August 1905

Akazie-Klein.epsEin kühler Abendwind wehte von der Bucht in das kleine Zimmer herein und brachte einen Stapel Manuskriptblätter auf Georges Schreibtisch in Unordnung. Charlotte stand auf, um das Fenster zu schließen und die Lampe anzuzünden. Als sie das Licht dicht neben ihn auf den Tisch stellte, hob er den Kopf und lächelte sie dankbar an.

George war erschreckend hager, auch der kurze, blonde Bart konnte die eingefallenen Wangen nicht verbergen. Drei Wochen hatte er im Fieber gelegen, hatte es abgelehnt, sich in der Klinik behandeln zu lassen, und sich stattdessen hier auf seinem Lager herumgequält. Charlotte war nicht von seiner Seite gewichen. Während das Fieber ihn schüttelte, hatte er ihr Briefe diktiert, die sie an verschiedene seiner Freunde in Deutschland schicken sollte, polemische, zornige Gegendarstellungen zu Presseartikeln über den Aufstand in Deutsch-Ost, die dort in einigen Zeitungen erschienen waren. Manchmal verwirrten sich seine Sätze, dann hatte er verzweifelt nach Medikamenten verlangt, Chinin, Brom, sogar Rauschmittel sollte sie ihm besorgen, damit seine Gedanken wieder klar würden. Sie gab ihm das, was sie für richtig hielt, schrieb auf, was er hatte formulieren wollen, und wenn sie ihm den fertigen Brief vorlas, schlief er erlöst ein.

Jetzt, kaum genesen, saß er stundenlang am Schreibtisch, unablässig mit seiner Post beschäftigt, und machte zwischendurch Notizen für ein weiteres Buch, das er seinem Verleger in Leipzig schicken wollte.

»Vergib mir, Charlotte. Nur noch ein paar Tage. Dann werden wir Zeit für uns haben. Wir haben so viel versäumt …«

»Ich würde dich nicht lieben, wenn du ein anderer wärest, als der, der du bist, George.«

Das Land war aus den Fugen, würde nie mehr das werden, was es gewesen war. Als sie in Kilwa ankamen, ankerte der Marinekreuzer Bussard in der Bucht. Ort und Festung waren voller Askari, die wahllos schwarze Gefangene machten, sie brutal zusammenschlugen, öffentliche Prügelszenen waren an der Tagesordnung. Angst hatte die weißen Kolonialherren erfasst, und diese Angst machte sie kurzsichtig und grausam.

Wenige Kilometer nördlich in Mohoro hatte man den schwarzen Führer und Propheten Ngawale Kinjikitile, der angeblich über magische Kräfte verfügte und von hongo, einem mächtigen Geist besessen war, gehängt. Er war es gewesen, der den Aufstand in aller Heimlichkeit am Rufiji-Fluss geplant und zusammen mit seinen Anhängern sein die Waffen der deutschen Soldaten außer Kraft setzendes Zauberwasser, das maji-maji, in der ganzen Kolonie verteilt hatte. Nicht alle Eingeborenenstämme hatten sich dem Aufstand angeschlossen, die Wahehe, die Dschagga oder die Massai hatten die überlegenen Waffen der Kolonialherren bereits zu spüren bekommen, so dass ihnen der Mut zu neuem Aufbegehren fehlte. Während der zwei Wochen, die sie in Kilwa verweilten, schien die Lage vollkommen unübersichtlich. Täglich trafen neue Meldungen ein, die sich am folgenden Tag als Irrtümer herausstellten. Weiße Pflanzer, die man für ermordet hielt, tauchten wieder auf, Spähtrupps galten als verschollen und fanden sich doch wieder ein, Bezirksämter wurden zurückerobert und fielen wenige Tage später wieder in die Hände der Aufständischen. Eine Meldung jedoch erfuhr Mitte August traurige Bestätigung: Bischof Spiß und seine vier Reisegefährten, die trotz aller Warnungen nach Liwale aufgebrochen waren, fand man erschlagen in der Savanne. Dr. Lott hatte ihnen Boten nachgeschickt, um sie zu warnen, doch der Bischof glaubte an keinen Aufstand, er vertraute auf Gottes schützende Hand.

Inmitten all dieser Schrecknisse spürten George und Charlotte umso deutlicher, welches Glück ihnen zuteilgeworden war. Klara und Peter waren wohlauf, auch der kleine Sohn, der auf den Namen Samuel getauft werden sollte, machte gute Fortschritte. Und sie hatten einander. George liebte sie, behauptete, sie immer geliebt zu haben, wenngleich er sich nicht darüber im Klaren gewesen sei.

