Kapitel 35

Charlie beobachtete sie unter dem Carport hervor. Es gefiel ihm, wie sie mit ihren kräftigen, braunen Händen und Fingern über die Ohren und die Gesichter ihrer Hunde strich. Vielleicht war auch ein bisschen Eifersucht dabei. Ihre Hunde würde sie nie verlassen, dachte Charlie bitter.

Der Weizenstaub kratzte an seinem Hals, und er strich mit dem Finger über die verschwitzte Haut unter seinem Hemdkragen. Es war heiß. Selbst im Schatten bekam man kaum noch Luft. Er merkte, wie neue Panik in ihm aufstieg.

Er beobachtete, wie sie jeden einzelnen Hund von der Kette losmachte. Die Stahlpfeiler des Pultdaches dienten als Pfosten zum Anbinden, und das Wellblechdach spendete Schatten. Es war nicht der ideale Hundezwinger, und sie schmollte deswegen wie ein verzogenes Kind. Charlie hatte ihr versprochen, gleich nach der Ernte einen richtigen Auslaufzwinger zu bauen. Aber bisher hatte ihm einfach die Zeit dafür gefehlt. Die Ernte und die Maschinen hatten Vorrang. Wie immer.

Die Hunde umtanzten Rebecca Staub aufwirbelnd im Sonnenschein. Sie deutete auf die lange rote Straße, die zum Tor führte, und die Hunde rannten los. Rebecca folgte ihnen langsamer, kommandierte die Hunde dabei ab und zu mit einem scharfen Pfiff zurück oder hob die Hand, damit sie saßen. Charlies Augen folgten ihr, während sie auf die flirrende Hitze zuging und dabei immer kleiner wurde. Sie ging wieder einmal zum Damm. Auf der Suche nach Wasser, in dem sie schwimmen konnte.

Er wandte sich von ihrer verschwommenen Silhouette ab und kehrte ins Haus zurück, nahm die Zeitung vom Küchentisch und ging damit weiter in sein dunkles ehemaliges Zimmer. Er meinte zu spüren, dass seine Mutter am Herd stand, aber er sah nicht auf, um sie zu begrüßen. Wortlos schloss er seine Zimmertür. Das Haus seiner Eltern und sein eigenes Zimmer kamen ihm fremd vor, seit Rebecca in die Hütte gezogen war. Inzwischen kam es ihm überhaupt nicht mehr wie sein Haus vor. Oder sein Zimmer. Der stetige Gezeitenwechsel zwischen Ernten, Pflügen, Pflanzen und Sprühen war unterbrochen. Das familiäre Muster von Mutter, Vater und zwei Jungen hatte sich zur Unkenntlichkeit verschoben, seit Rebecca hier war. Niemand sprach das je an. Aber alle rätselten insgeheim, wo sie in der neuen Familie standen.

Als sie damals hergekommen und in die Hütte gezogen war, hatte er jedes Mal das stechende Schweigen seiner Eltern im Rücken gespürt, wenn er nach dem Essen aufgestanden war und ihnen gute Nacht gewünscht hatte. Er wusste, dass sie still sitzen blieben und dem Klicken der Fliegentür lauschten, wenn er nach draußen ging, um in der Hütte und in ihren Armen zu schlafen. Seine Mutter hatte es längst aufgegeben, allmorgendlich zum Schein in sein Zimmer zu treten, um sein Bett zu machen. So wie er es aufgegeben hatte, vor der Morgendämmerung ins Haus zu schleichen und sich zwischen die gespannten Laken zu legen. Er liebte Rebeccas weiches Bett. Die nackten Glieder ineinander verschlungen zwischen weichen, verhedderten Laken, die nach ihr rochen. Er brachte es nicht über sich, sie allein in ihrem zerwühlten Bett zurückzulassen. Er brachte es nicht über sich, weiter seiner korrekten, kirchenfrommen Mutter zuliebe Theater zu spielen.

Jetzt saß er hier auf der Kante seines klobigen Kinderbettes und kam sich wieder wie ein kleiner Junge vor. Er blickte auf die Anzeige, die er eben eingekreist hatte, und las die schwarzen Druckbuchstaben: »150 reife Mutterschafe«. Er wollte sie für Rebecca kaufen und dann die Weide wieder einzäunen, damit sie zumindest mit ihren Hunden arbeiten konnte. Aber erst musste er seinen Vater fragen. Er würde die Unterschrift seines Vaters auf dem Scheck brauchen. Mit einem frustrierten Seufzer knüllte er die Zeitung zusammen. In seinem Kopf bastelte er unentwegt an der Frage … der Frage, wie er seinen Vater um das Geld bitten sollte, ihr einen Ring zu kaufen.

