Kapitel 8

Anfangs fühlte er sich in Frankie Saunders’ Wohnung fehl am Platz. Er kam sich viel zu groß für das winzige Wohnzimmer vor, als er, die Arme auf dem Rücken verschränkt, darin umherging und sich ab und zu vorbeugte, um ein Familienbild zu studieren. Er gab sich alle Mühe, nicht zu lange auf den Ex-Ehemann zu starren, wollte aber gleichzeitig Interesse an den drei lächelnden Kindern und der Hundeschar zeigen.

»Was möchtest du trinken, Peter?«, hörte er Frankies Stimme aus der Kochnische. Sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, drehte sie ihm den Rücken zu und werkelte an der Kochzeile herum. Sie war genauso nervös wie er, das verriet ihre hohe, gepresste Stimme.

»Oh. Ähhh … gerne Wein.«

»Um. Wein? Oh. Ach. Wein.«

»Wenn du keinen hast, tut es auch Wasser.«

»Wie steht es mit Bier?«

Frankie fiel ein, dass sie vor Monaten für ihre einsame, vor dem Fernseher begangene Feier des großen Finalspiels in der Australischen Football-Liga ein traurig aussehendes Sixpack gekauft hatte. Die Dosen lagerten immer noch hinten in ihrem zwergenhaften Kühlschrank, wo sie viel zu viel Platz einnahmen. Sie erinnerte sich, dass sie eine rote Bratwurst gegessen und den Anstoß angeschaut hatte, um dann, ohne auch nur ein einziges Bier aufzureißen, zu Bett zu gehen, wo sie weinend der Finalspiele vergangener Zeiten gedacht hatte. In ihrer Erinnerung waren ihre Kinder alle beisammen. Rebecca und die Buben, die in ihren Trikots auf dem Wohnzimmerboden rauften. Lange Wimpel umrahmten den brummenden und knackenden, weil viel zu laut eingestellten Fernseher. Sie versuchte sich ein paar der selbst gedichteten Gesänge ins Gedächtnis zu rufen, die sich alle nicht wirklich gereimt hatten. Immer wenn sie länger an Footballübertragungen dachte, musste sie unwillkürlich auch an Harry und den leeren Blick denken, mit dem er die Spiele verfolgt hatte.

Manchmal, wenn sie ihn in seinem Sessel thronen sah, die Füße auf einen alten Melkschemel gestützt, hätte sie schwören können, dass er gleich sabbern würde, und malte sich dann aus, wie sie die Hände unter sein Kinn halten würde. Zu anderen Gelegenheiten hätte sie ihn am liebsten links und rechts geohrfeigt und ihn angeschrien: »Sprich mit mir!« Aber das tat sie nie, sie schaltete einfach ab und hoffte, dass das Telefon läuten würde und sie zu einer Kuh, die nicht kalben konnte, oder einem vergifteten Hund gerufen wurde.

Nach der Scheidung hatte Frankie sich zu erklären versucht, was schiefgelaufen war oder, dachte sie spröde, was überhaupt richtig gelaufen war. Sie war immer eine Wissenschaftlerin mit Leidenschaft für ihren Beruf gewesen. Frankie versuchte sich in Erinnerung zu rufen, wann Harry aufgehört hatte, mit ihr zu sprechen. Wann er aufgehört hatte, ihr seine Liebe zu zeigen. Doch sie konnte den Augenblick nie benennen. Irgendwann wurde ihr klar, dass er schon immer still und mürrisch gewesen war. Anfangs hatte er sie unbestreitbar erotisch angezogen. Er war ein durch und durch männlicher Mann – ganz und gar nicht wie die Akademiker, mit denen sie während des Studiums gegangen war. Ihre Freundinnen hatten oft gefragt, warum sie so lange bei ihm geblieben war, und sie hatte damals immer geantwortet: »Wegen der Kinder.« Dennoch wusste sie insgeheim, dass sie nie allein der Kinder wegen bei ihm geblieben wäre. Sie lebte für ihre Arbeit. Sie lebte für ihre Wissenschaft, und je mehr beides sie von ihrer Familie und diesem riesigen, kalten Haus entfremdete, desto vollständiger fühlte sie sich. Inzwischen nutzte sie ihre Wissenschaft und ihre Arbeit, um die tiefe Kluft, die ihre Schuldgefühle gegraben hatten, zu übertünchen.

In der Küche spannte sie kurz die Muskeln an und seufzte. Peter stand drüben im Wohnzimmer und sah aufmunternd zu ihr herüber.

