Kapitel 9

Tom sank in seinen Sattel zurück und schaute lautlos fluchend zu, wie sein Vater krachend den Rückwärtsgang einlegte.

»Nimm deinen nutzlosen Köter aus dem Weg!«, brüllte Harry und setzte den Pick-up rückwärts dorthin, wo immer mehr Schafe aus der Herde ausbrachen.

Tom hasste es, mit seinem Vater Schafe zu treiben. Fünf der Hunde seines Vaters trotteten weitab der Herde im Rudel dahin, zu verängstigt, um wirklich einzugreifen, und gleichzeitig zu verängstigt, um gar nichts zu tun. Bessie, die kleine Hündin, die Rebecca für Tom gezüchtet hatte, zauderte auf Harrys wütende Drohung hin, blieb aber standhaft auf der anderen Seite der Herde, wo sie aufmerksam auf Toms Kommando wartete. Das Gatter war noch mehrere hundert Meter entfernt, und Harry versuchte, mit seinem Pick-up und seinen Hunden die Schafe am Zaun entlang zum Tor zu treiben. Sobald der Druck zu groß wurde, brachen einige Schafe aus und rannten den steilen Hügel hinauf. Die Tiere, die nicht aus der Herde zu entkommen versuchten, drängten sich zu großen Kreisen zusammen, die sich in riesigen Wirbeln drehten, während Harry immer wieder hupte und »Haaa!« rief.

Tom verlagerte sein Gewicht im Sattel, woraufhin Hank, sein lang gestreckter Brauner, der angesichts des Aufruhrs nervös mit den Ohren zuckte, antrabte. Tom leckte den Staub von seinen Lippen, pfiff nach Bessie, die in einem weiten Bogen die Herde umrundete und dann hinter Hanks Hufen herlief.

Schon als kleine Kinder hatten Bec und Tom zusammen mit ihrem Großvater zugeschaut, wie eine Herde sich bewegt. Grandad hatte es ihnen sogar auf dem Hof demonstriert. Dazu hatte er etwas rote Kreide aus seiner Tasche gezogen, eines der fünf Schafe gepackt, die zusammengedrängt in der Ecke standen, und es mit einem dicken roten Strich auf der Nase markiert. Anschließend hatte er zwei weitere Schafe ausgewählt und sie mit blauer Kreide markiert. Danach war er mit langen Schritten im Pferch herumspaziert und hatte sich die Schafe von seinen flinken Collies zutreiben lassen. Dank der Markierungen erfassten Bec und Tom sofort, was ihnen ihr Großvater über die Bewegungsmuster der kleinen Herde erklärte.

»Schaut! Schaut!«, hatte Grandad gesagt. »Der rot markierte Bursche da, der ist euer Leitschaf. Nach so einem müsst ihr Ausschau halten, wenn ihr eine Herde treibt … so einer und ein paar seiner Kumpels führen die restliche Herde an … wenn ihr die gefunden und eure Hunde dazu gebracht habt, sie richtig zu leiten, dann werden sie die blauen Burschen durch jedes Gatter führen, das ihr aussucht.«

Grimmig sah Tom auf die Silhouette seines Vaters im Pick-up. Grandad hatte sich zwar die Zeit genommen, seine Enkel im Viehtreiben zu unterweisen, aber sein Sohn war ihm immer zu fremd geblieben, als dass er ihn beeinflusst hätte. Tom entsann sich noch gut, wie sie an dem großen Küchentisch unter der tickenden Wanduhr gesessen hatten. Großvater am Kopfende, Harry am anderen Tischende. Immer war die Stimmung gedrückt gewesen. Grandad sagte regelmäßig Sachen wie: »Tom, richte deinem Vater aus, dass du morgen mit mir zur Hütte kommen kannst«, oder: »Tom, richte deinem Vater aus, dass der Holden zur Inspektion muss.« Er sagte das sogar, wenn Harry direkt vor seiner Nase saß. Er benutzte seine Enkel, um mit seinem eigenen Sohn zu kommunizieren. Kein Wunder, dass wir alle so verkorkst sind, dachte Tom verbittert, als er seinem Vater zusah.

