Kapitel 6

Rebecca hörte, wie die Schermaschine in den Leerlauf fiel und die scharrenden Hufe festen Stand zu finden versuchten. Automatisch reagierte sie auf das veränderte Geräusch. Sie hob das Vlies in einer einzigen, geschmeidigen Bewegung auf und warf es hoch. Die weiße Wolle schwebte durch die Luft und landete aufgefächert auf dem Holzbohlentisch. Dann griff sie nach ihrem Besen und kehrte die Locken beiseite, bevor Barney den nächsten Schafbock herbeizerrte.

Für Rebecca war das Zuarbeiten wie ein Tanz. Sie kannte die Schritte auswendig und vollführte sie ohne nachzudenken. Schon als Kind hatte sie diesen Tanz gelernt, als sie während der Schur auf Waters Meeting neben ihrem Großvater gearbeitet hatte. Gleich beim ersten Mal hatte sie sich in den Geruch der Wolle verliebt, die den Schafen vom Leib fiel. Stundenlang war sie damals dabeigestanden und hatte, hypnotisiert von den Bewegungen der Scherer, zugeschaut. Die Männer im Team, durchwegs fest angestellte Arbeiter, ermutigten Rebecca, ihnen zu helfen. Sie ließen sie kurz vor der Vesper die letzten Wollreste von den Schafen entfernen, sodass sie schon als Sechzehnjährige ein Schaf in weniger als vier Minuten scheren konnte. Ihr Großvater zeigte ihr, wie er die Wolle klassifizierte, indem er die langen, weißen Wollfäden zwischen Daumen und Zeigefinger durchlaufen ließ und sie mit einem Schnippen des Mittelfingers auf ihre Festigkeit prüfte. Rebecca half ihm oft, die erstklassigen Vliese in den Behältern zu hohen weißen Bergen aufzutürmen. Die Schur dauerte auf Waters Meeting nur zwei Wochen, aber Rebecca genoss jeden einzelnen Tag.

Auf Blue Plains hatten sie inzwischen seit zwei Wochen geschoren, waren bei der dritten Herde angelangt und hatten noch mehrere Wochen Arbeit vor sich. Schon jetzt freute sie sich auf die Schurparty danach. Alastair würde aus dem AR-Hauptbüro in der Stadt angeflogen kommen, zusammen mit der versprochenen Flasche Rum für Dave und einer Flasche Bailey’s für Rebecca. Für sie war Alastair ein echter Mentor. Sie hing an seinen Lippen, wenn er sich über die ökonomischen Prognosen für jeden einzelnen Landwirtschaftszweig ausließ oder berichtete, von welchen Betriebsübernahmen in der Branche gemunkelt wurde. Er war bei allen landwirtschaftlichen Entwicklungen rund um den Globus auf dem Laufenden und konnte diese Informationen bei jedem einzelnen AR-Betrieb in Managemententscheidungen umsetzen. Rebecca bewunderte ihn, und sie wusste, dass Alastair Potenzial in ihr sah. Sie war die jüngste Angestellte im ganzen Unternehmen, aber Alastair ließ keinen Zweifel daran, dass sie zu den Besten gehörte. Er erzählte oft und gern die Geschichte, wie er Rebecca und ihre Hunde auf den Viehhöfen »entdeckt« hatte. Aber er erinnerte sich lieber nicht daran, dass er ihr versprochen hatte, sie könne mit den Zuchtwiddern arbeiten. Rebecca liebte zwar die körperliche Arbeit auf der Station, aber sie sehnte sich danach, mehr mit den Zuchttieren arbeiten zu können, ihre genetischen Eigenschaften zu studieren und das Muster der Vliestypen zu prophezeien, das jedes Schaf liefern würde.