»Ich habe vieles in meinem Leben falsch angefangen, Charlotte. Ich brauche dich an meiner Seite, damit du mir den richtigen Weg weist.«

Sie lachte ihn aus und erinnerte ihn daran, wie sicher er sie durch die Savanne geführt hatte. Nie habe er den Mut verloren; während sie selbst manchmal verzweifelt sei, habe er die Kraft gehabt, sie aufzurichten.

»Jetzt kann ich es dir ja sagen«, gestand er ihr grinsend. »Ich habe noch nie in meinem Leben solche Furcht gehabt. Vor allem um dich. Aber seltsamerweise auch um mich selbst. Um unsere Liebe, auf die wir so lange warten mussten.«

In Kilwa gab es für sie kaum eine Möglichkeit, miteinander allein zu sein, denn viele der Einwohner hatten sich aus Furcht vor Überfällen in die Festung der Schutztruppe geflüchtet. Wer in seinem Haus verblieb, hielt Tag und Nacht die Waffen bereit; keinem Neger dürfe man trauen, hieß es, denn unter den Angestellten gäbe es Verräter. Sie schliefen mit Klara, Peter und dem kleinen Samuel im selben Raum, genossen es, wieder vereint zu sein, genossen die zärtliche Geborgenheit, die sie sich gegenseitig gaben. In den Nächten lagen sie voneinander entfernt, spürten die Sehnsucht, die sie zueinander hinzog, doch sie wagten nicht, einander zu berühren.

Peter war von den Ereignissen gezeichnet. Schweigsam und scheu saß er neben Klara, nahm hin und wieder seinen Sohn in den Arm, schüttelte den Kopf, manchmal weinte er. George führte lange Gespräche mit ihm. Später, als sie in Daressalam waren, erzählte er Charlotte, dass Peter Siegel an allem zweifelte, woran er bisher geglaubt hatte. Nur Klara und sein Sohn hielten ihn aufrecht, doch im Grund wusste er nicht mehr, was er mit seinem Leben anfangen sollte.

Zwei Wochen verbrachten sie in Kilwa, dann war Klara so weit wieder bei Kräften, dass sie mit dem Gouvernementsdampfer nach Daressalam reisen konnten, wo die Eheleute erst einmal in der Mission am Immanuelskap bleiben wollten.

Charlotte und George bezogen Georges Quartier in der Inderstraße, um ein paar Tage auszuruhen und miteinander allein zu sein. Es waren glückliche Stunden, in denen sie weder die Unruhen im Hinterland noch die aufgeregte Bürgerwehr der Einwohner wahrnahmen, einen schützenden Kreis um sich zogen und nur füreinander lebten. Ihre Gespräche sprangen aus der Vergangenheit in die Zukunft, ohne die Gegenwart zu berühren, in den Nächten umgab sie die Leidenschaft ihrer Körper wie eine undurchdringliche Hecke, die sie mit gnädiger Blindheit schlug.

Sie erwachten erst, als in Daressalam der große Sieg bei Mahenge bejubelt wurde. Zu Tausenden seien die aufständischen Neger gegen die deutschen Maschinengewehre angerannt, hätten im Kugelhagel sterbend wassergefüllte Kalebassen gegen die boma geworfen, doch das maji- maji habe sich als untauglich erwiesen, der Glaube der naiven Schwarzen sei erschüttert.

»Sie werden es so machen wie in Südwest«, stöhnte George. »Verbrannte Dörfer, vernichtete Ernte – zu tausenden werden sie verhungern, selbst Frauen und Kinder werden keine Gnade finden.«

Er fieberte schon, während er die ersten Briefe nach Deutschland schrieb. Noch schien es Hoffnung zu geben, im Reichstag wurde gestritten, die Kräfte, die sich für eine andere, menschlichere Kolonialpolitik starkmachten, benötigten Unterstützung und vor allem genaue Berichte. Doch in der Kolonie wurde nach militärischen Gesichtspunkten entschieden, und das bedeutete nichts anderes als die vollkommene Unterwerfung der Eingeborenen. Nie wieder sollte ein Neger es wagen, seine Hand gegen die weißen Kolonialherren zu erheben.

George hielt sein Versprechen. Als er getan hatte, was ihm möglich war, um den Lauf der Dinge zu verändern, schlug er Charlotte vor, gemeinsam auf ihre Plantage zurückzukehren.

