Kapitel 17

Da ist eine E-Mail für dich«, rief Charlotte von der Empfangstheke aus, wo sie auf ihrem Stift kaute. Frankie stakste mit langen Schritten durch den Korridor.

»Für mich?« Sie runzelte die Stirn. Sie bekam sonst nie E-Mails.

»Sieht aus, als wäre sie von deinem Sohn.«

»Meinem Sohn?«

»Tom.«

Charlotte stand auf und machte Frankie den Stuhl frei. Der Text leuchtete auf dem Bildschirm auf. Frankie lächelte, als sie ihn sah, und begann dann zu lesen:


Hi Mum!

Hier ist Tom. Hättest du das gedacht??? Waters Meeting ist in der modernen Welt angekommen, wir haben jetzt einen Computer mit Internetanschluss und E-Mail. Natürlich kann die moderne Nachrichtentechnik immer noch nichts gegen unsere Berge ausrichten, die Leitung fällt immer wieder aus, außerdem ist es ein eher kostspieliger und langsamer Spaß. (Klapp den Mund wieder zu, ich weiß, dass er dir jetzt offen steht.) Natürlich hat nicht Dad den Computer bezahlt.

Er ist eins der vielen Projekte, die von Trudy oder besser gesagt von Trudys Eltern finanziert werden. Trotzdem ist es super. Es bedeutet, dass ich Kontakt zu dem Wildfang halten kann, der sich gegenwärtig etwas agrarwissenschaftliche Bildung einzuverleiben versucht. Sie hat dort auch E-Mail, darum habe ich sie oben CC gesetzt. (Das heißt, sie bekommt diese Nachricht ebenfalls.) Du solltest ihr ein paar Zeilen schreiben, bevor sie das Studium wieder hinwirft. Ich glaube, das Alk-Monster frisst einen Großteil ihrer Studienzeit. (Das wird sie bestimmt gern lesen!)

Ich wohne immer noch in der Unterkunft. Seit es langsam auf den Frühling zugeht, ist es hier nicht mehr so kalt. Dafür ist es im Haupthaus kälter als je zuvor. Da drinnen tobt ein eisiger Krieg zwischen Dad und Mick und Trudy. Ich glaube, ausgelöst wurde er durch ein paar Vorhänge. Trudys Eltern haben unter den Eukalyptusbäumen auf der Pferdekoppel eine Holzhütte aus Fertigteilen aufstellen lassen – sie behaupten, sie wäre für sie selbst, wenn sie zu Besuch kommen, aber Trudy hat fallen lassen, dass dies das Altersheim für alte Knacker wie Dad werden soll. Es versteht sich von selbst, dass die kleinen Kräuselwellen inzwischen zu einem Tsunami angeschwollen sind. Ab und zu surfe ich ein bisschen darauf, indem ich Sachen sage wie: »Ich kann doch in die Hütte ziehen!« Eisiges Schweigen und finstere Blicke sind mir dann gewiss. Aber keine Panik! Ich bin nur der Baumstamm, der quer im Fluss steckt und um den herum das Wasser vorbeischießt. Mir gefällt es gut in der Unterkunft für die Scherer. Nur während der Schurzeit ist es dort wenig privat. Na schön. Ich will mich nicht weiter beklagen. Antworte bald … ach, übrigens … wir teilen uns die E-Mail-Adresse … also keine Bosheiten. Wir wollen Trudy-Girl doch nicht nervös machen.

Alles Liebe

Tom

P.S.: Bess und Stinky lassen ebenfalls grüßen, und Hank auch.


P.P.S.: Ich habe mich während meiner schlaflosen Nächte ins Arbeitszimmer geschlichen und alle Finanzdaten in ein tolles Buchhaltungsprogramm für Landwirtschaft übertragen. Dad ahnt nichts davon. Ich habe auch Bess ins Haus geschmuggelt, die jetzt auf meinen Füßen liegt und sie warm hält. Zweifellos wird Trudy schon in den nächsten Tagen die Hundehaare bemerken. Es versteht sich von selbst, dass die Finanzen auch auf einem Computerbildschirm nicht besser aussehen!


