie wünschte, er wäre nach der Show mit ihr in die Bar gekommen, und sie hätten miteinander getrunken und geredet. Einfach nur reden. Sich die Zeit nehmen, Freunde zu werden, bevor sie mit ihm auf irgendeiner Ladefläche oder in einem Schlafsack landete. Plötzlich fühlte sie sich unendlich einsam. Sie konnte so viele Männer haben, wie sie wollte, aber ihre Sehnsucht ließ sich dadurch nicht stillen. Sehnte sie sich nach ihrem Zuhause? Oder nach einem Mann wie Charlie? Rebecca knallte die Tür des Lasters zu. Für Selbstmitleid hatte sie keine Zeit; ein Blick auf die Uhr mahnte sie, wie spät es war.

»Keine Zeit, den Jungs nachzuhecheln, Dags!« Sie hängte den Hund an einer Kette unter dem Laster an, schob ihm den Wassernapf hin und lief in Richtung Schafstall. Sie würde noch zu spät zum Finale der Feinwoll-Klassifizierer kommen.

Sie sah nicht, wie Charlie Lewis neben seinem Vater den braunen Ellbogen aus dem Fenster des Kornlasters hängte und ihr nachsah, während sie mit fliegendem Haar in den Pavillon eilte. Er prägte sich den Anblick tief im Gedächtnis ein. Das Bild löste ein Kribbeln in seinem Rückenmark aus. Dann verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht und seinen Augen, er lehnte sich in den Sitz zurück und richtete den Blick grimmig durch die Windschutzscheibe nach vorn.


Nicht einmal im Hauptzelt der Landwirtschaftsshow konnte Bec Charlies leuchtend grüne Augen und die freundlichen Fältchen, die sich bei jedem Lächeln bildeten, aus ihren Gedanken ausblenden. Gedankenversunken streichelte sie das weiche weiße Gesicht des Widders, den sie sanft am Kinn festhielt. Trotz der Hitze bildete sich auf ihren Armen eine Gänsehaut. Sie stand in der Reihe der Schafbesitzer, während der Richter in seiner knallweißen Jeans mit aufgesetzten Taschen die Schafe begutachtete wie ein Affe auf der Suche nach Flöhen.

Bec trat von einem Bein auf das andere, um ihre müden, schmerzenden Füße zu entlasten. Seit fünf Uhr früh war sie ständig auf dem Beton hin und her gerannt. Die grüne Kunstrasenfläche der Arena innerhalb des Zeltes bot nur wenig Erleichterung. Plötzlich hatte Bec das ewige Herumziehen satt. Genauso wie die Leute auf diesen Zuchtschauen. Wieder sah sie Charlies von einer Wrangler umhüllten Hintern vor sich.

Ich bin verliebt, meldete sich ein seufzender Gedanke. Ihr Gewissen schreckte sie auf und ermahnte sie streng, tu deinen Job, du faule Socke.

Sie merkte, wie sie sich aufrichtete und den jungen Widder dadurch zwang, sich ebenfalls aufzurichten. Ehe sie sich versah, wurde sie nach vorn gerufen, und ein Mann im Tweedmantel kam mit einem blauen Band auf sie zu. Das Publikum klatschte. Rebecca wusste, dass der erste Preis zum Greifen nah war.

»Gut gemacht, Alf«, sagte sie zu dem Widder.

Wo die Wasser sich finden australien2
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