Nach dem Tod ihres Großvaters hatten Tom und Bec es während der Schulferien meist übernommen, die Herden zu treiben. Tom konnte seinem Vater den glühenden Neid beinahe ansehen, wenn er eine Herde hereintrieb. Ganz ohne Geschrei, ohne wildes Gehupe oder nebenher trottende Hundemeuten. Die Schafe schienen wie von selbst in die Pferche zu fließen, während Tom und Bec langsam und mit lockerem Zügel nebenher ritten. Sie unterhielten sich sogar dabei, meistens erzählte Bec begeistert über Viehzuchtprogramme, die sie erproben sollten, oder von neuem Saatgut, das sie ausbringen konnten.

»Von wegen!«, schlossen sie jedes Mal im Chor. Dann sahen sie sich an und brachen in Gelächter aus, beide bemüht, die engen Fesseln zu dehnen, die ihnen ihr Vater anlegte. Becs Hunde waren bislang ihre einzige erfolgreiche Veränderung im Hinblick darauf, wie die Farm geführt wurde.

Ihre Kelpies hatten einen so ausgeprägten Instinkt, dass sie ihr die Schafe wie von selbst zuführten. Tom und Rebecca brauchten nur am Zaun entlang auf die Front und Flanke einer Herde zuzureiten, und die Hunde erledigten den Rest, indem sie die Schafe vorwärts trieben. Falls die Herde ausbrach oder zu schnell wurde, rannte Bessie instinktiv vor die Herde, um ihr gewaltlos den Weg zu versperren. Dabei hielt sie reichlich Abstand, damit die Leitschafe nicht abdrehten und die Herde zu kreisen begann. Anschließend sah sie aufmerksam auf Tom und wartete auf das nächste Kommando.

Genau das hatte Bessie heute auch getan, nur dass Harry das nicht begriff. Er war so ganz anders als Grandad. Je älter Tom wurde, desto mehr erkannte er seinen Vater in seinem Bruder Mick wieder. Mick arbeitete inzwischen nur noch selten mit den Herden. Er zog es vor, im Maschinenschuppen herumzubasteln, die Fahrzeuge zu inspizieren und aus eselsohrigen, ölfleckigen Katalogen neue Ersatzteile zu ordern. Natürlich galt das nur für die Zeit, bevor Trudy auf der Bildfläche erschienen war. Inzwischen verschwand er öfter über ein verlängertes Wochenende und besuchte Trudys Eltern. Jedes Mal wirkte er bei der Rückkehr noch distanzierter. Seit sie ihre rituellen Freitagabend-Besuche in Dirty’s Pub aufgegeben hatten, redete Tom kaum noch mit Mick. Manchmal unterhielten sie sich kurz über die Farm, aber nur ganz selten sprach Mick über seine Beziehung mit Trudy.

»Irgendwann muss jeder erwachsen werden«, bemerkte Mick. »Sie ist eine echt gute Haut, du musst sie nur besser kennenlernen.« Als Tom daraufhin keine Miene verzog, bohrte Mick weiter: »Sie kocht mir leckere Sachen, und außerdem hat ihr Alter Kies.« Mick hatte das ironisch gemeint, doch Tom konnte ihm ansehen, dass ein Körnchen Wahrheit in seiner Bemerkung lag. Trudy war eine kleine Prinzessin aus gutem Hause, die nur zu gern die Rolle einer Farmerfrau in einem großen Gutshaus spielen wollte.

Plötzlich zupfte Hank kurz an seinem Gebiss, drehte den langen Kopf der Straße zu und stellte die Ohren auf. Tom folgte dem Blick des Wallachs. Es war Trudy. Sie raste in ihrem roten Ford Laser den Hügel herunter, viel zu schnell und Staub und Steinchen aufwirbelnd. Als sie an der Herde vorbeizog, hupte sie und winkte aus dem Fenster. Tom lächelte still vor sich hin, als die Leitschafe in der Herde stehen blieben und dem kleinen roten Flitzer nachschauten, aus dessen CD-Player Celine Dion quäkte. Im Geist sah er, wie sein Vater im Fahrerhaus des Pick-ups rot anlief und fluchte. Bestimmt schwollen gerade die Adern in seinem Hals, und er zischte etwas wie: »Blöde dumme Kuh.«

Sie fuhr durch das Tor und stieg danach aus, um es zu schließen.