P.P.P.S.: Diese Nachricht wird sich in dreißig Sekunden selbst zerstören.


Frankie las den Brief noch einmal und lächelte.

»Gute Neuigkeiten?«, fragte Charlotte, die gerade eine Handvoll neuer Katzenhalsbänder an die Silberhaken hängte.

»Ehrlich gesagt nicht. Ich freue mich nur, dass er mir überhaupt eine E-Mail geschickt hat. Ich bin froh, dass er einen Computer benutzt.«

»E-Mails sind toll, oder?« Charlotte nahm einen weiteren Schwung Halsbänder aus dem Karton.

»Tom ist ein wirklich cleverer Bursche.« Frankie blickte versonnen auf die Worte auf dem Bildschirm. »Er hat noch nie Computerunterricht gehabt, trotzdem beherrscht er das Gerät schon nach ein paar Wochen.«

»Eine Schande, dass er nie von der Farm wegkommt, um dich in der Stadt zu besuchen.« Charlotte dachte an den Tag, als er in die Praxis geschlendert war und nach seiner Mutter gefragt hatte. Ein schüchterner Bauernjunge. Blond und fantastisch aussehend.

»Mmmm«, sagte Frankie und spürte, wie sie sich dabei versteifte. War sie daran schuld, dass ihr Sohn auf der Farm gefangen war? Dass er zu viel Angst vor der Welt außerhalb der schützenden Berge hatte? Unwillkürlich machte sich Frankie dafür verantwortlich.

Sie wusste, dass Tom künstlerisches Talent besaß, das aber brachlag. Es schien unter der Oberfläche seines stillen Wesens zu brodeln. Dort köchelte es vor sich hin, ohne dass die Frustration sich je Luft verschafft hätte. Sie war überzeugt, dass daher seine Launenhaftigkeit rührte. Der Himmel allein wusste, von wem er sein künstlerisches Talent geerbt hatte. Die Lehrer in der Schule hatten es erkannt und Frankie gedrängt, ihren Sohn zu fördern. Aber dann war ihr alles über den Kopf gewachsen. Sie hatte es einfach nicht mehr geschafft, den Job, die Kinder und Harrys stille Aggressivität zu vereinbaren.

Sie erinnerte sich noch an den Tag, an dem sie vorgeschlagen hatte, Tom mit dem Bus in den Kunstunterricht am Nachmittag zu schicken. Harry hatte sie angesehen, als wäre sie verrückt geworden. Dann hatte er gebrummelt: »Verfluchtes blödes Weib«, und war davongestapft. Harry würde nie zulassen, dass seine Söhne ihre Träume verfolgten, das wusste Frankie genau. Harry selbst war jeder Traum von einem Leben abseits der Farm ausgetrieben worden. Und er würde lieber in der Hölle schmoren, als seinen Söhnen eine solche Chance einzuräumen.

Charlottes Stimme riss Frankie in die Gegenwart zurück. »Warum ist er immer auf der Farm geblieben?«

»Ich weiß nicht, Charlotte. Ich weiß nicht …«

Sie wollte Charlottes Frage lieber nicht beantworten. Dann verfluchte sie sich, weil sie sich nicht der Wahrheit stellen wollte. Was hätte sie auch sagen sollen? Dass ihr Sohn so unter der Fuchtel seines Vaters stand, dass er Angst hatte, wegzugehen? Dass Harry Tom nie für seine Arbeit entlohnt hatte und dass dieser darum immer die Ausrede vorbringen konnte, er habe kein Geld? Frankie hatte das Gefühl, dass ihr Tom entglitten war. Und zwar so komplett, dass sie ihn kaum noch kannte – ihren eigenen Sohn. Sie wusste nur, dass er das Kind war, das sie am tiefsten verletzt hatte, als sie von der Farm weggefahren war, ihren Job über ihre Kinder gestellt hatte und ihrem Mann und dem schwierigen Leben als Hausfrau in diesem riesigen, dunklen, einsamen Haus entflohen war. Seufzend sah sie auf ihre Uhr.