In letzter Zeit allerdings waren ihre Gedanken, selbst hier auf dem Scherstand im Stall, meilenweit von jeder Wolle entfernt. Während Rebecca die Vliese hochwarf und sortierte, träumte sie immer wieder von ihrem Flusskuss. Immer wieder durchlebte sie jeden Augenblick bis zu der Sichtung des U-Bootes. Seit der Party hatte sie sich über Charlie schlau gemacht. Seine Party-Persönlichkeit »Basil« war legendär. Er stammte irgendwoher aus dem Südwesten. Einen »Diesel-Dick« hatte ihn jemand genannt, und einen »Getreidegeier«. Rebecca kannte diese Art von Farmerjungen. Es waren Burschen, die Traktoren, Sämaschinen, Ackerfräsen, Trucks, Getreidesilos, Bulldozer und alles andere aus Metall liebten. Die glückselig Tag und Nacht auf einem Traktor schnurgerade Furchen ziehen konnten oder die ganze Tage im Maschinenschuppen untertauchten, um an den Motoren herumzubasteln oder etwas Neues zu erfinden. Diesel-Dicks waren jene Typen, die nach der Ernte aufmerksam und hoffnungsvoll auf den Regen warteten, damit sie den Boden endlich wieder umpflügen und die neue Saat ausbringen konnten. Lächelnd stellte sich Rebecca Charlie hoch oben auf einem riesigen Traktor vor. Nackt.

Sie schüttelte den Gedanken aus dem Kopf und trat schnell vor, um die Bauchwolle aufzunehmen und hastig die urinfleckigen Stellen auszuzupfen; dann warf sie die Wollreste wie ein Basketballer in die Tonne und begann, mit einem Lächeln für Neville, den Wollklassifizierer, die Locken unter dem Tisch zusammenzukehren. Sie liebte das Zuarbeiten. Es war wie ein zweimal vierstündiger Aerobic-Kurs jeden Tag. Nicht einmal stützte sie sich auf den Besen. Die Scherer nahmen das wahr und mochten sie dafür. »Dampfnudeldave« musste hingegen die endlosen Neckereien der Scherer über sich ergehen oder, wie sie es nannten, sich »anpieseln« lassen. Sie nannten ihn Dampfnudel, weil er sich so langsam erhob wie Hefeteig. Er ließ sich Zeit am Scherstand, vor allem, wenn er sich bückte, um ein Vlies aufzuheben.

»Letztes Schaf!«, rief Reg, der den letzten schweren Widder aus dem Pferch hereinschleifte. Der Widder sackte zwischen seinen Beinen zu Boden, Reg zog die blauen Hosen hoch, wischte sich das Gesicht am Handtuch ab und zog im Bücken das Kabel der Schermaschine zu sich her. Dann fasste er nach dem Scherkopf und begann zu scheren. Wenn die Scherer »Letztes Schaf!« riefen, kam Bec Dave regelmäßig zuvor. Sie pfiff nach Dags und marschierte zu den hinteren Pferchen.

»Zusammentreiben, zusammentreiben«, befahl sie ihm, und Dags ritt auf den Schafen in die Haltepferche. Inzwischen hatte sie es raus, wie sich die Tiere im Stall verhielten. Wenn sie den richtigen Zeitpunkt erwischte, konnte sie alle auf einmal mit einem Minimum an Gedränge und Geschubse durch das Tor treiben. Aber wenn sie diesen Zeitpunkt verpasste, kam das Leitschaf zum Stehen, kehrte um und war dann nicht mehr zu bewegen. Anschließend musste sie dann jedes Mal die Schafe einzeln wieder umdrehen und in die richtige Richtung schubsen, wobei sie das Tor einsetzen musste, um zu verhindern, dass sie zurückliefen. Gleichzeitig wusste sie, dass sie nicht zu lange vom Scherstand fernbleiben konnte, weil Dave in Panik geriet, wenn zwei Schafe gleichzeitig abgeschoren waren.

Aber mit Dags an ihrer Seite konnte sie den Job im Nu erledigen. Selbst Stubbys Welpe Mouse zeigte schon vielversprechende Ansätze im Scherstall und bewies große Kraft. Ein Scherer hatte ihr fünfhundert Dollar für Mouse geboten, aber Bec ließ sich nicht beschwatzen, solange sie nicht mehr als das Doppelte geboten bekam. Mouse war jeden Dollar wert.

Rebecca versuchte nicht auf die Uhr zu sehen, als eine Gruppe von Schafen nach der anderen an ihr vorbeilief, aber an diesem Nachmittag konnte sie nicht anders. Es waren nur noch fünf Minuten bis zur Nachmittagsvesper. Gleich würde die Köchin Katie mit einem großen Korb voller Sandwichs und Wurstbroten in Alufolie in den Stall marschiert kommen. Dave hatte schon den Teekocher eingeschaltet, unter dessen Dampf die Fenster beschlugen, bis der Sonnentag draußen trüb und grau erschien.