»Ich bin eigentlich kein Biertrinker, aber ich werde es versuchen. Normalerweise trinke ich nur am Australia Day oder beim Football-Finale Bier.«

»Ach«, lachte Frankie und bückte sich, um das verwelkte Gemüse beiseitezuschieben und das Sixpack herauszuziehen. Sie streckte es ihm entgegen. »Nicht gerade ein Gourmetbier. Sollen wir uns vielleicht eines teilen?«

Es war noch eine halbe Stunde bis zu ihrer Reservierung in einem italienischen Restaurant zwei Straßen weiter. Frankie wünschte, sie hätte einen Hund oder eine Katze, dann hätten sie die Aufmerksamkeit und das Gespräch auf die Fellzeichnung oder die Gewohnheiten des Tieres lenken können, aber ihre Wohnung war aufgeräumt und kalt. Vielleicht sollten sie über Henburys Analdrüsenproblem sprechen, aber dieses Thema hatten sie mehr oder weniger ausgeschöpft, und der Hund hatte seit Monaten keine Unterleibsprobleme mehr.

»Setz dich doch«, sagte sie und schwenkte ihre Hand in Richtung der Couch wie eine Verkäuferin im Teleshop-Kanal.

Das Leder gab ein leises Furzgeräusch von sich, als Peter sich setzte. Er versuchte das Geräusch ein zweites Mal auszulösen, indem er sich zurechtsetzte, nur damit Frankie erkannte, dass er nicht wirklich gefurzt hatte, aber die Couch schwieg eigensinnig.

Peter rutschte an die Polsterkante vor und deutete auf das Familienfoto auf dem Fernseher.

»Du hast nette Kinder.«

»Ja.«

»Deine Tochter ist eine sehr attraktive junge Dame.«

»Sie ist ein wildes Kind. Weiß der Himmel, was sie auf dieser Schafstation treibt.«

»Wenn sie nur entfernte Ähnlichkeit mit ihrer Mutter hat, kommt sie garantiert zurecht.« Peter sah Frankie in die Augen und holte hörbar Luft, als hätte er sich gerade zu einer Entscheidung durchgerungen.

Lieber Gott, bitte mach, dass er mich noch nicht küsst, dachte Frankie.

Aber Peter sagte: »Ich weiß, das ist schwierig für uns beide. Wir haben beide eine gescheiterte Ehe hinter uns, aber du sollst wissen, dass ich keinen Druck ausüben möchte. Wir sind beide so nervös! Lass uns einfach Freunde werden, dann sehen wir schon, was sich daraus entwickelt. Okay?« Er suchte in ihrem Blick nach einer Reaktion. »Okay?«, hakte er nach.

»Sicher«, antwortete Frankie. »Auf die Freundschaft«, doch während sie ihr Glas anhob und mit ihm anstieß, dachte sie: »Verdammt!« Immerhin war das letzte Mal fast vier Jahre her.


Im schummrigen Licht des lauten italienischen Restaurants lachten Frankie und Peter über den jovialen, mondgesichtigen Musiker, der, an seinem Instrument herumrupfend, zwischen den Tischen herumtigerte. Sie kämpften mit Gabeln voll zappelnder Fettuccine, die sie in den Mund zu bugsieren versuchten, ohne dabei ihr Kinn mit Soße zu bespritzen. Bei der zweiten Flasche Lambrusco hätte Frankie beinahe bemerkt, dass die Fettuccine in diesem Licht bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Bandwürmern hatten, verkniff sich den Satz aber. Peter, dachte sie, war ein echter Städter. Erst als Peter die Fettuccine von der Gabel baumeln ließ und fragte: »Erinnert dich das an deine Arbeit?«, musste sie so laut lachen wie seit Jahren nicht mehr. Peter eröffnete ihr, dass er vor allem Naturwissenschaften unterrichtete und dass sein liebstes Fachgebiet die Biologie war.

»Wir haben in unserem Labor verschiedene Wurmarten ausgestellt. Ich muss irgendwann eine Führung für dich machen.«

»Das wäre fantastisch«, antwortete Frankie aufrichtig.

»Vielleicht könnten wir ein Abkommen mit deiner Praxis schließen, uns mit Tierteilen für unsere Experimente zu versorgen«, meinte Peter ironisch. Urplötzlich spürte Frankie, wie ihr von dem Wein und von Peters Blick warm ums Herz wurde. O Gott, dachte sie, er liebt Naturwissenschaften! Sie spürte ein leises Kribbeln im Bauch.