»Du warst lange genug von deiner Tochter getrennt. Lass uns dort gemeinsam leben – ich weiß, wie sehr du an diesem Land und den Menschen hängst.«

Charlotte hatte insgeheim auf diese Entscheidung gehofft. Oben in der Kilimandscharo-Region war gottlob alles ruhig geblieben, sie hatte von Daressalam aus Briefe mit Jacob und Wilhelm gewechselt, auch Zeichnungen von Elisabeth lagen in ihren Briefen. Charlotte wollte George ein Heim geben, einen Ort, an dem er ausruhen konnte. Weshalb nicht auf der Plantage? Sie hatten ihre Liebe, wuchsen mit jedem neuen Tag enger zusammen, und oft glaubte Charlotte, jenes seltsame Empfinden, das sie in der Savanne überkommen hatte und das ihr damals als eine Art von Wahnsinn erschienen war, war nichts als die tiefe Wahrheit. Sie hatte ihn schon immer gekannt. Er war ein Teil von ihr, den sie vor unendlichen Zeiten, noch lange bevor sie geboren wurde, verloren hatte und der jetzt zu ihr zurückgekehrt war.

Zum ersten Mal in ihrem Leben spielte das Geld keine Rolle. George verfügte nach dem Tod seiner Mutter über reiche Mittel. Einen Teil davon hatte er für seine Kinder in Papieren angelegt, mit dem Rest finanzierte er seine Reisen und seinen Lebensunterhalt. Die Einnahmen aus seinen Büchern kamen ausschließlich sozialen Einrichtungen zugute, er brauchte das Geld nicht. Vielleicht war er auch deshalb ein so ruheloser Mensch, da er sich niemals seinen Lebensunterhalt hatte erarbeiten müssen.

Sie war voller Hoffnung, als sie mit dem Küstendampfer nach Tanga fuhren, um die erste Wegstrecke mit der Usambara-Bahn bis Korogwe zurückzulegen. Von dort aus ging es mit angemieteten Begleitern zu Fuß weiter, einen Weg, den sie nun schon so oft zurückgelegt hatte, der jedoch in jeder Jahreszeit anders und neu erschien. Es war Anfang Oktober, an der Küste hatte bereits die Regenzeit eingesetzt, jenseits des Usambara-Gebirges, im Land der Massai, wartete die aufgebrochene, trockene Erde immer noch auf die ersten, erlösenden Gewitterwolken.

George war schweigsamer als gewöhnlich. Wenn sie in den Nächten beieinander im Zelt lagen, hielt er sie eng umschlungen, doch meist war sie es, die von der Zukunft redete, von den Büchern, die er am Fuß des Kilimandscharo schreiben würde, von gemeinsamen Ausritten auf ihrem Besitz, von Elisabeth, ihrem geliebten Kind, die wie eine kleine Ostfriesin ausschaute und ihrer Mutter ganz und gar nicht ähnlich sah. Die vielleicht ein Geschwisterkind haben würde – George hatte Charlotte gebeten, seine Frau zu werden, sie wollten in Moshi in aller Stille heiraten.

Bei Blitz und Donner ritten sie durch das hölzerne Eingangstor des von Roden’schen Besitzes, und Charlotte meinte lachend, ein solcher Empfang würde sonst nur Königen zuteil. Dann mussten sie sich sputen, der Regen stürzte mit Macht über sie herein, und als sie vor dem Wohnhaus von den Maultieren stiegen, waren sie nass bis auf die Haut.

Eine bittere Enttäuschung erwartete Charlotte, die geglaubt hatte, ihre kleine Tochter würde sich aufschluchzend vor Freude in ihre Arme stürzen. Elisabeth verbarg sich hinter Hamunas buntem Rock und war trotz aller Bitten und zärtlichen Rufen nicht bereit, ihre Mutter zu begrüßen. Mit zornig zusammengekniffenen Augen lugte sie aus ihrem Versteck hervor und besah Charlotte wie eine Fremde. Als Hamuna sie schließlich mit sanfter Gewalt hervorzerrte, riss sie sich von ihr los und rannte durch den Regen hinüber zum Verwalterhaus.

»Hab ein wenig Geduld«, tröstete George. »Sie ist ärgerlich auf dich, weil du so lange fort gewesen bist. Morgen wird sie es sich anders überlegt haben.«

Elisabeth tauchte schon beim Abendessen wieder auf. Im langen Nachthemd stand sie in der Tür, den linken Zopf in der Hand drehend, den Blick scheu auf Charlotte gerichtet. Doch es war George, dem sie an diesem Abend ihre ganze Aufmerksamkeit widmete. Sie wollte neben ihm sitzen, stellte ihm neugierige Fragen, die er mit gewohnter Freundlichkeit beantwortete, schließlich verlangte sie, auf seinen Schoß steigen zu dürfen. Charlotte war verletzt, doch zugleich auch erleichtert. Natürlich verstand es George, das Herz ihres Kindes zu gewinnen; es fiel ihm leicht, er hatte solche Dinge schon immer gekonnt. Es war gut, dass die beiden sich mochten, denn George würde bei Elisabeth von nun an die Vaterstelle vertreten.