»Lass es auf!«, brüllte Harry aus mehreren hundert Metern Entfernung. Celine jodelte ihren Liebeskummer über die Weiden hinaus. Trudy legte die Hand ans Ohr und machte tonlos: »Was?«

»Nicht zumachen! Nicht – zu – machen!«, brüllte Harry.

»Okay!«, lächelte die hüpfende Trudy und rannte los, um das Tor zu schließen. Zufrieden, dass sie alles richtig gemacht hatte, winkte sie ihnen zum Abschied zu, als würde sie auf Weltreise gehen, sprang in ihren Laser und röhrte in Richtung Farm.

»Verflucht und zugenäht«, sagte Tom. Heute Abend würde am Esstisch wieder dumpfes Schweigen herrschen, so viel stand fest.


Bis sie das Tor wieder geöffnet und die kreisende Herde hindurch und über den langen Hügel zu den Wiesen am Fluss getrieben hatten, war die Sonne schon hinter einem stummen, blauen Berg untergegangen. Hank wusste, dass sein Arbeitstag so gut wie vorüber war, und grüßte mit einem bebenden Wiehern Rebeccas Stute, die am Zaun der Koppel bei der Farm auf und ab trabte und nach ihrem Gefährten rief.

Jedes Mal, wenn Rebecca schrieb oder anrief, fragte sie Tom: »Wie geht es Stinky?«

Frankie hatte der aus einem guten Stall stammenden Stute vor einigen Jahren das Leben gerettet. Ein alter Mann unten im Tal hatte sie auf seinem Grund großgezogen, konnte aber die Tierarztrechnungen nicht mehr begleichen, nachdem die Stute sich an einem Zaunpfahl aufgespießt hatte. Er wollte das Tier schon erschießen, als Frankie in ihrem verbeulten Allradgefährt aufgetaucht war und ihm ein Angebot unterbreitet hatte. Der Alte hatte damals schwer getrunken, doch Frankie hatte genau gesehen, dass seine Augen nicht vom Saufen wässrig waren. Sie behandelte die Stute selbst, ungeachtet der beträchtlichen Kosten. Und dank Rebecca, die damals die nässende Wunde hingebungsvoll säuberte, hatte die Stute überlebt. Der Deal war, dass Rebecca das Tier behalten durfte und dafür das erste Fohlen, falls die Stute trächtig werden sollte, zu dem Alten ins Tal zurückgeschickt werden sollte. Das Pferd war als Australian Stockhorse namens Beaufront Ink Jet registriert. Natürlich hatte sich der Name Ink Jet, kaum hatte das Tier Rebecca gehört, erst zu Stink Jet und dann zu Stinky gewandelt. Rebeccas Mutter schüttelte jedes Mal den Kopf, wenn sie hörte, wie ihre Tochter ihr Pferd Stinky rief. Der Name wurde dem Tier nicht gerecht. Die Stute war ein zähes, kleines Tier, gedrungen, von festem Wuchs und für eine Stute angenehm temperamentvoll.

Tom beobachtete sie, während er den abgesattelten Hank zum Gatter führte. Stinkys gut ausgebildete Muskeln glänzten in glatten Wölbungen unter dem schwarzen Fell. Dank der fetten Wiesen auf den Flussweiden von Waters Meeting war sie gut in Form – fast zu gut. Manchmal reagierte sie beim Reiten ein bisschen störrisch. Jetzt bog sie den Hals und schnupperte an der platt gedrückten Stelle, wo die Satteldecke auf Hanks geschwungenem Rücken gelegen hatte.

»Na, meine Schöne«, sagte Tom freundlich, streckte die Hand aus und legte sie auf ihren Hals.

»Vielleicht kommt Bec dich bald besuchen, Mädchen. Vielleicht kommt sie zum großen Fest nach Hause. Das wäre schön, nicht wahr?« Die feste Mähne der Stute lag in dicken Zotteln auf ihrem Hals. »Allerdings müssen wir dich ein bisschen sauber machen, bevor sie kommt, meine Stinkerin. «

Auf dem Rückweg zu dem kleinen hölzernen Sattelschuppen, der sich träge an den alten steinernen Stall zu schmiegen schien, kam er an der Werkstatt vorbei und warf einen kurzen Blick hinein.