Nach einer ungestümen Darbietung des Musikanten und einem atemberaubenden Tanz sanken Frankie und Peter wieder auf ihre Restaurantstühle. Bald hatten sich ihre Finger auf der Tischplatte gefunden, und der Kerzenschein glomm in ihren Augen.

»Wie wär’s mit einem Port, bevor wir uns wieder auf die Straße wagen?«, fragte Peter.

»Bezaubernd.«


Draußen war die Luft abgekühlt. Peter hakte sich bei Frankie ein und ging dicht neben ihr bis zu ihrem Apartment. Sie plauderten angesäuselt und lachten laut auf der leeren Straße. Unten am Hauseingang beschloss Frankie, die Post aus dem Briefkasten zu holen. Als der winzige silberne Briefkastenschlüssel abrutschte und über den Briefschlitz kratzte, begannen beide hinter vorgehaltener Hand zu kichern.

»Ich kann das Loch nicht finden«, sagte Frankie.

»Bist du sicher, dass du den richtigen Schlitz hast?« Peter sah ihr in die Augen, und dann brachen beide in sprudelndes, kicherndes Lachen aus.

»Hier. Lass mich mal ran.« Schließlich drehte Peter den Schlüssel im Schloss und holte die Post heraus. Er blätterte durch die Umschläge. »Rechnung, Rechnung, Rechnung … aha!« Er wedelte mit einem Umschlag. »Der hier sieht interessant aus.«

Frankie sah das Licht der Straßenlaterne auf dem goldumrandeten Umschlag glitzern. Sie stutzte.

»Hier.« Peter reichte ihr den Brief.

Der große Umschlag war weiß und schwer, und die goldene, geschnörkelte Handschrift ließ ihren Namen, Dr. Frances Saunders, unglaublich pompös wirken. Ihre Finger bohrten sich unter das goldene Siegel, und ein in Goldfolie gewickeltes Schokoladeherz purzelte zu Boden. Während Frankie das steife Papier auffaltete, bückte sich Peter, um das Herz aufzuheben, den Blick fest auf ihr verdattertes Gesicht gerichtet.

»Hochzeit? Mein Sohn? O mein Gott. Mein Sohn wird heiraten.«

»Aber das ist doch toll«, freute sich Peter enthusiastisch.

»Nein. Das verstehst du nicht. Sie haben mich nicht einmal angerufen. Ich weiß gar nichts davon. Ich kenne das Mädchen überhaupt nicht. Ich habe sie noch nie gesehen. O mein Gott.« Sie presste die Hand vor den Mund. Peter legte liebevoll den Arm um sie und führte sie ins Haus und in den Lift.

Während sie auf der Couch saß, drückte er ihr eine dampfende Tasse Tee in die Hand und setzte sich neben sie, ohne sich um die gepressten Furzgeräusche zu scheren, die ihre Couch von sich gab. Frankie starrte mit Tränen in den Augen in ihre Tasse.

»Entschuldige, Peter. Bitte entschuldige. Es ist einfach ein Schock für mich. Das musst du verstehen. Er ist mein Ältester. Du weißt schon, Michael – Mick. Der mir die Schuld an allem gibt. Er findet, ich sollte zu seinem Vater zurückkehren. Deshalb hat er nicht angerufen.«

»Hey, hey, hey. Schon okay. Schon okay.« Er nahm ihr die Tasse aus der Hand und stellte sie auf dem Couchtisch ab. Dann schloss er sie in die Arme. Er legte eine Hand auf ihren Hinterkopf, und sie ließ ihr Gesicht an seine Brust sinken.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Peter und fasste mit der freien Hand nach der Einladung auf dem Couchtisch. »Hier steht Dr. Frances Saunders mit Begleitung. Wenn du möchtest, ich meine, wenn du glaubst, dass es dir hilft, dann könnte ich mitkommen. Und wenn du willst, muss ich nicht einmal zur eigentlichen Hochzeit mitgehen. Wir könnten, verstehst du, als Freunde fahren. Eine Art Kurzurlaub machen. Nur damit du während der Fahrt nicht alleine bist.«

Sie hätte nicht sagen können, ob sie Peter zum Schweigen bringen wollte oder ob sie ihm zeigen wollte, wie dankbar sie für sein Verständnis war, so oder so hob Frankie ihr Gesicht und drückte ihre Lippen auf seinen Mund.

Wo die Wasser sich finden australien2
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