In der Nacht schlief sie wie gewohnt bei ihrer Tochter, während George im Nebenzimmer untergebracht war. Doch erst am Morgen kuschelte sich die Kleine an Charlotte, und beide weinten bittere Tränen der Versöhnung.

»Nie wieder gehst du weg!«

»Ich verspreche es dir.«

»Hoch und heilig?«

»Für immer und ewig.«

Die Tage schienen friedlich, vom Ablauf der Arbeiten auf der Plantage bestimmt. George nahm wenig Anteil daran, die Leitung der Plantage überließ er Charlotte und ihren beiden Vorarbeitern, er selbst ritt umher, redete mit den Arbeitern, bot seine ärztliche Hilfe an, machte Ausflüge zu den Dschagga. Er beobachtete Charlotte, wenn sie die schwarzen Kinder unterrichtete, doch er sagte nichts dazu. Wenn sie shauri hielt, hörte er aufmerksam zu und fragte sie später, was dieses oder jenes Wort bedeute, denn er versuchte, die Sprache der Dschagga zu lernen. Oft spielte er mit Elisabeth. Er brachte ihr das Reiten bei, er zeichnete mit ihr, manchmal sah Charlotte die beiden – den schlanken, hochgewachsen Mann und die quirlige Kleine im hellen Kleidchen – über die Wiese zu den Eukalyptusbäumen gehen und dort an Max’ Grab verweilen.

An den Abenden vergrub er sich in Charlottes Bücher. Die Deutsch-Ostafrikanische Zeitung und den Pflanzer, die die Post brachten, überflog er nur kurz, um sie angewidert beiseitezulegen. Er schrieb Briefe nach England und Deutschland, bekam jedoch nur selten Antwort, was ihn verbitterte. Immer häufiger lenkte er das Gespräch am Abend auf die Gegenwart, und Charlotte spürte kummervoll, dass er auf ihrer Plantage immer ein Fremder bleiben würde.

»Ich weiß, wie sehr du dich bemühst, gerecht und großzügig zu sein, Charlotte. Und doch ist es nicht möglich. Du hast einen Zaun um dich gezogen und versuchst, ein Paradies zu errichten. Doch um uns herum leben die Menschen, denen das Land einst gehörte. Und sie leben in Armut, weil man sie aus den fruchtbarsten Gebieten verdrängt hat.«

»Aber ich gebe ihnen Arbeit. Sie bekommen ihren Lohn. Und ich sorge für sie.«

»Ja. So als wären sie deine Kinder!«

»Was ist daran schlimm?«

»Nichts«, knurrte er unzufrieden. »Nur dass ihre eigenen Kinder lesen und schreiben lernen und damit ihre Wurzeln verlieren.«

»Es gibt Entwicklungen, die man nicht aufhalten kann, George …«

»Eroberer tun seit Menschengedenken immer das Gleiche: Sie nehmen sich das Land, das sie haben wollen, und zwingen den Einwohnern ihre Kultur auf. Wenn nötig mit Gewalt.«

Die Gespräche drehten sich im Kreis. Er konnte stundenlang unter dem Vordach sitzen und auf den schneebedeckten Gipfel des mächtigen Berges schauen, er liebte das sanfte Rauschen des Windes in den Eukalyptusbäumen, stand mit ihr am Morgen vor dem Haus, um die aufsteigenden Nebel über den Pflanzungen zu sehen. Sie ritten hinauf in die Regenwälder, suchten nach Elefantenspuren, stiegen Hand in Hand über reißende Bäche und fanden immer neue Wasserfälle. Doch sosehr ihn die wilde Schönheit dieses Landes faszinierte – er blieb ein Fremder. Nur ihr zuliebe verweilte er auf der Plantage, wo er im Grunde keine Beschäftigung fand und nur ihr Gast war.

Um die Jahreswende drang die Nachricht durch, dass viele aufständische Stämme sich nun den Deutschen unterworfen hatten. Doch ihr Schicksal verbesserte sich dadurch keineswegs. Man hatte ihre Brunnen zugeschüttet und alle Lebensmittel fortgeschleppt, die Felder vernichtet, die Dörfer niedergebrannt. Sie waren dem langsamen Hungertod preisgegeben.