Dort saß Mick im Fahrerhaus des Pick-ups hinter getönten Scheiben, das Gesicht so lustverzerrt, dass es schon fast gequält wirkte. Im Vorübergehen konnte Tom Trudys Beine hinter der offenen Fahrertür und ihren Kopf erkennen, der sich rhythmisch über Micks Schoß auf und ab bewegte. Ganz langsam zog Mick den Kopf nach vorn, machte die Augen auf und registrierte leicht erschrocken, dass sie beobachtet wurden. Als er erkannte, dass es Tom war, entspannte sich seine Miene wieder, und er zwinkerte ihm zu.

Tom senkte verlegen den Kopf und eilte vorbei, um seinen Sattel wegzubringen. Er fluchte leise, dann pfiff er nach Bessie, die damit beschäftigt war, die Hühner wie jeden Abend in den Stall zurückzutreiben.

Als Tom später in der warmen Küche saß, schaute er Trudy zu, die durch den Raum flog, als würde sie für die Auszeichnung der »Farmerfrau des Jahres 1950« kandidieren. Auf dem Tisch lagen verstreut Hochzeitskataloge, deren Seiten mit gelben und rosa Post-its markiert waren. Das Telefonbuch lag bei F wie Floristen aufgeschlagen daneben.

F für Fick dich, dachte Tom und sah ihr eisig zu.

Trotzdem plapperte sie ungerührt weiter: »Natürlich können meine Eltern einfach nicht verstehen, warum ich mir eine Buschhochzeit antun will. Sie verstehen nicht mal, warum ich den Busch so liebe und hier draußen mitten im Nichts leben möchte. Sie hätten es lieber, wenn der Empfang in Dads Club in der Stadt stattfinden würde und die Hochzeit in der Kirche, in der sie damals geheiratet haben. Sie haben angeboten, alles zu bezahlen, darum nehme ich an, dass ich nicht in allen Punkten meinen Willen durchsetzen kann. Michael und ich könnten so eine Hochzeit nicht bezahlen. Dad hat sogar schon den DJ ausgesucht. Er ist Anwalt, weißt du? Ist das nicht witzig, Tom, ein Paragrafenreiter als Discjockey?«

Tom wusste genau, dass Trudy ihn mit Absicht zutextete. Er wusste, dass sie die hirnlose Blondine spielte, wann immer es ihr passte. Tom erinnerte das an seine Hündin Bessie. Sie setzte ganz ähnliche Mittel ein, wenn sie etwas angestellt hatte. Er fragte sich, ob er Trudy seine Theorie erklären sollte.

Aber bevor Tom etwas sagen konnte, kam Harry in die Küche, und mit ihm der Duft von billigem Shampoo. Er sah Trudy an und seufzte. Trudy hörte auf zu werkeln und verstummte. Harry griff nach einer Ausgabe des Rural Weekly und ging in den Salon mit dem knisternden Holzofen, den Tom vorhin zum Leben erweckt hatte. Er zog die Tür betont kraftvoll hinter sich zu.

»Er ist immer noch sauer auf mich wegen dieser Gattergeschichte heute Nachmittag«, flüsterte Trudy und beugte sich dabei über Tom, als würde sie ihn ins Vertrauen ziehen. Sie seufzte und warf einen vorsichtigen Blick in den Holzherd.

»Aber ich krieg schon noch raus, wie diese Farm … und diese Familie läuft.« Sie hatte die Zähne zusammengebissen. Dann wechselte sie wieder zu ihrer Zuckerstimme: »Tom, sei ein Schatz und ruf Michael, die Fleischwurst ist gleich fertig.«

»Das ist schon die zweite Fleischwurst, die du dir heute in den Mund stopfst, Trudy«, sagte Tom und huschte eilig aus der Küchentür. » Wenn du so weitermachst, passt du bald nicht mehr in dein Hochzeitskleid.«

Trudy stand in ihren mit Hühnern bedruckten Herdhandschuhen neben dem Ofen und starrte ihm mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen nach.

»Idioten«, sagte sie und kickte die Katze mit der Fußspitze aus dem Weg.

Wo die Wasser sich finden australien2
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