Er schleuderte die Zeitung auf den Boden und wälzte sich auf den Bauch. Dann vergrub er das Gesicht in der Lücke zwischen seinen verschränkten Armen. Wieder spürte er die Panik. Er würde sie noch verlieren. Sie passte nicht hierher.

Nachdem sie nach der Abschlussfeier hier angekommen waren und er ihre Taschen in die Hütte getragen hatte, hatte sie tobend und fluchend in dem winzigen Wohnraum gestanden, während er ihr erklärte, dass er vorerst bei seinen Eltern wohnen bleiben würde.

Sie hatte die Kartons auf den Boden geschleudert, die Tür zugeknallt und ihn angebrüllt: »Muttersöhnchen! Verfluchte altmodische, verlogene Frömmlerbande!«

Sie hatte recht. Er war ein Muttersöhnchen. Er hasste sich dafür. So viele Mädchen aus seiner Gegend waren perplex, wenn sie ihn als Partyhengst auf den B & S-Feiern erlebten. Immer wieder hatten sie ihn von Kopf bis Fuß gemustert und erklärt: »Wenn dich deine Mutter so sehen könnte, Charlie Lewis.«

Die weiche Stimme seiner Mutter zischte immer noch wie ein Brandzeichen in seinem Kopf. Sie hatte die Schubkarre abgesetzt und ganz langsam die Gartenhandschuhe abgestreift. Ohne ihn anzusehen.

»Du denkst doch hoffentlich nicht, dass du zu ihr in die Hütte ziehen kannst? Wenigstens nicht, bis ihr offiziell verlobt seid.«

Ihm fehlte der Mumm, um sich gegen seine ganze Familie zu stellen. Dafür hasste er sich auch. Bec hatte ihm gezeigt, wie frei ein Geist sein konnte. Er wäre zu gern wie sie. In der Lage, seiner Familie den Rücken zuzukehren und wegzugehen. Doch er gehörte hierher, auf dieses Land, auf dem er sich seit jeher gesehen hatte. Schon als kleiner Junge konnte er sich als alten Mann sehen, der endlos auf seinem Traktor auf und ab fuhr. Den Boden bestellte. Dieses Land war seine Heimat. Diese Menschen waren seine Eltern. Sie hatten ihn gelehrt, zu gehorchen. Er hatte sich so bemüht, es allen recht zu machen, und nun stellte Rebecca all das immer wieder in Frage. Er wusste nicht mehr, wohin er getrieben wurde.

Charlie streckte die Hand aus, zog die Schublade neben dem Bett auf und holte die AR-Hochglanzbroschüre heraus. Das Mädchen, das in diesem Moment über die staubige Zufahrt zum Anwesen seiner Eltern spazierte, hatte all seine Träume bei Weitem übertroffen. Genau wie seine Fantasien. Und dieses Foto. Rebecca war das Gegenteil seiner Mutter. Und genau das liebte er an ihr. Deswegen liebte er sie.

Als er in dieser Nacht neben ihrem warmen, schlafenden Mädchenkörper lag, konnte er hören, wie sich ihr Atem änderte. Sie murmelte etwas im Schlaf und drehte sich zur Seite. Er zog sie an seinen Bauch und schmiegte sich an sie, bis er ihren runden Hintern an seinem Geschlecht spürte.

»Alles okay, Bec?«

»Mmmm?«

»Alles okay?«

Fast meinte er das Rauschen des Flusses zu hören. Sie träumte wieder einmal. Von ihrem Fluss. Er fragte sich, ob sie ihm am Morgen davon erzählen würde. Vorsichtig schob er die Hand unter ihre Brust und küsste sie zärtlich auf die Schulter. Er wollte dieses Mädchen heiraten, aber nicht seiner Mutter zuliebe oder weil es der Gott seiner Mutter so vorschrieb. Er wollte sie. In der Dunkelheit starrte er auf ihre geschwungene Schulter und seufzte. Sie war kein Mädchen, das schnell heiratete. Und schon gar nicht einen Getreidefarmer vom platten Land.

Wo die Wasser sich finden australien2
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