Kapitel 15

In seinem düsteren, unaufgeräumten Büro knallte Harry den Hörer auf die Gabel.

»Behämmerte Bankbeamte!« Er ballte die Faust, donnerte sie gegen den Aktenschrank und blieb dann stehen, um den Papierhaufen auf seinem Schreibtisch ins Auge zu fassen. Wieder einmal zählte Harry im Kopf die Monate, bis der Scheck des Wollhändlers eintrudeln musste. Während er schwer auf seinen Bürostuhl sackte, überschlug er im Kopf, wie viele fett gefütterte Mastochsen er noch verkaufen konnte und was die Fleischlämmer wohl einbringen würden. Der Heuverkauf würde sich in engen Grenzen halten, weil er genug Heu zurückbehalten wollte, falls ein strenger Winter ins Haus stand. Wieder und wieder rechnete er alles zusammen, drehte und wendete die Zahlen, bis er sich endgültig eingestehen musste, dass die Summe nicht ausreichte. Damit konnte er den dickbäuchigen Bankbeamten kaum zufriedenstellen. Er dachte an Rebecca und an die Worte, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte.

»Du wirst noch alles verlieren.«

Er rieb mit dem kratzigen Ärmel seiner Wolljacke über seine Stirn. Seufzend stand er auf und ging durch den Flur zur Küche. Er schüttete kochendes Wasser in den Teekessel, der seit dem Frühstück am Ofenrand stand, und nahm sich dann eine Tasse. Gerade als er in den Wintergarten gehen wollte, kam Trudy in die Küche geeilt. In den Armen hielt sie ein Expresspaket, das sie gerade aus dem Briefkasten geholt hatte.

»Ach! Hallo, Harry! Ich dachte, du wärst draußen bei der Arbeit. Ich hab einen Stapel Rechnungen für dich dabei.« Sie warf sie vor ihm auf den Küchentisch und kramte dann in der Schublade nach einer Schere. Hastig schnitt sie das Paket auf und zog eine große, verschweißte Plastiktasche daraus hervor, in der Vorhänge eingeschweißt waren.

»Na endlich!«, jubelte sie schrill. »Schau mal!« Sie streckte ihm das blütenbedruckte Plastikpaket hin.

»Vorhänge für das Gästezimmer! Ich habe sie per Katalog bestellt. Ich liebe diese Kataloge … für mich ist das eine ganz neue Erfahrung! Das ist einer der Vorzüge, wenn man im Busch lebt. Ich habe sie hundert Dollar billiger bekommen. Sie werden fantastisch aussehen, wenn die Maler erst durch sind. Ich habe ein ganz sanftes Gelb ausgesucht, damit wir das Zimmer später als Kinderzimmer nehmen können.« Der Gedanke an die Möglichkeit eines Babys in ihrer jungen Ehe brachte sie zum Kichern.

»Trudy.« Harry wusste, dass seine Stimme zu streng klang. Sie legte die Vorhänge unvermittelt ab und sah ihren Schwiegervater mit großen Augen an. Er gab sich Mühe, freundlicher zu klingen. »Hat Mick mit dir über unsere finanzielle Situation gesprochen?« Sie ließ sich in einer flüssigen Bewegung auf den Stuhl sinken und begann zu schmollen.

»Es macht mir nichts aus, wenn du dein Gehalt für Sachen ausgibst, die dir gefallen, aber du brauchst dein Geld nicht in unser Haus zu stecken. Es ist noch gut in Schuss.«

»Unfug! Es bröselt und bröckelt an allen Ecken! Außerdem haben Mum und Dad die Vorhänge bezahlt. Sie haben ein Kundenkonto bei dem Versand. Es macht ihnen überhaupt nichts aus. Mum hat gesagt: ›Was immer dich glücklich macht‹. Außerdem kaufe ich nicht nur ein, weil es mir Spaß macht! Ich tue das auch für Michael und dich. Und dann gibt es meinen Eltern ein gutes Gefühl, wenn sie mir helfen können, indem sie sich an meinen Renovierungsarbeiten beteiligen.«

Harry setzte Teekessel und Tasse ab, als wolle er zu einer Rede ansetzen. Trudy sah ihn an.

»Ich hatte eine Überraschung für dich geplant«, kam sie ihm zuvor. »Aber es sieht so aus, als müsste ich sie dir schon vorab verraten.«

Sie holte Luft.

»Ich habe dir zum Geburtstag einen Computer bestellt. Für die Farm. Für die Buchhaltung. Er hat E-Mail und Internet und sogar einen Fotoscanner. Außerdem sind tonnenweise Spiele darauf, die du – «

»Trudy!«, brach es aus Harry heraus. »Hältst du das alles für ein verfluchtes Kinderspiel? Das … das hier.« Sein Arm schwenkte über die Küche und das Fenster. »Diese verfluchte Farm ist kein Puppenhaus. Wir haben kein Geld übrig für Landschaftsgärtner und neue Möbel und Anbauten und …«

»Aber …« Doch Harry schnitt Trudy mit erhobener Hand das Wort ab.