»Wann kommt noch mal die Katze, der die Fäden gezogen werden sollen?«

Charlotte hockte inzwischen auf dem Boden des Empfangsraums und sah kurz auf. »Um drei. Es ist noch Zeit genug, um eine kurze Antwort zu tippen und sie abzuschicken. Ich zeige dir, wie es geht.«

Während sich Charlotte vorbeugte und die Maus übernahm, versuchte sich Frankie den Computer in dem dunklen Arbeitszimmer auf Waters Meeting vorzustellen. Bestimmt versank er halb zwischen aufgestapelten Zeitungen und Telefonbüchern. Sie malte sich aus, dass Harry ihn argwöhnisch umkreiste und anknurrte wie ein bissiger Hund. Das Bild ließ sie unwillkürlich lächeln.

Als Charlotte sich wieder aufrichtete, setzte sich Frankie aufrecht hin und begann zu tippen: »An meinen lieben Sohn Tom. Ich mache mir solche Sorgen um dich.« Sie stockte. Betrachtete die Worte, die sie geschrieben hatte, und griff dann nach der Maus, um den Bildschirm leer zu wischen. Stattdessen tippte sie: »Hi Tom, hier ist Mum. Katze kommt, schreibe später. 1000 Küsse, Mum.«

Frankie drückte auf »Senden« und marschierte aus dem Empfangsbereich in den Behandlungsraum. Sie fröstelte und zog leicht bibbernd den weißen Kittel enger um sich. Der Stahl des Operationsbestecks lag eisig an ihren Fingerspitzen und ließ sie noch mehr frösteln. Sie wünschte sich, das Telefon würde läuten. Dass Peters warme Stimme die Kälte, die sich um ihr Herz gelegt hatte, zum Schmelzen bringen würde. Sie hörte die Tür zur Klinik aufgehen und eine Katze miauen. Der nächste Patient war eingetroffen.

Wo die Wasser sich finden australien2
titlepage.xhtml
titel.xhtml
cover.html
e9783641081164_cop01.html
e9783641081164_fm01.html
e9783641081164_ata01.html
e9783641081164_toc01.html
e9783641081164_p01.html
e9783641081164_c01.html
e9783641081164_c02.html
e9783641081164_c03.html
e9783641081164_c04.html
e9783641081164_p02.html
e9783641081164_c05.html
e9783641081164_c06.html
e9783641081164_c07.html
e9783641081164_c08.html
e9783641081164_c09.html
e9783641081164_c10.html
e9783641081164_c11.html
e9783641081164_p03.html
e9783641081164_c12.html
e9783641081164_c13.html
e9783641081164_c14.html
e9783641081164_c15.html
e9783641081164_c16.html
e9783641081164_c17.html
e9783641081164_c18.html
e9783641081164_c19.html
e9783641081164_c20.html
e9783641081164_c21.html
e9783641081164_c22.html
e9783641081164_c23.html
e9783641081164_c24.html
e9783641081164_c25.html
e9783641081164_p04.html
e9783641081164_c26.html
e9783641081164_c27.html
e9783641081164_c28.html
e9783641081164_c29.html
e9783641081164_c30.html
e9783641081164_c31.html
e9783641081164_c32.html
e9783641081164_c33.html
e9783641081164_c34.html
e9783641081164_c35.html
e9783641081164_c36.html
e9783641081164_c37.html
e9783641081164_c38.html
e9783641081164_c39.html
e9783641081164_c40.html
e9783641081164_c41.html
e9783641081164_c42.html
e9783641081164_c43.html
e9783641081164_c45.html
e9783641081164_p05.html
e9783641081164_c46.html
e9783641081164_c47.html
e9783641081164_c48.html
e9783641081164_c49.html
e9783641081164_c50.html
e9783641081164_c44.html
e9783641081164_ack01.html