Als die Vesper kam, war die Stille eine Wohltat. Die surrenden Sunbeam-Schermaschinen kamen ratternd zum Stehen, dann griffen die Scherer nach den Ölkannen, Handtüchern und Zigaretten. Während sich einer nach dem anderen zum Tee niederließ, waren nur noch die scharrenden Hufe der Schafe zu hören, die langsam in ihrem Gehege herumwanderten. Die AR-Manager hatten die meisten Ställe auf ihren anderen Gütern genau im Auge, aber auf Blue Plains musste die Qualitätskontrolle während der Schur erst noch aufpoliert werden. Die Schreibtischhengste hatten es noch nicht so weit hinaus geschafft, darum war das Rauchen im Stall noch nicht verboten worden, und alle aßen ihre Vesper auf den niedrigen Holzbänken bei den Wollbehältern. Bec gefiel diese altmodische Nonchalance, doch ihr war klar, dass sich die Dinge ändern mussten. Auf Waters Meeting hatte sie ihren Vater zu überzeugen versucht, die Schadstoffbelastung der Wolle zu minimieren und dafür einen Pausenraum anzubauen, aber ihre Vorschläge waren auf ein schlichtes, endgültiges »Quark …« gestoßen, was in der Sprache ihres Vaters hieß, dass er nichts weiter davon hören wollte.

Hier auf Blue Plains war dies die letzte Schur, bevor der Scherstall umgearbeitet werden sollte. Wahrscheinlich war es auch Becs letzte Schur hier, denn in wenigen Monaten würde sie ihr Studium aufnehmen. Sie beschloss, das Beste daraus zu machen und die Scherer zum Lachen zu bringen. Sie flehte Dave an, kein Eiersandwich zu essen.

»Es löst eine Abwehrreaktion im Unterleib aus«, erläuterte sie scheinbar verzweifelt und mit aufgerissenen Augen, »die ziemlich schmerzhaft und äußerst unangenehm für alle Beteiligten sein kann!«

Dave ließ einen krachenden Furz fahren, der die lanolindunklen Dielen, auf denen er saß, vibrieren ließ.

»Genau das«, sagte Barney, riss Dave das Sandwich aus der Hand und schleuderte es über die Gittertür auf den Rost hinaus. Dann warf er sein durchschwitztes Handtuch über Daves Kopf.

»Oi!«, protestierte Dave unter seinem gestreiften Kopfputz hervor.

Die Scherer redeten mit Bob über Sport und das Wetter, während Bec mit Barney über Hunde sprach. Dave saß still und langsam kauend daneben.

Es war Freitag, Annabelle würde heute Abend vorbeikommen, und Bec hatte angeboten, den beiden einen Braten zu machen. Sie müsste nach der Arbeit sofort losrennen, wenn sie noch die Hunde füttern und den Braten rechtzeitig in den Ofen bekommen wollte.

Was man nicht alles aus Liebe tut, dachte sie. Der Liebe anderer Leute zuliebe.


Sie war gerade dabei, den schweren Bräter in den fettigen Ofen zu schieben, als die Fliegentür quietschend verkündete, dass jemand auf die Veranda gekommen war. Es war Bob, und er war außer Atem.

»Telefon für dich«, schnaufte er.

Der Apparat für die Arbeiter, ein Münztelefon, war aus unerfindlichen Gründen in einer Ecke jenes Pultdachschuppens aufgehängt, in dem die Motorräder standen. Es war ätzend, in kalten Nächten zu telefonieren, und es war auch nicht der Ort für vertrauliche Gespräche, weil die Mechaniker immer Schlange standen, um das Telefon zu benutzen. Infolgedessen rief Bec kaum jemanden an.

Der Hörer baumelte neben dem Haken, und Bec fragte sich stirnrunzelnd, wer sie wohl anrief.

Ihr »Hallo« kam eher zaghaft.

»Schwester!«

»Mick! Warum zum Teufel rufst du an?« Seit Monaten hatte sie nichts von ihm gehört. Was sie über ihn wusste, hatte sie von Tom oder ihrer Mum erfahren. Augenblicklich begann ihr Herz zu klopfen. »Was ist passiert?«

»Noch gar nichts, du Schaf. Ich wollte nur anrufen, um dir zu sagen, dass ich heiraten werde.«

»Heiraten! Heilige Maria. Ich meine, herzlichen Glückwunsch! Du heiratest doch Tur … ich meine Trudy?«

»Logisch! Hier. Sie steht hier neben mir, ich gebe dich mal weiter.« Bec wollte noch protestieren, aber Mick war schon weg, und ihr tröpfelte ein zuckersüßes »Hi Becky« ins Ohr.