»Ich werde ganz bestimmt nicht zulassen, dass sich deine Eltern klammheimlich in meine Farm einkaufen und sie mir irgendwann unter der Nase wegziehen. Es steht ihnen nicht zu, ihr Geld für ein Heim auszugeben, das ihnen nicht gehört. Das werde ich nicht dulden.«

Er bremste sich, verstummte und versuchte abzuschätzen, welche Reaktion er damit auslösen würde. Er rechnete mit Tränen. Die Uhr tickte.

Doch stattdessen hatte er den Eindruck, dass Trudy sich plötzlich häutete. Harry konnte beobachten, wie die Maske der liebevollen Schwiegertochter von ihrem Gesicht verschwand. Ihr Schmollmund und die mädchenhafte Launigkeit waren wie weggefegt, und ihr Gesicht strahlte eine Kälte und Härte aus, die sogar Harry zusammenzucken ließ. Langsam stand sie auf.

»Jetzt hörst du mir zu«, erklärte sie in ihrer stechendsten Lehrerinnenstimme. »Michael arbeitet sich Tag für Tag auf dieser Farm für dich krumm. Er steht bei Tagesanbruch auf und kommt erst spätabends zurück, sodass ich ihn praktisch nie sehe. Er bekommt kaum einmal ein Wochenende frei, während ich hier drin schufte, um dir dein verfluchtes Essen hinzustellen. Glaubst du wirklich, wir tun das alles für dich? Wirklich?« Ihre wütenden Augen bohrten sich in Harrys, und ihr Mund verzerrte sich unter dem monatelang angestauten Hass.

»Das tun wir ganz bestimmt nicht. Wir buckeln nicht für dich. Wir buckeln für uns. Für Michael und mich. Er schuftet so schwer, damit er und ich eine Zukunft haben. Er ist der älteste Sohn. Ihm steht die Farm zu … und das Haus. Und was meine Eltern und ich mit unserem Geld anfangen, geht dich einen feuchten Dreck an. Wir haben uns Baupläne für Fertighütten angesehen, damit wir dir unten am Fluss ein eigenes Haus bauen können, statt selbst ausziehen zu müssen. Dad hat schon einen Bauunternehmer beauftragt. Wir führen eine junge Ehe, Herrgott noch mal, und dir ist nicht mal aufgegangen, dass du für uns nur eine Belastung bist, indem du dich an diesem Haus festklammerst.

Michael und ich haben schon alles durchgesprochen und beschlossen, dass er ein festes Gehalt vom Farmkonto bekommen sollte, bis du dich zurückziehst. Ein Gehalt, das den vielen Arbeitsstunden und seiner großen Verantwortung gerecht wird, nicht das erbärmliche Taschengeld, mit dem du ihn abspeist, wenn dir der Sinn danach steht.«

Die ganze Zeit stand Harry stocksteif vor ihr. Der Mund stand ihm fassungslos offen. Das war ihm noch nie passiert. So hatte noch nie eine Frau oder gar ein Mädchen mit ihm gesprochen. Nicht einmal Rebecca oder Frankie hatten jene Grenzen übertreten, die Trudy gerade eingerissen hatte. Sie war so selbstsicher. Aus ihr strahlten eine Selbstsüchtigkeit und eine Bosheit, wie er sie noch nie erlebt hatte. Er beugte sich quer über den Tisch zu ihr hinüber und erklärte mit zusammengebissenen Zähnen:

»Falls du dieses Haus bekommst, Trudy. Falls du diese Farm bekommst, dann nur über meine Leiche.«

Sie hielt seinem Blick ungerührt stand. »Schön.« Sie beugte sich ebenfalls vor. »Wenn du es so haben willst.«

Genau in diesem Augenblick hörten sie, wie Michael zur Hintertür hereinkam und sich die Stiefel von den Füßen trat.

»Ich bin wieder da. Stellt den Wasserkessel auf!«

Trudys Augen wurden, ohne dass sie sich von Harry abgewandt hatten, wieder weich und füllten sich mit Tränen. Sie ließ ihren Körper auf den Stuhl sinken und begann, den Kopf in die Arme gelegt, zu schluchzen, bis die Tränen auf die Plastikhülle der neuen Blumenvorhänge tropften.

»Wie kannst du es wagen, mich aus meinem eigenen Haus jagen und in eine Holzhütte stecken zu wollen? Undankbare Schlampe.«

Harry fegte den Teekessel und seine Tasse vom Tisch. Während beides mit lautem Klirren zu Boden fiel, stürmte er aus der Tür, wo seine Schulter schmerzhaft gegen die Michaels rammte.

Wo die Wasser sich finden australien2
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