Charlotte schauderte es. War dies wirklich noch das Land, in das sie vor über zehn Jahren mit so vielen Hoffnungen gereist war? Sie hatte, genau wie ihr zweiter Mann, daran geglaubt, dass es hier Platz für sie alle geben würde – Weiße und Schwarze, Inder, Goanesen, Araber. Doch wie es schien, war gerade für die Eingeborenen Afrikas kein Platz mehr in ihrer Heimat. Was ihnen blieb war Unterwerfung oder Tod.

Sie verschwieg ihr Entsetzen. In den Nächten schlief sie nicht, lag mit offenen Augen auf dem Lager, hörte Elisabeths ruhige, vertrauensvolle Atemzüge und wusste sich keinen Rat. An einem frühen Januarmorgen hielt sie es in dem stickigen Zimmer nicht mehr aus; sie warf eine Jacke über ihr Nachtgewand und lief über die taufeuchte Wiese hinüber zu den Eukalyptusbäumen. Feine Dünste hoben sich von den Pflanzungen, stiegen auf zu den Nebeln des Regenwaldes, die Oberfläche des großen Teichs schien noch blind, doch drüben am Laub der Orangenbäumchen glitzerten die Tautropfen. Es war ihr Land, Max hatte sie es lieben gelehrt, sie hatte seinen Traum bewahrt, der auch zu ihrem geworden war. Und doch …

Instinktiv blickte sie zum Haus hinüber und sah George, der durch die Akazienallee langsam zu ihr hinüberging. Er hatte nach ihr gesucht und wusste, wo sie zu finden sein würde.

»Du musst das nicht tun, Charlotte«, sagte er leise. »Nicht meinetwegen.«

»Ich will es!«

Schweigend zog er sie an sich und hielt sie lange Zeit fest, als wolle er sie mit dieser Umarmung um Vergebung bitten. Erst als sie ihm leise Worte zuflüsterte, begann er sie zu küssen, zärtlich und zugleich voller Begehren, als sei es das erste Mal.

Am Tag ihrer Abreise heirateten sie in der Missionskirche von Moshi. Es war März, und der Regen hatte wieder eingesetzt. Elisabeth war voller Aufregung, denn Charlotte hatte ihr erzählt, sie würde nun endlich die kleine Stadt kennenlernen, von der sie ihr so oft erzählt hatte.

»Und wann kommen wir wieder nach Hause?«

Charlotte hatte die Plantage vorerst Jacob und Wilhelm überlassen, doch die beiden besaßen nicht das Geld, den Besitz zu kaufen. Man würde sehen. Was Max aufgebaut hatte, war Elisabeths Erbe, und Charlotte war nicht gewillt, das Erbe ihrer Tochter zu verschenken. Es würde sich ein Käufer finden.

Anfang April standen sie auf dem Passagierdeck des Reichspostdampfers Markgraf und sahen, wie die Bucht von Daressalam langsam ihren Blicken entschwand. Elisabeth hing wie eine Klette an der Reling, zitternd vor Begeisterung über das Vibrieren und Stampfen der großen Maschine und den Anblick der nebelumwölkten Kokospalmen an der Spitze des Immanuelskap. Dort standen Peter und Klara, um sie noch einmal zu grüßen, bevor sie sich für lange Zeit voneinander trennten.

»Bereust du es?«, fragte George und streichelte ihr sacht die Schulter.

Sie dachte an die öffentliche Auspeitschung eines Eingeborenen, die sie in Daressalam kurz vor ihrer Abreise gesehen hatten. Stumm schüttelte sie den Kopf.

»Nein, George. Wir werden einen Ort finden, an dem wir gemeinsam glücklich sein können. In Deutschland oder in England, das ist mir vollkommen gleich, wenn du nur an meiner Seite bist.«

Er atmete tief durch und sah sie mit grauen, eindringlichen Augen von der Seite an.

»Ich liebe dich, Charlotte.«

Sie lächelte und blickte zurück auf die blau schimmernde Bucht in der Ferne, die windbewegten Palmen, die kleinen Boote der Einheimischen, die wie leichte Federn auf dem glitzernden Wasser trieben. Das Land hinter der Stadt hüllte sich in geheimnisvolles Grün, dunkel und von schmalen Wasseradern durchzogen, voller Sümpfe und Teiche, in denen zahllose Flamingos standen wie rosige Wolken. Pelikane flogen übers Wasser. Afrika war wie eine ewige Melodie, wild und schön, berstend vor Leben, herb und süß zugleich, lockend und voll tiefer, hilfloser Trauer. Dieser Klang würde sie nicht mehr loslassen, denn er lebte in ihrem Inneren. Wohin auch immer sie reiste, sie würde dieses Lied mitnehmen.

Himmel über dem Kilimandscharo
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