»Ähh. Ja. Guten Tag. Wie geht’s? Nett, dass wir uns mal sprechen. Ähm. Herzlichen Glückwunsch übrigens! Das sind ja tolle Neuigkeiten.« Bec schnitt sich selbst eine Fratze und schob die Hand tief in die Tasche ihrer schafdungbefleckten Jeans.

»Ich habe darauf bestanden, dass Mikey dich anruft. Er schiebt dieses Gespräch schon seit Tagen vor sich her – ich bekomme ihn kaum aus dem Maschinenschuppen. Er telefoniert wirklich schrecklich ungern. Du kennst ihn ja.«

»Yep. Und … habt ihr schon einen Termin für die Hochzeit? «

»Aber ja. Den vierzehnten Februar, am Valentinstag.«

»Mmmm. Gute Wahl.«

»Du kommst doch, oder, Rebecca? Du musst unbedingt kommen. Ich würde dich so gern kennenlernen. Ich finde, du solltest auch Tom zuliebe kommen. Er vermisst dich so … nicht dass er das je zu mir sagen würde, wohlgemerkt … wie dem auch sei, wir müssen jetzt los. Wir haben heute Abend einen Empfang im Gemeindesaal organisiert.« Bec hörte, wie Trudy die Hand über die Sprechmuschel deckte und laut rief: »Michael, komm her und verabschiede dich von deiner Schwester!« Dann drang ihre Stimme wieder laut und überschwänglich an Becs Ohr.

»Er winkt dir.«

Bec hörte von fern Micks Stimme: »Bis dann, Pferdearsch. « Sie hörte noch, wie Trudy mit ihm schimpfte, dann legte sie auf. Ein Empfang im Gemeindesaal? Kein Besäufnis im Pub? Etwas stimmte nicht, dachte Bec und lief in die Unterkunft zurück. Mick konnte es nicht ausstehen, wenn er Michael genannt wurde. Trotzdem hatte er glücklich geklungen. Ihre ganze Kindheit hindurch hatte er kaum mit Rebecca gesprochen. Und wenn, dann nur, um sie herumzukommandieren oder zu ärgern. Er hatte sie immer auf Abstand gehalten. Er war der älteste Sohn – der eines Tages den Großteil der Farm erben sollte. Darum war es immer Mick gewesen, den ihr Vater im Pick-up mitnahm. Mick durfte als Erster den neuen Traktor ausprobieren, und er durfte mit Harry eine Ladung Heu in die Stadt bringen.

Ach was, dachte Bec, es war nett, dass sie angerufen hatten, und solange Trudy ihn glücklich machte, war das für Rebecca in Ordnung. Aber dann musste sie an Toms Briefe denken. Sie erinnerte sich an seine Bemerkungen, dass Trudy nicht wirklich begreife, was es bedeute, eine Farmerfrau zu sein und mit wie wenig Geld sie zu jeder Jahreszeit über die Runden kommen mussten. O Gott, dachte sie, und in ihrem Kopf blitzte die Vision einer imaginären Trudy mit Pelzmantel und Brillantenkollier auf. So was war schon vorgekommen – ganze Farmen und ganze Vermögen waren von goldgierigen Ehefrauen aufgezehrt worden. So ein netter Hof und Garten, schade um das Vieh und die Weiden, dachte Bec trocken. Warum wollte Mick sie eigentlich heiraten? Er war doch nicht blind? Plötzlich erfüllte der Gedanke, was mit Waters Meeting geschehen würde, Rebecca mit Grauen.

Statt im Laufschritt zur Unterkunft zurückzukehren, machte sie kehrt und rannte zu den Hundezwingern. Sie musste mit Mossy sprechen und Trost bei ihren Hunden suchen. Rebecca hatte es so eilig, dass sie nicht einmal bemerkte, wie die Sonne jenseits der Ebene in strahlender Schönheit unter dem weiten, orangefarbenen Himmel versank.

Wo die Wasser sich finden australien2
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